Donnerstag, 30. Juli 2009

Auf dem Dach der Welt - Der eisige Gipfel

Nebel, das war so ziemlich alles, was ich sah, als ich den Gipfel des Fuji betrat. Ein milchiges Grau, das sich über alles vor mir legte. Irgendwo links von mir war die Aussichtsplattform, von der aus man sich den Sonnenaufgang des neuen Tages anschauen konnte, doch alles was man sah, war eine gigantische Wolke. Es gab keine Aussicht von Dach der Welt bis an den entfernten Horizont, nur eine Wand aus milchig, trübem Dunkelblau. Doch in diesem Moment kümmerte es mich nicht einmal, zu erschöpft war ich, zu kraftlos. Meine Beine hatten mich die letzten Stufen bis zum Gipfel empor getragen, weiter konnten sie nicht mehr. Ich war am Ende. Und in meinem Kopf war kein Platz für lange Gedankenkette, für Enttäuschung, für geeignete Fotomotive. Und so wendete ich meinen Blick nur zu meiner Rechten, wo ich den breiten Eingang zur Hütte auf dem Gipfel sah. Und ohne zu schauen was die drei anderen machten, stolperte ich in die Hütte, setzte mich auf den erstbesten Platz auf der harten, kalten Holzbank und atmete erst einmal durch. Es war eine Genugtuung endlich zu sitzen, nicht mehr stehen oder laufen zu müssen, doch eines kam dennoch nicht: Wärme. Die Hütte war nicht beheizt, es gab keine Decken, kein offenes Feuer, an dem man sich wärmen könnte, nur einen Souvenirladen für die Touristen und einige Holzbänke, auf denen sich die Neuankömmlinge tummelten. Ein Weile saß ich frierend in meinem eigenen Schweiß, von meiner Jacke tropften die letzten Reste des Regenschauers und stetig wehten neue Böen in die Hütte, fuhren zwischen den Bänken hindurch, unter die Kleidung, dann setzte ich mich zusammen mit einem Briten irgendwo weiter nach hinten. Doch es half nicht, ich fror immer noch, meine Finger waren taub, ich zitterte am ganzen Körper und meine Kleidung blieb klamm und feucht. Und während ich bitterlich fror, dämmerte der neue Tag. Doch es war keine strahlende Offenbarung eines neues Tages, welcher die Kälte der Nacht mit warmen Sonnenstrahlen vertrieb, nein, es war nur ein kaltes trübes Licht, das wie ein eisiges Feuer den Gipfel des Fuji erleuchtete. Keine Wärme, keine Wonne, nur ein milchiges Weiß, das den gesamten Gipfel einhüllte.


Bild12: Ein Blick in die Hütte des Fuji, innerhalb der ich einige Zeit fror, während es draußen allmählich hell wurde.


Wie furchtbar es wohl sein musste zu erfrieren, dachte ich mir in diesen Momenten, während der Brite halbschlafend neben mir auf der Bank saß und seine blauen Lippen zittern ließ. Und so stand ich auf, lief auf wackeligen Beinen zum Eingang der Hütte und kaufte mir einen heißen Kakao, der dort zu unverschämt hohen Preise vertrieben wurde. Jetzt ist nicht der geeignete Moment um knauserig zu sein, dachte ich mir, nahm die kochend heiße Kakaodose an mich und stolperte zurück auf meinen Platz. Und so saß ich da, zusammengekauert, in meiner Hand eingeschlossen die kleine Kakaodose, die in diesem Moment das Wichtigste auf der Welt war. Wärme, danach hatte ich mich gesehnt. Wärme, das war es, was mir die kleine Dose gab. Und so rieb ich mir die Dose über die Hände, übers Gesicht, packte sie unter die Regenjacke und umschloss sie mit meinem Körper. Eine dick eingepackte Angestellte lief an mir vorbei, sah wie ich mich an der Wärme der Dose erfreute und lächelte mir zu.
"Das ist eine gute Idee. Sehr clever."
Und für einen Moment konnte ich wieder lächeln. Dann versank ich wieder auf meinem Platz, rollte mich um meine Dose und versank in einem Dämmerschlaf, irgendwo zwischen Wachsein Frieren, Zittern und Schlafen.


Bild13: Eine Welt für eine warme Dose. Ein Foto von der Kakaodose, die mir für über eine halbe Stunde als Wärmequelle diente.


Film3: Ein Rundblick innerhalb der Berghütte. Mittlerweile war bereits die Sonne aufgegangen, doch man hatte keinen erhabenen Sonnenaufgang beobachten können, es war lediglich von milchig blau zu milchig weiß umgeschlagen.


Ich hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Vielleicht dauerte es eine halbe Stunde, vielleicht auch eineinhalb Stunden, aber irgendwann erfuhr ich, dass die zweite Hälfte unserer Gruppe auf dem Gipfel angekommen war. Und so lief ich einigermaßen fit in die benachbarte Berghütte, die mir zuvor gar nicht aufgefallen war, und traf auf Milena, Lee, Jessica und die restlichen Briten. Natürlich sahen sie mitgenommen aus, ich wusste ja schließlich was sie durchgemacht hatten, dennoch waren sie halbwegs zufrieden. Vorallem Jessicas ununterbrochene gute Laune erstaunte mich, denn obwohl sie nass und erschöpft war, strahlte sie wie ein Honigkuchenpferd und konnte gar nicht aufhören die Umstehenden mit ihrem Optimismus anzustecken. Und in diesem Moment bewundert ich sie. Obwohl sie den gleichen Aufstieg wie ich hinter sich hatte, obwohl sie die gleichen Qualen durchlitten hatte, saß sie strahlend auf ihrem Platz, trocknete sich ihre nassen Haare und löffelte lachend ihren Curryreis, den sie sich bestellt hatte. Und allmählich kam unsere Gruppenmotivation, unsere Freunde wieder, die in den letzten Stunden verloren gegangen war.


Bild14: Lee in cooler Pose, kurz nachdem sie den Gipfel erreicht hatte. (Danke an Milena für das Foto)


Bild15: Milena isst warme Ramen (japanische Nudeln), die sie sich auf dem Gipfel bestellt hat.


Bild16: Die Britin Jessica verbreitete trotz aller Mühen und Anstrengungen gute Laune. Eine wirklich bemerkenswerte Gabe.


Bild17: Drei erschöpfte Briten. Vorallem der Brite ganz rechts hatte mit dem Aufstieg zu kämpfen. Er war der Erste gewesen, der bei der Besteigung stets zurückgefallen war.


Bild18: Und zwei weitere Briten aus unserer Gruppe, leider konnte ich mir in der kurzen Zeit nicht alle Namen merken. Der Junge links war allerdings mit mir gemeinsam in der schnellen Gruppe.


Während die anderen noch ein wenig schwatzten und sich austauschten, wagte ich mich gegen sechs Uhr morgens mit Milena und Lee hinaus auf den Gipfel. Es war nebelig und der Wind wütete gleich einem wilden Drachen zwischen den kleinen Hütten, pfiff uns um die Ohren und wehte uns beinahe weg. Lee und Milena suchten nur eine kleine Toilette und mussten letztlich knapp zweihundert Yen (etwa 1,40 EUR) für eine verdreckte, herabgekommene Absteige bezahlen. Währenddessen lief ich ein wenig auf dem Gipfel umher, um ein wenig das eisige Szenario festzuhalten, das sich mir in 3776 Metern Höhe bot. Ich hatte kaum ein halbes dutzend Bilder geschossen und einige kurze Videoaufnahmen gemacht, da bereute ich es bereits die windgeschützte Hütte verlassen zu haben: Das bisschen Wärme, das ich durch die Kakaodose gewonnen hatte, war verschwunden und meine Kleidung war wieder nass, stellenweise sogar mit einer dünnen Schicht Eis überzogen. Noch schnell schossen wir mit tauben Fingern ein paar Bilder von uns vor jener Kulisse, die eigentlich die aufgehende Sonne hätte zeigen sollen, dann huschten wir zurück in die geschützte Hütte und froren weiter vor uns hin.


Bild19: Ein Blick von der Hütte, in der wir uns befanden, hinaus in die weiße Hölle. (Danke an Milena für das Foto)


Bild20: Eine Aussenansicht der Gipfelhütte. Wie man sieht, ist es sehr nebelig.


Bild21: Ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine Art Gipfelkreuz war, aber ich entdeckte diese Säule, während ich für kurze Zeit bei eisigen Temperaturen auf dem Gipfel umherlief.


Film4: Ein kurzes Video vom Gipfel des Fuji, um einen Eindruck von den Bedingungen zu geben, unter denen wir den Gipfel erreicht hatten, und mit denen wir für die Dauer unseres Aufenthalts zu kämpfen hatten.


Bild22: Lee und ich an jener Stelle, an der man für gewöhnlich den Sonnenaufgang fotografieren würde. Wir versuchten glücklich zu schauen, obwohl uns so gar nicht zum Lächeln zumute war. Zudem hätte uns der Wind beinahe von der Klippe geweht. (Danke an Milena für das Foto)


Bild23: Und noch ein gemeinsames Bild von Milena und Lee vom Gipfel des Fuji. (Danke an Milena für das Foto)


"Ich kann da unmöglich wieder runter gehen."
Milena hatte es auf den Punkt gebracht. Wir waren alle am Ende, vor der Hütte tobte ein wahrer Schneesturm, unsere Kleidung war durchnässt, uns war kalt und doch waren wir gerade einmal an der Hälfte unserer Reise angekommen. Bisher hatte unser Augenmerk auf der Besteigung des Fuji gelegen, doch nun wurde uns bewusst, dass wir irgendwie auch wieder herunter mussten. Und hatte mich zuvor der Gedanke an das Erreichen des Gipfels vorangetrieben, war ich nun ernsthaft demotiviert.
"Ich muss es ganz deutlich sagen: Ich komme mir verarscht vor. Acht Stunden lang haben wir uns nach oben gequält und nun haben wir nicht einmal einen unvergesslichen Sonnenaufgang gesehen."
Die Enttäuschung, die ich bei meiner Ankunft auf dem Gipfel des Fuji noch verdrängt hatte, kam allmählich zurück. Was waren noch gleich meine Erwartungen gewesen? Dass wir frohen Mutes den Berg hinaufsteigen und vor der Kulisse des Sonnenaufgangs Bilder machen. Nichts davon war eingetroffen. Wir hatten uns den ganzen Berg nach oben gequält, um für knapp zwei Stunden in der eisige Kälte zu sitzen und zu vollkommen überteuerten Preisen eine Mahlzeit einzunehmen. Kein Sonnenaufgang, keine Rundsicht vom Dach der Welt, nur Eis und Sturm, eine weiße Wüste so weit das Auge reichte. Woher sollte die Motivation für den Abstieg kommen? Es war eine Qual den Rucksack wieder auf den kalten, nassen Rücken zu schnallen, die Kapuze der Regenjacke zuzuziehen und mit den anderen ins Freie zu treten. Wer weiß wie viele Stunden Abstieg uns noch bevorstanden? Nichtsdestotrotz lächelten wir alle für das letzte Gruppenbild, dann tauchten wir gemeinsam hinein in den weißen Sturm, der auf 3776 Metern Höhe wütete, und schon nach wenigen Schritten waren wir hinter einem Vorhang aus Regen und Nebel verschwunden. Und so begann unser Abstieg hinab ins Ungewisse.


Bild24: Ein letztes Gruppenfoto, dann begann unser gemeinsamer Abstieg. (Vielen Dank an Milena für das Foto)

Mittwoch, 29. Juli 2009

Auf dem Dach der Welt - Aufstieg im Dunkel der Nacht

Wenn es etwas gibt, das ich als das Wahrzeichen Japans bezeichnen würde, dann vermutlich den Fuji, den höchsten Berg Japans. Man findet ihn als Motiv historischer Zeichnungen, auf den Umschlägen von Werbeprospekten, als Schlüsselanhänger und eigentlich fast überall in der japanischen Kultur, sowohl in der traditionellen Kunst, als auch in der Populärkultur. Und natürlich bin auch ich während meines Japanjahres immer und immer wieder mit dem populärsten Berg Japans in Berührung gekommen: Mal ganz konkret, als ich in der Nähe des Fuji wandern ging ("A day in the woods") oder wenn ich abends von der Brüstung meines Wohnheims aus zum Horizont blickte ("Manchmal zur Dämmerung"), und dann wieder indirekt, wenn in unserem Lehrbuch der Fuji zum Größenvergleich für andere Sehenswürdigkeiten, wie dem Großen Buddha von Nara ("Die Hirsche von Nara"), dem Buddha von Kamakura ("Zu sechst nach Kamakura") oder gar dem höchsten Gebäude Japans in Yokohama ("Ein Tag in Yokohama - Wolken und Meer") diente, man Reiseberichte über dessen Besteigung las oder die unzähligen Abbildungen und Gemälde überall in Japan betrachtete.
Einmal kam in meinem Lehrbuch sogar ein japanisches Sprichwort vor, das besagt, dass jeder in seinem Leben einmal den Fuji hochsteigen solle. Wer es nie oder mehr als einmal machen würde, sei ein Dummkopf. Zugegeben, niemand meiner japanischen Freunde hatte je von diesem Sprichwort gehört und so kommentierte Ayano nur trocken, dass sie wohl ein Dummkopf wäre, weil sie noch nie den Fuji hochgestiegen wäre, während Tak dreimal nachfragte, um dann doch nur verständnislos mit dem Kopf zu schütteln. Dennoch habe ich mir seitdem im Hinterkopf behalten, dass es wohl etwas Besonderes wäre einmal den Fuji zu erklimmen und ich es, würde sich mir die Gelegenheit dazu bieten, sogar machen würde. Und so verging Woche um Woche, Monat um Monat und mein Jahr in Japan neigte sich bereits dem Ende zu, als schließlich die Britin Jessica auf mich zukam und mich zur Besteigung des Fuji einlud. Zwar war ich erst ein wenig unschlüssig, doch letztlich sagte ich zu. Wer weiß wann sich mir je wieder die Gelegenheit geboten hätte?
Es war Tag 314 in Japan als es schließlich so weit war und ich mit vollgepacktem Rucksack gemeinsam mit Milena, Lee, Jessica und einem ganzen Haufen britischer Freunde, die zu Besuch nach Japan gekommen waren, nach Shinjuku fuhr. In der Nähe des riesigen Bahnhofs sollte unser Bus abfahren, der uns in knapp zwei Stunden bis auf etwa 2200 Meter Höhe fahren würde, von wo aus wir dann in einer Nachtwanderung bis zum Gipfel hinaufsteigen wollten, um uns gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen. Ein recht simples Vorhaben, dachte ich mir und stellte mir vor, wie wir alle frohen Mutes mitten in der Nacht gemächlich einem Pfad nach oben folgen, gelegentlich eine Rast einlegen und am Gipfel schließlich jubelnd Gruppenbilder vor dem Hintergrund des Sonnenaufgangs schießen würden. Ja, es würde anstrengend werden, insbesondere wegen der Uhrzeit, sagte ich mir bereits im Vorhinein, doch ich war motiviert und fühlte mich der Besteigung des höchsten Berges Japans gewappnet. Doch hätte ich gewusst, was mir tatsächlich bevorstand, ich wäre vermutlich zu Hause geblieben.
Die zweistündige Fahrt im Bus war angenehm und ich nutzte die Zeit, um einige der Briten näher kennenzulernen. Man scherzte, tauschte sich aus und motivierte sich gegenseitig für den kommenden Aufstieg. Und ehe man sich versah, ging um uns herum die Sonne unter und wir fuhren erst in der Dämmerung und schließlich im Dunkel der Nacht zwischen den Bergen Zentraljapans hindurch, ehe wir gegen Sieben Uhr abends am Fuji ausstiegen. Wir befanden uns bereits auf etwa 2200 Metern Höhe, doch davon merkte ich nicht viel. Ich hätte ebenso an einer beliebigen Autobahnhaltestelle stehen können. Alles was ich sah, war die Dunkelheit um mich herum und den großen beleuchteten Souvenirladen, vor dem wir abgesetzt worden waren. Und so startete unser Besuch des Fuji mit dem obligatorischen Durchstöbern des Ladens, dem Betrachten von Kitsch, dem Gang zur Toilette und dem Beisammensitzen in einer ruhigen Ecke, um ein provisorisches Abendessen abzuhalten. Fast eine Stunde zog vorüber, ohne dass jemand von uns auch nur an den Aufstieg dachte, nicht weil wir demotiviert oder faul gewesen wären, nein, weil es jedem ans Herzen gelegt wurde dem Körper eine Stunde Zeit zu geben, um sich an die veränderten Bedingungen zu gewöhnen, wie die Temperatur und den Luftdruck. Die Temperatur fiel mir auch sehr schnell auf, schließlich war es in über zweitausend Metern Höhe doch erfrischend kühl, doch der veränderte Luftdruck schien mir so gar nichts auszumachen. Dennoch befolgte ich brav die Hinweise, aß eine kleine Mahlzeit, trank ausreichend und genoss die letzte Stunde vor dem Aufstieg mit den anderen.


Film1: Ein kurzes Video, das Milena während der Busfahrt von Shinjuku zum Fuji aufnahm. (Danke an Milena für das Video)


Bild1: Ein Blick auf die bergige Umgebung nahe dem Fuji. Zu diesem Zeitpunkt dämmerte es bereits. (Danke an Milena für das Foto)


Bild2: Ein Blick auf die Runde der Briten. In der Mitte sitzt Jessica mit ihren blonden Haaren.


Bild3: Und noch ein weiteres Bild, um auch jene Briten zu zeigen, die auf dem vorherigen Bild nicht zu sehen waren.


Bild4: Milena und Lee vor dem Aufstieg. Im Hintergrund sieht man ein wenig den weitläufigen Souvenirladen, in dem von Lebensmitteln, über Kuscheltiere, Postkarten, bis hin zu Schlüsselanhängern alles angeboten wurde.


Bild5: Lee und ich beim Verspeisen unseres provisorischen Abendessens, kurz bevor wir losgingen. (Danke an Milena für das Foto)


Am Abend gegen acht Uhr starteten wir schließlich unseren Aufstieg. Wer musste, ging noch einmal aufs Klo, vor dem Souvenirladen wurde noch ein Gruppenfoto geschossen und dann standen wir ein wenig verlassen mitten im Dunkel der Nacht.
"Wir haben immer vom Aufstieg geredet, aber wo geht es denn jetzt nach oben?"
Ein wenig unschlüssig schauten wir uns um, doch weit und breit war kein Schild zu sehen, auf dem der Gipfel ausgeschildert gewesen wäre. Es gab auch keine anderen Wanderer, die man hätte fragen könne, und das, obwohl in meinem Reiseführer ganz altklug stand, dass man sich für den Aufstieg nur an die Fersen seines Vordermannes zu heften bräuchte. Und so folgten wir alle etwas verunsichert einem Briten, der sich relativ sicher war, dass wir in die von ihm gewählte Richtung laufen mussten. Ein wenig misstrauisch war ich schon, als wir ganz einsam in vollkommener Dunkelheit dem breiten Weg folgten, der stetig bergab führte.
"Wir wollen doch auf den Gipfel. Warum laufen wir dann herab?"
Lee zuckte mit den Schultern.
"Ich laufe nur den anderen nach."
Und so zuckte auch ich mit meinen Schultern und lief den anderen hinterher, während ich mit meiner Taschenlampe den Weg beleuchtete. Und tatsächlich: Nach einigen Minuten Fußmarsch ging es allmählich bergauf und wir hatten endlich das Gefühl voran zu kommen. Frohen Mutes stapften wir nebeneinander her, unterhielten uns und spielten mit unseren Taschenlampen. Es war gar nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt hatte, dachte ich mir insgeheim, während ich ununterbrochen im Mittelfeld unserer Gruppen mitlief. Der Anstieg war nur minimal und es kostete kaum Kraft voranzukommen, nur sehr selten war ein kurzer Abschnitt, an dem es etwas steiler wurde und man ein wenig ins Keuchen kam, doch das nur halb so schlimm. Ich freute mich sogar, dass mein Körper ein wenig gefordert wurde, hatte ich doch das Gefühl etwas Gutes für mich zu tun. Und so dauerte es letztlich gerade einmal eine knappe halbe Stunde, bis wir nach Station fünf, an der wir mit dem Bus angekommen und gestartet waren, auch schon freudig Station sechs erreichten. Würde es in diesem Tempo weitergehen wir würden den Gipfel in Windeseile erreicht haben, schließlich war er die symbolische Station neun.


Bild6: Eine kurze Rast irgendwo zwischen Station fünf und sechs. Außer Atem waren wir nicht wirklich, aber wir wollten uns alle paar Minuten immer wieder sammeln, um niemanden zu verlieren. Außerdem wollten wir ein paar Bilder machen, doch wie zu erwarten, war dies im Dunkeln fast unmöglich.


Bild7: Milena und Lee beim Erreichen der Sechsten Station. Wir waren alle nicht mehr ganz so frisch, wie zum Beginn unserer Reise, aber noch genauso motiviert.


Der Weg von der sechsten Station bis zur siebten Station verlief in Serpentinen, in endlosen Serpentinen. Etwa einhundert Meter nach rechts, um die Ecke, einhundert Meter nach links, um die Ecke und wieder von vorne. Ich weiß nicht wie lange wir so liefen, bestimmt eineinhalb Stunden, vielleicht länger. Und allmählich, Serpentine für Serpentine, Stufe für Stufe, Höhenmeter für Höhenmeter, verließen uns die Kräfte. Liefen wir anfangs noch frohen Mutes den Berg hinauf, frisch motiviert durch das Erreichen der sechsten Station, wurde es doch schon bald still. Jeder lief mehr oder weniger für sich selbst durch die Nacht, schleppte sich den steinigen Weg nach oben, ohne auf das lose Geröll zu treten, und lief eng an der Wand entlang, um vor den gelegentlichen Böen geschützt zu sein, die mitunter vom Berg herunter wehten. Das stetige bergauf machte uns zu schaffen, denn es gab keine Zwischenrast, keine Waagrechte, immer nur den Weg, der, je weiter wir noch oben kamen, immer unbefestigter wurde. War es Anfangs noch ein leicht passierbarer Weg, rutschten wir schon bald auf Schotter umher. Jeder dritte Schritt war ein Schritt zurück, weil man stetig wieder nach unten rutschte. Nur gelegentlich gab es provisorische Stufen, Querverstrebungen, die den Schotter einigermaßen am Platz hielten, doch diese waren mitunter so hoch, dass man sie fast schon hochklettern musste. Selbst ich mit meinen langen Beinen hatte mitunter Schwierigkeiten eine Stufe zu erklimmen, die fast einen halben Meter hoch war, und so lief ich immer in der Nähe von Milena und Lee, um den beiden bei Bedarf eine helfende Hand entgegenzustrecken. Und so kam es, dass ich passagenweise Händchen haltend mit Lee voran lief, um sie eine Stufe nach der anderen hochzuziehen. Ein knappes "Danke" presste Lee dann immer hervor, für mehr reichte ihr Atem meist nicht mehr. Und mir ging es ähnlich: Ich war außer Atem, meine Beine begannen allmählich lahm zu werden und ich war erleichtert, wenn immer wir nach jeder zweiten Kurve eine kurze Verschnaufpause einlegten, uns an die Wand drückten und die wenigen Augenblicke nutzten, um ein wenig abzukühlen, Luft zu holen und den Mund zu befeuchten. Noch lief ich tapfer mit Lee an vorderster Front, gelegentlich auch Milena, doch nach und nach kristallisierten sich die Schnelleren und Langsameren heraus. Einer der Briten fiel immer weiter zurück und auch Milena konnte nicht auf Dauer an der Spitze laufen, andererseits eilten einige Briten stets voraus und mussten dann um so länger auf die Nachzügler warten. Doch noch waren wir eine Gruppe, warteten aufeinander und versuchten uns gegenseitig zu motivieren. Und irgendwann, nach einer Ewigkeit auf dem Weg der Serpentinen, erreichten wir Station Sieben auf 2700 Metern Höhe.
Wir pausierten eine ganze Weile bei Station Sieben, sicherlich zwanzig Minuten. Und nach dem ersten Minuten stillen Schweigens kamen auch wieder Unterhaltungen auf, die Motivation vom Start kehrte allmählich zurück. Doch so freudig dies auch war, ich hatte ein ganz anderes Problem: Ich war geschwitzt, mein Rücken war klatschnass. Und je länger ich tatenlos herumsaß, um zu Atem zu kommen, um wieder abzukühlen, desto mehr fror ich. Mittlerweile war es spät in der Nacht, die Temperatur auf 2700 Metern Höhe betrug maximal noch zehn Grad und unentwegt wehten Böen über die kleine Hütte, die sich an den Berg schmiegte. Und dies führte dazu, dass ich ein eiskaltes, nasses T-Shirt an meinem Rücken kleben hatte. Am liebsten wollte ich mich gar nicht bewegen, damit das T-Shirt meinen Rücken nicht berühren würde, doch ebenso wollte ich nicht länger bewegungslos im kalten Wind sitzen, der mir unter die Kleidung fuhr. Und so erinnere ich mich noch jetzt mit Grauen an den Moment, in dem ich meinen Rucksack wieder aufsetzte und für einige Minuten die Zähne zusammenbeißen musste, als mir das Gewicht des Rucksacks das eiskalte, nasse T-Shirt an den Rücken presste, wie mühsam es war die erste Schritte zu machen, nachdem ich fast eine Viertelstunde frierend auf der spartanischen Holzbank im Freien gesessen hatte.


Bild8: Endlich erreichten wie Station Sieben. Man sieht, dass wir alle schon dick angezogen sind, um der Kälte und dem Wind zu trotzen.


Film2: Ein kurzes Video, das Milena auf Station Sieben filmte. (Danke an Milena für das Video)


Gleich nach Station Sieben erhielten wir einen kurzen Einblick in das, was uns bis zum Gipfel erwarten würde: Ein Felsenmeer, auf dem man irgendwie nach oben klettern musste. Es gab keinen vorgeschriebenen Weg mehr, nein, nur noch zwei befestigte Ketten irgendwo links und rechts, zwischen denen man sich irgendwie seinen eigenen Weg bahnen musste. Was sich sehr abenteuerlich anhört, war eigentlich recht amüsant. Ich kletterte eilig das kurze Stück nach oben und stellte mit einigen Briten erschrocken fest, dass die übrigen Teilnehmer unserer Gruppe weitaus mehr Probleme beim Bezwingen der Felsen hatten. Und so mussten wir gemeinsam warten, bis auch die anderen endlich die nächste Hütte, die gerade einmal einhundertfünfzig Meter entfernt lag, erreichten. Ähnlich ging es dann weiter: Eine Kletterpartie nach der anderen, ein Zwischenstop nach dem anderen. Und immer war es das Gleiche: Die Felsen kletterte ich recht schnell hinauf und das Warten an der nächsten Hütte wurde zu einer Qual: Nassgeschwitzt stand ich im eisigen Wind an den Hütten und fror vor mich hin. An jeder Hütte schien es ein wenig kälter zu werden, ein wenig windiger, die Qual zu warten ein wenig schlimmer. Und so setzte ich mich schon gar nicht mehr hin, auch wenn ich erschöpft war. Ich stand, lief ein wenig auf der Stelle umher, um nicht zu schnell abzukühlen. Auch den Rucksack setzte ich kaum noch ab, auch wenn mir der Rücken schmerzte, schließlich ertrug ich es kaum ihn wieder aufzusetzen. Je höher wir kamen, desto wehleidiger wurden einige der Teilnehmer, stöhnten, dass sie nicht mehr könnten, am liebsten zu Hause geblieben wären und schleppten sich nur noch maulend vorwärts. Ich näherte mich auch allmählich dem Ende meiner Kräfte, doch ich bis die Zähne zusammen und sagte kein Wort, stattdessen versuchte ich die anderen, und letztlich mich selbst, aufzumuntern. Immer öfter begegnete wir nun auch anderen Bergsteigern, die vor, hinter und neben uns die Steine hinauf kletterten. Ich weiß nicht mehr wie oft wir den Satz "Lass doch die jungen Leute vorbeiklettern. Die sind voller Elan." zu hören bekamen, und immer presste ich ein gezwungenes "Danke" hervor und versuchte die nächsten Schritte möglichst eilig und professionell zu nehmen, um den Eindruck zu erwecken wirklich voller Elan zu stecken. Und so kämpften wir uns Station für Station nach oben, bis unsere Gruppe schließlich zerfiel.
Ich weiß nicht mehr genau wo es war, irgendwo vor der achten Station, da schlug eine Britin vor die Schnellen vorzulassen, damit diese nicht immer auf die Langsameren warten müssten. Es war keine stille Kritik, kein stummer Hinweis darauf, dass einige warten sollten, es war ein ernsthafter Vorschlag, um jenen, die rechtzeitig zum Sonnenaufgang den Gipfel erreichen wollten, dies zu ermöglichen. Es war keine lange Diskussion, kein wildes Hin und Her, da zogen schließlich vier Motivierte vorweg und ließen den Rest der Gruppe hinter sich. Und einer von jenen Vieren war ich.
Es war bereits nach Mitternacht als ich zusammen mit drei Briten ein schier endloses Felsenmeer nach oben kletterte. Und der Tempowandel machte sich schon bald bemerkbar. Ich war nicht länger einer derjenigen, die warten mussten, bis die anderen nachkamen, nein, ich musste mich nun selbst ins Zeug legen, um nicht hinter den anderen zurückzufallen, denn wenn es eines gab, was ich nun bemerkte, dann dies: Wir waren eine Gruppe von vier ehrgeizigen Jungen, von denen keiner als Erster aufgeben, von denen niemand hinter den anderen zurückbleiben wollte. In rasantem Tempo bewältigten wir die kommenden Höhenmeter, kletterten Stein um Stein, Pfad um Pfad nach oben und durchwanderten eine Hütte nach der anderen. Wir machten keine langen Pausen mehr, maximal wenige Minuten, dann stürzten wir uns wieder auf die Felsen, bissen die Zähne zusammen und kletterten weiter. Mitunter durchwanderten wir die Stationen sogar, ohne überhaupt zu rasten. Und ebenso rasant wie wir aufstiegen, spürte ich wie mich meine Lebensgeister verließen. Ich konnte nicht mehr, war am Ende. Jeder Schritt wurde zur Qual, immer häufiger hielt ich für einen Moment inne, bevor ich auf den nächsten Stein trat, mich die nächste Klippe hochzog. Ich war ständig außer Atem, denn die dünne Luft forderte ihren Tribut, selbst in den Pausen konnte ich mich kaum noch erholen. Die kleinsten Schritte wurde immer anstrengender, brachten mir den Schweiß auf die Stirn. Und es half auch nicht, dass es stetig kühler wurde, dass wir vereinzelt durch Wolken kletterten, die die Steine nass und rutschig werden ließen. Doch ich kämpfte, blieb innerhalb der Gruppe und biss die Zähne zusammen, wenn ich wieder einmal aus Unachtsamkeit auf einen harten Stein trat und einen beißenden Schmerz in meiner Hüfte spürte. Irgendwann war mein rechtes Bein so lahm, dass ich es kaum noch bewegen konnte, und so lief ich nicht mehr Schritt für Schritt, sondern zog nach jedem Tritt mit meinem linken Bein mein rechtes Bein mühsam hinterher. Und doch gab ich nicht auf, ich wollte nicht zurückbleiben, nicht derjenige sein, auf den die anderen warten mussten. Und so erreichten wir nach knapp zwei Stunden Qual schließlich die drittletzte Hütte auf 3360 Metern Höhe.


Bild9: Die drei Briten, mit denen ich vorauseilte, um rechtzeitig zum Sonnenaufgang den Gipfel zu erreichen. Jeder versuchte möglichst gelassen zu wirken, so als würde der Aufstieg niemandem etwas ausmachen.


Bild10: Ein Blick aus 3360 Metern Höhe hinab auf die Serpentinen, die wir auf den letzten Metern hinaufgestiegen waren. Man sieht die zahlreichen Lichter, der übrigen Bergsteiger, denn mittlerweile waren wir nicht mehr so einsam wie zum Beginn.


Es war schon fast eine kleine Siedlung auf 3360 Metern Höhe, Hütte an Hütte, dort ein Laden, dort eine Toilette, dort wieder ein Pfad nach oben zur nächsten Hütte. Und das erste Mal machten wir eine längere Pause. Die Briten setzten sich in eine der beleuchteten Hütten und bestellten sich eine warme Mahlzeit, während ich ins nahgelegene Toilettenhaus verschwand und mich umzog. Mit meinen tauben Händen puhlte ich mich aus meiner Jacke und meinem T-Shirt und stellte fest, dass beides durchgeschwitzt war. Klatschnass, geradezu so, als hätte man sie einmal in Wasser getaucht. Vorallem mein T-Shirt war so feucht, dass ich es zum Spass sogar ein wenig auswrang, um zu sehen, wie Tropfen auf den Boden fielen. Notdürftig trocknete ich mich ab, zog meinen Ersatzpullover über die nackte Haut, darüber meine Regenjacke und darüber schließlich meine durchgeschwitzte Jacke. Und das erste Mal seit langem, fühlte ich mich halbwegs wohl, weil ich nicht mehr klitschnass war und bei jeder Böe zusammenfuhr. Ich aß, trank und unterhielt mich ein wenig mit den anderen Dreien, doch wirklich ausgeruht kam ich mir auch nach knapp einer Viertelstunde nicht vor. Und schließlich machten wir uns auf, das letzte Stück bis zum Gipfel zu erklimmen.
Ich hatte nicht übertrieben, als ich schrieb, dass ich am Ende meiner Kräfte war. Was kann ich also noch über die finalen zwei Stunden schreiben? Eigentlich nur dies: Ich überschritt meine Grenzen. Und das bei weitem. Ich kann ernsthaft nicht mehr sagen, wie ich die letzten zwei Stunden überlebt habe, denn ich war bereits im Vorhinein unfähig gewesen mich noch weiter zu bewegen. Mühsam schleppte ich mich vorwärts, Schritt um Schritt, Atemzug um Atemzug. Es ging nicht mehr darum Schritt zu halten, schnell zu sein, nein, es ging nur darum sich überhaupt noch zu bewegen. Mittlerweile waren so viele Menschen auf dem Weg zum Gipfel, dass man ohnehin kein eigenes Tempo mehr angeben konnte, sondern sich dem Fluss der Masse fügen musste. Und das war ein sehr, sehr zäher Fluss: Jeder Schritt dauerte rund drei bis fünf Sekunden, immer wieder musste man warten, bis sich die Schlange wenige Dezimeter nach vorne schob, doch um ehrlich zu sein, war ich froh. Ich konnte ohnehin nicht schneller, im Gegenteil, es war manchmal sogar fast zu schnell. Vielleicht kann man sich vorstellen wie erschöpft, wie ausgepower wir waren, wie weit wir über unsere Grenzen hinausgegangen waren, dass selbst drei Meter in einer Minuten fast schon zu viel waren. Erschöpft, dieses Wort beschreibt eigentlich nicht, wie es mir ging. Ich war eher tot als lebendig. Manchmal schloss ich für einige Sekunden die Augen, weil ich vollkommen übermüdet war, mitunter verschwamm mein Sichtfeld von mir, weil mein Gehirn zu sehr damit beschäftigt war mich halbwegs aufrecht zu halten, dennoch torkelte ich gelegentlich ein Stück zur Seite. Ich war so fertig, dass ich mir dachte, dass es auch nicht schlimmer werden könnte, wenn ich vor Ermüdung umkippen und den Berg hinunterfallen würde. Und den anderen ging es ähnlich: Immer öfter legten sie Pausen ein, trotz des zähen Flusses. Sie ließen sich einfach auf den Boden plumpsen und einer der Briten nickte sogar mitten beim Pausieren auf dem Weg ein. Es störte ihn gar nicht mehr, dass die Temperatur mittlerweile um den Gefrierpunkt lag, es regnete und stetig Böen vom nahenden Gipfel zu uns hinunter wehten. Er lag für einige Momente einfach nur reglos da. Nur zu oft benutzt man heutzutage den Superlativ, um zu sagen, dass etwas schwer, anstrengend oder demütigend war, doch ich denke, dass ich mit gutem Gewissen sagen kann, dass diese letzten zwei Stunden bis zum Gipfel die anstrengendsten zwei Stunden meines Lebens waren. Es war die vollkommene Müdigkeit, die mich gegen vier Uhr morgens einholte, der eisige Wind, die Temperaturen, die Anstrengung von insgesamt fast acht Stunden Aufstieg und nicht zuletzt der Luftdruck in über 3700 Metern Höhe, die jeden einzelnen Schritt zu einer Qual werden ließen. Für jeden einzelnen Schritt musste ich mich von neuem motivieren, nach jeder Bewegung von neuem mit der Atemlosigkeit kämpfen und bei jedem Überwinden eines Steines von Neuem die Schmerzen in meinen nutzlos gewordenen Beinen ertragen.
Und dann begann das Schwarz der Nacht allmählich zu schwinden. Es wurde dunkelblau und man begann die Umgebung um sich herum zu erkennen. Man sah den steinigen Pfad, dem man seit zwei Stunden folgte, die anderen, denen man schon seit Stunden Schritt auf Schritt folgte und nicht zuletzt das Ziel. Und mit wirklich allerletzter Kraft schleppten wir vier uns die letzten fünfzig Meter bis zu jenem Tor, das den Eingang zum Gipfel markierte. Mit zittrigen, zugefrorenen Händen knipste ich ein Bild, dann lief ich die letzten Stufen herauf, die Taschenlampe baumelte kraftlos an meinem Hals, meine Beine liefen nicht mehr von meinem Kopf gesteuert und ich spürte die eisige Kälte überall an meinem Körper, da ich von neuem vollkommen durchgeschwitzt war. Und nach acht langen Stunden betrat ich endlich den Gipfel des Fuji, dem höchsten Berg Japans.


Bild11: Das Bild, das ich nur wenige Meter vor dem Gipfel des Fuji schoss. Es ist unscharf und verwackelt, aber man erahnt doch wenigstens das torii oben links, sowie die Steinstatue, die rechts thront.

Dienstag, 28. Juli 2009

Der Tag, an dem ich jeden verpasste

Ein wenig nervös schaute ich auf die Uhr. Es war bereits halb drei Uhr am Mittag, doch die Britin Jessica war noch nicht vorbeigekommen. Hatte sie nicht versprochen um zwei Uhr an meine Tür klopfen zu wollen? Also telefonierte ich weiter übers Internet, während ich ein wenig verunsichert über die Zeitplanung des heutigen Tages nachdachte. Um vier Uhr hatte ich mich mit meiner Freundin Nathalie ("Das Wiedersehen") am Bahnhof von Shinjuku verabredet, vorher wollte ich mit Jessica gemeinsam Bustickets kaufen, schließlich wollten wir schon morgen mit dem Bus zum Fuji, dem höchsten Berg Japans reisen. Wie würde ich all dies auf die Reihe bekommen, wenn Jessica nicht käme?
Ein letztes Mal blickte ich auf die Uhr, dann packte ich meine Sachen zusammen und hastete aus der Wohnung. Es war mittlerweile Viertel nach drei und Jessica war noch immer nicht aufgetaucht, doch ich konnte nicht mehr warten, denn ganz gleich wie ich mich auch beeilen würde, ich würde zu meinem Treffen mit Nathalie zu spät kommen. Um vier Uhr hatte wir uns an einer der unzähligen Ticketschranken am Bahnhof von Shinjuku, einem der größten Bahnhöfe der Welt, verabredet, doch bis ich in Shinjuku ankommen würde, würde noch mindestens eine weitere Stunde vergehen. Und so lief ich schnellen Schrittes zum Bahnhof von Soka, setzte mich in der erstbesten Zug und fuhr in Richtung Shinjuku.
Etwa gegen Viertel nach Vier erreichte ich meinen Zielbahnhof und eilte zu der vereinbarten Ticketschranke, doch Nathalie war nicht da. Ich wartete eine Weile, doch sie kam nicht mehr, war vermutlich schon wieder gegangen. Und so lief ich ein wenig in der näheren Umgebung umher und suchte nach ihr, hoffte sie an jenem Bahnhof zu finden, der täglich mehrere Millionen Besucher verzeichnet. Ein Ding der Unmöglichkeit. Und so sah ich nach fast einer halben Stunde ein, dass ich heute sowohl Jessica, als auch Nathalie verpasst hatte, und entschied mich den verpatzten Tag noch irgendwie zu retten. Also besann ich mich auf jene Dinge, die ich noch für meinen Besuch des Fuji kaufen musste und nutzte die weitläufigen Einkaufsstraßen innerhalb und um den Bahnhof von Shinjuku herum, um ein wenig in den Geschäften zu stöbern. Einen billigen Regenüberzug und eine Taschenlampe suchte ich, doch auch nach fast zwei Stunden stand ich noch mit leeren Händen da. Außer Damenschuhen, Markenkleidung, ein paar Läden voller teurem Kitsch, einem Möbelhaus mit Designermöbeln und noch mehr Damenschuhen fand ich nichts, schon gar keine billige Regenkleidung. Und so lief ich in Richtung meiner Bahnlinie, um mit dem nächsten Zug zurück nach Soka zu fahren. Noch einmal lief ich an den Ticketschranken vorbei, an denen ich Nathalie hatte treffen wollen, doch natürlich war niemand da. Und so setzte ich mich in den nächsten Zug und fuhr unverrichteter Dinge nach Hause.
Am Abend klingelte es und Jessica stand lächelnd vor der Tür.
"Hey, wo warst du denn heute um zwei Uhr?"
"Um zwei? Da war ich auf dem Abschlussessen mit meinem Sprachkurs. Heute war doch unser Abschlusstest."
"Ach, war das heute?"
"Ja, das war heute. Aber weswegen ich eigentlich hier bin: Morgen steht unser Treffen? Wegen der Bustickets?"
"Ich dachte wir machen das vor unserer Reise zum Fuji."
"Das machen wir ja auch. Wir fahren Übermorgen zum Fuji."
"Übermorgen erst?"
Ich klatschte mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Und dann erzählt ich Jessica von meinem verpatzten Tag, wie ich auf die gewartete hatte, mich wunderte, warum sie nicht gekommen war, letztlich viel zu spät in Shinjuku gewesen war und Nathalie verpasst hatte. Und wir konnten beide darüber lachen.
Am Abend kontaktierte ich Nathalie, um mich für meine Verspätung zu entschuldigen. Wie sich herausstellte, war ich nicht nur zu spät gekommen, sondern hatte auch noch an der falschen Ticketschranke gewartet. Und so klatschte ich mir ein weiteres Mal mit der flachen Hand gegen die Stirn und erzählte zum zweiten Mal meine Geschichte.
Ärgerlich war ich an diesem Abend nicht auf mich, stattdessen lachte ich über meine Schusseligkeit. Und ich war sogar ein wenig erleichtert, denn ich kann nicht leugnen überrascht gewesen zu sein, dass Jessica nicht zur vereinbarten Zeit gekommen war und Nathalie nicht einmal eine Viertelstunde gewartet hatte. Doch nun wusste ich, dass ich verlässliche Freunde hatte und sich jedes Missverständnis immer irgendwie aufklärte. Und so schüttelte ich noch einmal den Kopf darüber, wie chaotisch heute alles gewesen war und widmete mich anderen Dingen.

Montag, 27. Juli 2009

Oberkurs 2009

Mein Sprachkurs ist schon ein bunter Haufen. Und auch wenn ich mit einigen Teilnehmern im vergangen Semester nicht viel zu tun hatte, sind es doch alles mehr oder weniger liebenswerte Chaoten, mit denen ich mein letztes Semester verbracht habe. Ich habe mich zwar gerne einmal über die fehlenden Manieren einiger Kursteilnehmer ("A Fart. To Pierce the Dark."), sowie die mangelnde Lernbereitschaft im Allgemeinen ("Lehren und lehren lassen") aufgeregt, doch auch immer eingeräumt, dass trotz aller Gegensätze und Unstimmigkeiten in entscheidenden Momenten immer eine unglaubliche Gruppendynamik vorherrschte ("Gruppendynamik", "Paul, das Plagiat und die Petze"). Und darum wollte ich meinen Sprachkurs, mit dem ich das letzte Semester geteilt hatte, nicht einfach nur wortlos zurücklassen, ganz ohne Verabschiedung. Deshalb ging ich auf die Einladung zu einem gemeinsamen, abendlichen Ausgehens ein, um meinen Sprachkurs würdig zu verabschieden.
Am späten Nachmittag meines 311. Tages in Japan hatten wir uns am Bahnhof von Matsubara Danchi, nahe der Dokkyo-Universität, verabredet, um gemeinsam in einem nahliegenden Restaurant für einen Festpreis so viel zu Essen und Trinken wie wir wollten. Ursprünglich war nur ein gemeinsamer Umtrunk gedacht gewesen, doch auf meinen Protest hin, schließlich trinke ich keinen Alkohol, hatten sich Marvin und Nikki für ein dazugehöriges Essen stark gemacht. Folglich hatte Cassy für zwölf Personen reserviert und jeden kontaktiert, um sich zwischen halb sechs und sechs Uhr abends am Bahnhof einzufinden.
Es war wie bereits zur Vorlesungszeit: Pünktlich um halb sechs Uhr standen Marvin und ich am Bahnhof, doch von den anderen Kursteilnehmern war weit und breit niemand zu sehen. Und so warteten wir zu zweit, unterhielten uns und spazierten ein wenig in der näheren Umgebung umher. Kurz darauf erschien auch Ma, während Cassy und Nikki erst um kurz vor sechs ankamen. Doch auch als der Zeiger der Uhr bereits auf kurz nach sechs Uhr stand, war außer uns noch niemand da und so eilten wir zu fünft zum Restaurant, während Marvin, Cassy und Nikki versuchten die anderen Teilnehmer zu kontaktieren. Die Chinesin Kou ("Die elf Anderen") erschien noch mit einigen Minuten Verspätung direkt im Restaurant, doch von den übrigen sechs Leuten kam niemand mehr. Es war ein wenig traurig, dass nur jeder Zweite gekommen war, insbesondere Cassy, Nikki und Marvin ärgerten sich offensichtlich, dass kaum einer der anderen Teilnehmer abgesagt hatte, doch eigentlich war mir eine kleine Runde fast lieber, als eine große. Und so wurden es trotz allem doch drei amüsante Stunden zu sechst.


Bild1: Von links nach rechts: Cassy, Nikki, Kou, Ma und Marvin. Fünf meiner Kommilitonen des vergangenen Semesters, mit denen ich mich am Abend zum Abschluss des Semesters traf.


Bild2: Ein Blick auf eine kleine Auswahl der Speisen, die wir bestellten. Da man nur einen Festpreis bezahlte und dann so viel bestellen konnte, wie man wollte, nutzten wir es, um uns durch fast die gesamte Speisekarte zu essen. Von gyouza (gefüllte Teigtaschen), über sashimi (roher Fisch), bis hin zu Pommes Frites probierten wir fast alles, was angeboten wurde.


Bild3: Nach zwei Semestern schaffte ich es zum letztmöglichen Termin endlich ein Foto von Ma zu machen, dem Chinesen, dem ich so viele Einträge in meinem Blog gewidmet habe.


Bild4: Die letzte Bestellung an diesem Abend war ein gemeinsames Gruppenfoto. Und so durfte die junge Bedienung gleich mit vier verschiedenen Kameras jeweils zwei Bilder fotografieren.


Etwa gegen neun Uhr verließen wir das Restaurant, vollgegessen und einige auch ziemlich vollgetrunken. Ein letztes Mal standen wir zu sechst am Bahnhof, dann verabschiedete sich Kou und verschwand hinter der Ticketschranke. Es dauerte nicht lange, da trennten sich unsere Wege auch von Ma und letztlich fuhr auch Cassy mit ihrem Rad voraus, weshalb Marvin, Nikki und ich zu dritt in Richtung des Wohnheims liefen. Marvin ging voraus und redete, während Nikki an meine Seite gedrückt hinter ihm hertorkelte. Und auch wenn wir kaum etwas sprachen, genoss ich doch dieses letzte Beisammensein mit den beiden Personen aus dem Sprachkurs, die mir am meisten ans Herzen gewachsen waren. Dann verabschiedete auch ich mich von den beiden und kehrte in meine Wohnung ein. Und so fand mein Sprachkurs nach etwa drei Monaten ein Ende.

Dokkyo-Coda

Es war das letzte Mal, dass ich an diesem Tag die Stufen zum Klassensaal emporstieg, das letzte Mal, dass ich morgens auf meinem Stuhl Platz nahm. Zwei Semester lang war ich regelmäßig zum Unterricht gekommen, hatte eifrig gelernt, in jedem Test mein Bestes gegeben, doch nun kam alles zu einem Ende: Es war die letzte Prüfung dieses Semesters, der Abschlusstest meines Jahres in Japan.
Offensichtlich schien aber nicht jeder diesem letzten Test solch eine hohe Bedeutung beizumessen, denn es waren nicht einmal alle Kursteilnehmer da, als die Testbögen ausgeteilt wurden. Die Koreanerin Chu und der Chinese Riku fehlten ("Die elf Anderen"), beide aus unterschiedlichen Gründen: Chu fehlte, weil sie offensichtlich keine Motivation hatte, schließlich war sie bereits während der letzten Tage kaum im Unterricht anwesend gewesen, Riku fehlte traditionsgemäß, weil er zu spät kam. Und auch Cassy, die Kanadierin chinesischer Herkunft, kam an diesem Tag erst in den Raum gehastet, als die Prüfungszeit bereits begonnen hatte.
"Man hätte ja erwarten können, dass die Teilnehmer unseres Kurses zumindest zur Abschlussprüfung alle einmal pünktlich anwesend sein würden."
Ich schaute zu Marvin, der auch nur die Schultern zuckte und resigniert den Kopf schüttelte.
Genau genommen war dieser Test keine Abschlussprüfung, schließlich war eine Abschlussprüfung dazu da den gesamten Lehrstoff des vergangenen Semesters zu rekapitulieren und einen Bogen vom Anfang zum Ende zu schlagen. Zum Ende des Mittelkurses hatte es solch einen Abschlusstest gegeben ("Dokkyo-Finale"), doch der heutige Test war ein wenig komplizierter konzipiert: Einerseits wurden die Zeitungsartikel, die wir in den vergangenen Tagen gelesen hatten überprüft ("Einen Vogel haben"), andererseits das Konversationsbuch, das wir bereits seit der zweiten Hälfte des Semesters bearbeiteten. Der Test war somit in einen regulären Textteil mit Übungen zum Textverständnis und zum Vokabular, sowie einen umfassenden Konversationstest unterteilt. Doch da ich keinen passenden Begriff für diese Art von Test wusste und es mir zu aufwendig war jedes Mal eine minutenlange Erklärung zu meiner letzten Prüfung abzugeben, hatte ich mir angewöhnt von einem Abschlusstest zu sprechen. Schließlich war es ein Test zum Abschluss des Semesters, somit erschien es mir angemessen den Ausdruck Abschlusstest zu benutzen.
Ich glaube, dass Herr Ikuta den schriftlichen Prüfungsteil erstellt hatte, doch genau wusste ich es nicht, denn es war keiner unserer Lehrer anwesend. Nur eine Hilfskraft, die von nichts eine Ahnung zu haben schien, war mit uns im Raum und achtete pingelig darauf, dass wir weder abschauten, noch auffällige Gegenstände auf unserem Tisch liegen hatten. Und so verbrachte ich den knapp einstündigen Textteil alleine mit einem Bleistift, einem Radiergummi und meinem Prüfungsbogen.
Im Vorhinein hatte ich mich ein wenig daran gestört, dass niemand uns auch nur einen Clou zu unserem Test gegeben hatte. Natürlich wusste man, dass die Zeitungsartikel der vergangenen Tage behandelt werden würden, doch was genau sollte man lernen? Keine Ahnung. Knapp zwanzig Artikel hatten wir gelesen, mitunter Kurzartikel von nur wenigen Zeilen, mitunter fast zweiseitige Exzerpte von Artikeln aus diversen Zeitschriften. Es hatte Texte gegeben, die man fast ohne Hilfsmittel herunterlesen konnte, doch es gab auch jene Artikel, die man sechzig Minuten lang mit dem Lehrer bearbeitet hatte ohne auch nur zu verstehen, um welches Thema sich der Artikel überhaupt drehte. Am Vortag hatte ich mich darum fast zwei Stunden lang mit Marvin zusammengesetzt, um eine einzelnen Artikel durchzuarbeiten, den keiner von uns auch nur im Ansatz verstanden hatte. Doch trotz unseres intensiven Lernens, dem Nachschlagen jeder zweite Vokabel, dem Heraussuchen relevanter Grammatik und dem langwierigen Übersetzen jedes einzelnen Satzes, hatten wir den Text letztlich nicht verstanden. Was sollte man also lernen? Wie sollte man sich vorbereiten? War es sinnvoll alle unbekannten Vokabeln auswendig zu lernen? Nein, das waren viel zu viele. War es sinnvoll alle Texte zu bearbeiten, bis man sie durch und durch verstanden hatte? Eine gute Idee, doch aus oben genannten Gründen leider nicht immer möglich. Und so hatte ich mich für die Querfeldein-Methode entschieden: Ich las alle Texte am Vortag noch einmal durch, versuchte den gröbsten Inhalt zu verstehen, mir die zentralen Begriffe zu merken und übersprang zwei der kompliziertesten Texte, weil sie mir die Zeit für die Vorbereitung der anderen Texte geraubt hätten. Und letztlich fuhr ich mit dieser Methode recht gut. Es wurden größtenteils die Lesungen der zentralen Begriffe abgefragt und das Textverständnis bezog sich meist auf die Gesamtaussage des Textes, nicht auf Detailfragen. Natürlich gab es sie: Schriftzeichen, die ich nicht benennen konnte, Textpassagen, die ich nicht ganz verstand, Fragestellungen, die ich nicht sicher beantworten konnte, doch insgesamt war es ein recht gelungener schriftlicher Teil der Abschlussprüfung. Ich war zufrieden.
Zum Beginn der zweiten Stunde öffnete sich die Tür des Lehrraums und eine ältere Dame kam mit schnellen Schritten in den Raum gewatschelt. Um ihren Hals trug sie eine ausladende Kette, ihre Haare waren aufwendig toupiert. Es war Frau Iwazawa, die Prüferin für den Konversationstest. Warum wohl keiner der regulären Lehrer die Prüfung abhielt, fragte ich mich insgeheim und versuchte einen möglichst guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Frau Iwazawa überprüfte die Anwesenheit, mittlerweile war jeder der Kursteilnehmer anwesend, und blieb bei meinem Namen hängen. Sie warf einen Blick auf die Liste, einen Blick auf mich, wieder einen Blick auf die Liste und letztlich wieder einen Blick auf mich.
"Das T-Shirt, das sie tragen, ist sehr pink."
"Das ist mein Dokkyo-Shirt."
Mit glühenden Augen blickte Frau Iwazawa auf mein grellpinkes T-Shirt, das ich mir erst am Vortag gekauft hatte ("Mein letzter Schultag").
"Fabelhaft. Wirklich fabelhaft."
Ich nickte zustimmend und lehnte mich stolz zurück. Der erste Eindruck war gut verlaufen, dachte ich mir zufrieden.
Insgeheim hatte ich gehofft, dass die Konversationsprüfung in zwölf Einzelgespräche unterteilt werden, jeder Teilnehmer also seine individuelle Prüfung haben würde. Doch schon recht schnell wurden meine Hoffnungen zerschlagen, da Frau Iwazawa Partnergespräche ankündigte. Nun gut, dachte ich mir, dann lasse ich mich eben zusammen mit Nikki prüfen, das ist auch in Ordnung. Doch auch dies war mir nicht vergönnt, denn Frau Iwazawa schrieb nacheinander sechs Prüfungstermine an die Tafel und ließ daraufhin Zettel mit Nummern ziehen. Und da jede Nummer von eins bis sechs zweimal vorhanden war, wurde anhand der Zettel per Zufall nicht nur die Reihenfolge, sondern auch der Prüfungspartner bestimmt. Wie jeder andere zog ich einen Zettel.
"Eins. Na toll. Wer wohl mein Konversationspartner ist?"
Da drehte sich Ma um und hielt mir seinen Zettel vor die Nase, auf dem ebenfalls eine fette, dicke Eins geschrieben stand. Und so musste ich nicht nur als Erster in die Prüfung, nein, ich hatte meine Prüfung auch noch zusammen mit Ma, dem Chinesen, mit dem ich schon seit zwei Semestern auf Kriegsfuß stand.
Eigentlich ist es ja passend, dachte ich mir, hatte ich im vergangenen Semester doch schließlich mehr als jede zweite Konversationsprüfung und fast jede Konversationsübung mit Ma gemeistert und war mittlerweile an ihn gewöhnt ("Hochzeit in China", "Die Fehler der Anderen", "Hören und Verstehen", "Einer für alle, alle für sich!", "Überraschungen", "Sein und Schein"). Und wenn ich einmal ehrlich war, so war er mir doch ein wenig ans Herz gewachsen in den vergangen Wochen und Monaten. Wer wäre wohl angemessener gewesen für meine letzte Konversationsprüfung?
Als die anderen den Raum verlassen hatten, waren Frau Iwazawa, Ma und ich alleine. Wir rückten ein paar Tische hin und her, nahmen Platz und begannen kurz darauf mit der Konversationsprüfung, die letzte Überprüfung während meiner Zeit an der Dokkyo-Universität. Sie war in zwei Teile gegliedert: Einen Teil, in dem man sich selbst vorstellen musste, und einen Teil, in dem wir uns gegenseitig zu vorgegebenen Themen interviewen sollten. Den ersten Teil, also eine Selbstvorstellung auf Japanisch, hatte ich bereits erwartet, und so war es für mich kein Schweres ein wenig auf Japanisch über mich zu plaudern: Wo ich herkam, wieso ich nach Japan gekommen war, was ich studierte, was ich später einmal machen wollte und welche Hobbys ich hatte. Ich konnte meinen Text recht flüssig, fast ohne Versprecher oder längere Pausen, und mit den richtigen Floskeln und Redewendungen vortragen und Frau Iwazawa nickte anerkennend. Sie schien zufrieden mit meiner kurzen Rede zu sein, da ich sowohl Themen wie meine Zukunftsplanung angesprochen, als auch Gründe für meinen Japanaufenthalt genannt hatte, denn eben dies waren die Dinge, die sie bei Ma nachfragte, als er meinem Beispiel folgte. Der zweite Teil, also das gegenseitige Interview, verlief ebenfalls sehr gut. Thematisch musste ich über meine Träume reden, ein Thema, das erst vor kurzem bei Frau Sakatani im Unterricht ausgiebig behandelt worden war ("Nette Japaner"), darum hatte ich noch alles, was ich damals gesagt hatte, was ich mir zurecht gelegt hatte, im Kopf. Im Gegenzug musste ich Ma über seinen Lieblingssport befragen, was auch ein glücklicher Zufall war, da wir erst vor wenigen Wochen zu genau diesem Thema im Unterricht von Herrn Ikuta schon einmal zusammenarbeiten mussten ("Sein und Schein"). Somit wusste ich genau auf welche Fragen Ma nur schwer antworten konnte, wo seine Interessen lagen und wozu er ausschweifend erzählen konnte. Im Vorhinein hatte ich mit Ma vereinbart langsam und deutlich zu sprechen, war es doch immer das Hauptproblem mit Ma, dass man sein Japanisch nie verstand. Und zu meiner Überraschung hielt sich Ma an unsere Vereinbarung, sprach für seine Verhältnisse langsam und betont, leicht verständlich, wiederholte Sätze mit anderem Vokabular, wenn ich mit einem ratlosen Blick signalisierte, dass ich nicht verstanden hatte, worauf er hinauswollte und fiel mir weder ins Wort, noch brachte er seine Standardeinwürfe wie "Lüge!" oder "Ich denke gerade.", die er sich im vergangen Semester angewöhnt hatte.
"Das war eine sehr gelungene Prüfung."
Frau Iwazawa schaute Ma und mich lächelnd an und notierte einige letzte Bemerkungen auf ihrem Bewertungsbogen.
"Sie haben beide sehr deutlich und betont gesprochen. Ich fand es sehr schön, wie sie im Dialog aufeinander reagiert haben. Ihre Fragen haben sich an den Antworten des Gegenüber orientiert, sie haben nicht einfach nur einen Katalog von Fragen abgespult. Und am wichtigsten: Sie haben Rücksicht aufeinander genommen. Sie haben nicht versucht sich zu profilieren, sie haben sich gegenseitig unterstützt, Hilfestellungen gegeben. Das fand ich ganz toll. Eine wirklich sehr gute Prüfung. Herzlichen Glückwunsch."
Sowohl Ma als auch ich waren sichtlich erfreut diese warmen Worte von Frau Iwazawa zu hören. Und so freuten wir uns zusammen, beglückwünschten uns gegenseitig und gaben uns die Hand auf diese erfolgreiche Konversationsprüfung. Und nach all dem Ärger, nach all den schlechten Erfahrungen, die ich mit ihm gesammelt hatte, fühlte ich mich Ma doch verbunden. Er war mir im Verlauf des letzten Jahres ans Herz gewachsen. Und insgeheim dachte ich mir, was ich mir bereits zuvor gedacht hatte: Eigentlich hätte ich mit niemand anderem meine letzte Prüfung teilen wollen, mein Semester beenden wollen, als mit Ma.
Als ich den Prüfungsraum letztlich verließ, warteten bereits Marvin und Paul auf mich, um mich neugierig zu meiner Prüfung zu befragen: Was abgefragt wurde, was man noch einmal schnell wiederholen sollte und ob Frau Iwazawa eine strenge Prüferin gewesen wäre. Und so erzählte ich von meiner Prüfung, während ich das letzte Mal die Stufen vom fünften Stock herunterstieg, das letzte Mal durch die Eingangstür des Gebäudes lief, den Campus überquerte und schließlich das Unigelände verließ. Zwei Semester lang war ich regelmäßig zum Unterricht gekommen, hatte eifrig gelernt, in jedem Test mein Bestes gegeben, doch nun war alles zu einem Ende gekommen. Von einem Augenblick zum Nächsten war es vorüber. Noch einmal drehte ich mich um, warf einen Blick auf die Gebäude, auf den Campus, der mich ein Jahr meines Lebens begleitet hatte, der für ein Jahr lang zu meinem zu Hause geworden war. Dann drehte ich mich um und lief mit Paul und Marvin in Richtung des Wohnheims und ließ die Dokkyo-Universität, meine Universität, hinter mir zurück.

Sonntag, 26. Juli 2009

Mein letzter Schultag

Es war schon ein seltsames Gefühl als ich heute das letzte Mal im Unterricht saß. Zwei Semester lang hatte ich die Schulbank an der Dokkyo-Universität gedrückt, zwei Semester lang war ich jeden Morgen den Weg zum Unterricht gegangen, zwei Semester lang hatte ich mich an dieser Universität heimisch gefühlt. Doch heute war mein letzter regulärer Schultag. Noch einmal würde ich zu meiner Abschlussprüfung den Campus betreten, dann wären meine Tage an der Dokkyo-Universität gezählt. Und so kam war es fast schon ein wenig nostalgisch, als ich am Morgen die große Halle der Universität betrat, wie jeden Morgen die Stufen bis in den fünften Stock erklomm und wie gewohnt als einer der Ersten im Lehrraum Platz nahm.
Es war meine letzte Mittagspause an der Dokkyo-Universität und so wollte ich nicht alleine in der Mensa sitzen, nicht einsam in den Supermarkt gehen, um dann im Lehrraum zu essen, nein, ich wollte mit der Person zu Mittag essen, mit der ich in den vergangenen zwei Semestern die meiste Zeit an der Dokkyo-Universität verbracht hatte: Lee. So oft hatten wir uns in der Mensa getroffen, waren in den Supermarkt gegangen, hatten zusammen im Klassenraum gesessen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit war mit ihr auch meine letzte Mittagspause zu verbringen. Folglich trafen wir uns nach dem Vormittagsunterricht auf dem Campus und verbrachten meine letzte Mittagspause zusammen mit Lees thailändischer Freundin Vitano auf einer Bank im Schatten der Bäume.
Es war geradezu so als wollte die Atmosphäre um uns meine letzte Mittagspause unterstreichen, denn es war angenehm warm, nicht zu heiß, nicht zu schwül, es wehte ein sanfter Wind und nicht unweit von uns entfernt fand eine Tanzaufführung statt. Und so lauschten wir zu dritt der Musik, schauten den Tänzern zu und jeder aß sein Bento-Set ("Ein Gericht für jeden Tag"). Und immer wieder unterhielten wir uns nebenbei auf Japanisch, schwelgten in Erinnerungen und kommentierten den schönen Tag.


Bild1: Lee und ich bei meinem letzten Mittagessen an der Dokkyo-Universität. Wir wollten eigentlich cool posen, aber leider kann das keiner von uns so wirklich.


Bild2: Lee und ihre thailändische Freundin Vitano. Ich habe Vitano zwar nicht oft erwähnt, aber wir haben im vergangenen Semester doch gut ein dutzend Mittagspausen miteinander verbracht.


Irgendwann kam ein Trupp von Unibediensteten an unseren Tisch gelaufen und fragte uns vorsichtig, ob sie uns zugunsten des uniinternen Datenmaterials filmen und fotografieren dürften. Zwar war es ein wenig überraschend und wir waren nicht wirklich auf ein Fotoshooting vorbereitet, doch wir sagten zu. Warum auch nicht. Und so kam ein Mann mit einer klobigen Kamera auf uns zu, stellte sich neben uns an den Tisch und begann uns zu filmen und fotografieren, während wir aßen und uns unterhielten.
"Seien sie ganz natürlich. So als wären wir gar nicht da."
Das war leichter gesagt als getan, wenn jemand mit einer Kamera in der Hand am Tisch stand und jede Bewegung filmte ("Unterricht wie immer"), doch wir drei nahmen es mit Humor, grinsten über die ungewohnte Situation, scherzten wenn einem von uns vor laufender Kamera etwas von den Essstäbchen fiel und fingen an zu lachen, als eine Böe kam und beinahe unser gesamtes Essen hinfortgeweht hätte. Und so war meine letzte Mittagspause wohl eine der unterhaltsamsten, die ich hier an der Dokkyo-Universität innerhalb des vergangenen Jahres hatte.
Es war ein wenig Ironie des Schicksals, dass ich am Nachmittag meine letzte Unterrichtsstunde ausgerechnet bei Frau Sakatani hatte, war sie doch die Lehrerin, die auch meine erste Unterrichtsstunde vor knapp zehn Monaten gehalten hatte ("Mein erster Schultag"). War es wirklich schon fast ein Jahr her, dass Frau Sakatani in den Raum gestürzt war und während der Begrüßung beinahe ihre eigene Tasche vom Lehrerpult geworfen hätte? Es kam mir in dieser Stunde so vor, als wäre es erst vor wenigen Wochen gewesen und doch hatte ich paradoxerweise das Gefühl Frau Sakatani schon immer zu kennen. Zehn Monate lang hatte mich ihr Unterricht begleitet, zehn Monate lang war sie eine meiner Lieblingslehrerinnen an der Dokkyo-Universität gewesen ("Frau Sakatani blüht auf").
Es war meine letzte Unterrichtsstunde nach einem Jahr und dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an die Verabschiedung, an die letzten Worte, die Frau Sakatani an den Sprachkurs richten würde ("Erinnerungen an Frau Hara"). Und ich muss sagen, dass ich nicht enttäuscht wurde, im Gegenteil, ich hätte sogar beinahe eine Träne vergossen, als Frau Sakatani in den letzten fünf Minuten eine flammende Rede hielt. Sie gratulierte uns obligatorisch zum Abschließen des Semesters, zum Meistern des Oberkurses und wünschte uns Glück für die anstehende Abschlussprüfung. All dies hatte ich auch erwartet und so überraschte es mich ein wenig, als Frau Sakatani weitersprach.
"Letzte Woche haben wir über Träume gesprochen ("Nette Japaner") und ich wünsche Ihnen allen von ganzem Herzen, dass sie an ihren Träumen festhalten, dass sie für sie kämpfen, dass sie alles geben und ihre Träume eines Tages wahr werden. Werden Sie Profifußballer, gründen Sie ihre eigene Firma, schwimmen Sie eines Tages im Geld oder werden Sie ein erfolgreicher Übersetzer. Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie glücklich werden mit dem, was Sie machen. Und ich hoffe inständig, dass sie alle etwas aus ihrer Zeit hier in Japan, aus ihrer Zeit an dieser Universität mitnehmen werden. Es ist eine so kostbare Zeit ihre Lebens, die sie hier verbringen, es sind so wichtige Erfahrungen die sie hier erwerben, es sind so große Chancen, die sich Ihnen allen in der Zeit hier eröffnet haben. Nehmen Sie alles mit! Alle Erinnerungen, alle Erfahrungen! Versprechen Sie mir das! Halten Sie fest an ihren Erinnerungen hier und blicken Sie nach vorne. Und ich bin mir sicher, dass Sie alles schaffe werden, was Sie in Zukunft anpacken werden."
Mit diesen Worten verabschiedete uns Frau Sakatani aus unserer letzten Unterrichtsstunde.
Um einige letzte Angelegenheiten an der Dokkyo-Universität zu erledigen, trafen sich Jessica, Dan, Lee und ich nach dem Unterricht im Zentrum für internationale Angelegenheiten. Was mir in Erinnerung blieb war aber nicht mein Gespräch mit den Mitarbeitern dort, sondern die Kleidung von Dan und Lee, denn beide trugen ein grellpinkes T-Shirt mit dem Logo der Dokkyo-Universität.
"Wo habt ihr denn die T-Shirts her?"
"Die kann man hier auf dem Campus kaufen. Es gibt ein Reisebüro, dort werden sie angeboten."
Für einige Zeit dachte ich nach. In Deutschland wäre ich nie auf die Idee gekommen mir ein T-Shirt von meiner Universität zu kaufen, einerseits weil ich gar nicht wüsste, ob es soetwas überhaupt gibt, andererseits weil ich nicht wirklich stolz war ein Teil der Universität Marburg zu sein. Doch nach einem Jahr hier in Japan war die Dokkyo-Universität zu meiner Universität geworden. Ich fühlte mich ihr verbunden, ich fühlte mich hier heimisch und bedauerte es sie zu verlassen. Und so entschied ich mich als Andenken an all meine Lehrer, an all meine Kommilitonen und an all meine Freunde hier an der Dokkyo-Universität ein T-Shirt mit dem Dokkyo-Logo zu kaufen. Und während Dan und Jessica zurück zum Wohnheim liefen, ging ich mit Lee in das uniinterne Reisebüro und kaufte mir zwei T-Shirts der Dokkyo-Universität. Noch auf dem Campus zog ich mir mein Andenken an und lief stolz im Partnerlook mit Lee zurück zum Wohnheim. Dort klingelten wir an die Tür von Dan und ließen uns zu dritt im Partnerlook fotografieren.


Bild3: Lee, Dan und ich mit dem gleichen grellpinken T-Shirt der Dokkyo-Universität. Jeder von uns dreien war stolz dort ein Student gewesen zu sein. (Danke an Lee für das Bild)


Bild4: Mein zweites Dokkyo-T-Shirt. Diesmal nicht in grellem Pink, sondern in Dunkelblau mit roter Schrift. (Danke an Milena für das Bild)


Und so ging für mich die Unterrichtszeit an der Dokkyo-Universität zu Ende. Es war eine schöne Zeit, nicht immer leicht, aber doch lehrreich und unterhaltsam. Ich werde sie in Ehren halten. Ebenso all die Lehrer, die ich in den vergangenen zwei Semestern kennenlernen durfte, die mich alle auf ihre ganz persönliche Weise erfreuten oder in den Wahnsinn trieben. Ich werde sie nicht vergessen:

Frau Ezoe, die etwas langweilige Lehrerin, die immer stur dem Lehrbuch folgte und den Satz "Wardasjetztverständlichjadaswarverständlich." zu ihrem Markenzeichen machte.
Frau Fukuda, die gestrenge, fordernde Lehrerin aus dem ersten Semester, die mir nach meiner hervorragenden Präsentation plötzlich unerwarteten Respekt zollte.
Frau Hara, die junge Lehrerin, die gerne auch einmal über das Lehrbuch herzog und uns in ihrer letzten Unterrichtsstunde mit ihrer Schwangerschaft überraschte.
Herr Ikuta, der einzig männliche Lehrer, der mich mit seinem langweiligen Unterricht zu Beginn des Semesters in den Wahnsinn trieb, mir gegen Ende der Vorlesungszeit aber doch ans Herz wuchs.
Frau Kitamura, die Lehrerin mit dem meisten Lehrpotential, die bei mir zu Beginn des Semesters noch Angstschweiß verursachte, durch ihren informativen und strukturierten Unterricht letztlich aber zu einer meiner Lieblingslehrerinnen wurde.
Frau Nakanishi, die Lehrerin mit dem perfekten Lächeln und autoritären Auftreten, die es liebte uns Prüfungen schreiben zu lassen und unser Können gerne mal überschätzte.
Frau Nomura, die alte Dame, die uns so gerne einen Einblick in die japanische Kultur und das Alltagsleben gab und immer bemüht war jedem jederzeit Hilfestellungen zu geben.
Frau Sakatani, die motivierte und doch etwas schusselige Lehrerin, die gerne Mal etwas durcheinander warf oder vergaß, letztlich aber doch wie keine andere Lehrerin einen Draht zu uns jungen Studenten fand.
Frau Takeda, die ältere Lehrerin mit der Energie einer Zwanzigjährigen, die es wie keine andere Lehrerin verstand den Unterricht zu einer Show zu machen. Sie erzählte so viele Anekdoten und verteilte so viele Süßigkeiten, wie alle anderen Lehrer zusammen.