Als ich noch klein war, nahm mich mein Vater einmal zu einem richtigen Fußballspiel mit. Eintracht Frankfurt gegen Mönchen Gladbach. Zwar habe ich mir in Erinnerung behalten, dass Eintracht Frankfurt null zu drei verlor, an das eigentlich Geschehen auf dem Rasen kann ich mich aber nicht erinnern. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern auch nur ein einziges Mal einen Blick auf den Rasen geworfen zu haben, denn ich war viel mehr damit beschäftigt auf der Tribüne zu sitzen und nicht zu erfrieren, denn es war bitterkalt. Und so hatte mein Vater wohl auch keinen großen Nutzen von den Karten, die er für uns gekauft hatte, und verbrachte die Zeit damit mich in dicke Decken einzupacken und mit einem warmen Hotdog zu füttern, die überall verkauft wurden.
Mittlerweile liegt dieses Erlebnis rund fünfzehn Jahre zurück, ist aber bis heute eine der wenigen Erinnerungen, die ich habe, wenn ich an Fußball denke. Ich konnte mich nie sonderlich für den Sport mit dem runden Leder begeistern, habe gelegentlich bei meinem Vater zugeschaut, wenn dieser vor dem Fernseher auf dem Sofa lag, habe manchmal die Finalspiele der Weltmeisterschaft geschaut, weil jeder die Spiele schaute, bin sonst aber nie selbstständig mit Fußball in Kontakt gekommen. Entsprechend dünn ist folglich auch mein Fachwissen über den Sport und ich muss zugeben, dass ich bei den Fussball-Spezialausgaben diverser Quizsendungen bereits bei den ersten Fragen hätte gehen müssen. Als Deutscher scheint man aber in der Verpflichtung zu stehen, sich über seinen Nationalsport auszukennen, denn offensichtlich gehört dieser zu unserer Kultur, wie Bier, klassische Literatur und Schlager. Und so kam es, dass ich heute im Konversationsunterricht von Herrn Ikuta das Thema Fußball zugewiesen bekam, ich war ja schließlich Deutscher. An sich war es nicht schwer die wenigen Fragen im Buch zu beantworten, denn die Grundregeln des Spieles kannte ich natürlich. Ich wusste wie lange man spielte, wie viele Spieler auf dem Feld waren, wie man punktete und welche Bedingungen man erfüllen musste, um zu gewinnen. Unangenehm wurde es erst, als wir uns in Zweiergruppen zusammenfinden sollten, um unserem Gesprächspartner unsere Sportart zu erläutern. Wie zu erwarten wurde ich Ma zugeteilt, der sich zu meiner Überraschung auch mit Fußball auseinandersetzen musste.
"Ich habe keine Ahnung von Fussball."
"Ich auch nicht."
Damit hatten wir eigentlich schon alles gesagt und Ma kopierte meine Antworten zu den Fragen in sein Lehrbuch. Und damit wir wenigstens ein wenig ins Gespräch kamen, fragte ich Ma zu Sport in China aus.
"Habt ihr eurem Konversationspartner schon eure Sportart erklärt?"
Herr Ikuta baute sich neben uns auf und schaute neugierig auf unsere leeren Blätter.
"Wir haben beide die gleiche Sportart. Fußball."
"Oh, na dann, dann redet einfach über Fußball, was ihr mögt, was euch an dem Sport fasziniert."
Ma und ich schauten uns an, schauten auf unser leeres Blatt und letztlich wieder zu Herrn Ikuta.
"Wir haben kein sehr großes Interesse an Fußball. Eigentlich gar keins. Können sie uns nicht etwas erzählen?"
"Ich, äh, ich interessiere mich auch nicht sehr für Fußball. Also gar nicht."
Mit diesen Worten nahm Herr Ikuta auf dem Tisch neben uns Platz. Und so saßen wir zu dritt da, stellten fest, dass niemand Interesse an Fußball hatte, und schwiegen uns eine Weile lang an. Letztlich gab Herr Ikuta uns die Aufgabe irgendetwas über Fußball aufzuschreiben, egal was. Und so sprach ich eine Weile lang mit Ma und notierte mir letztlich auf meinem Zettel, dass David Beckham ein populärer britischer, Michael Ballack ein populärer deutscher Fußballspieler war, vor ein paar Jahren die Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea ausgetragen wurde und in China Tischtennis beliebt war. Es war einfach nicht mein Thema. Und das obwohl ich Deutscher war.
In der zweiten Stunde hatten wir dann Unterricht. Und ich meine richtigen Unterricht. Denn normalerweise sind die Stunden bei Herrn Ikuta verschwendete Zeit, die man sich eigentlich sparen könnte ("Von Prinzipien, Bürden und der Suche nach sich selbst"). Heute hielt er seinen Unterricht allerdings nach Lehrbuch, geradezu beispielhaft. Satz für Satz ging er mit uns durch den Lektionstext, erklärte idiomatische Ausdrücke und drang mit uns in den Lektionstext ein, wie kaum ein Lehrer vor ihm. Natürlich ab es für diesen scheinheiligen Unterricht einen Grund, und der saß genau hinter mir: Eine junge Referendarin. Sie war der Grund, weshalb sich Herr Ikuta von seiner besten Seite zeigen wollte, eine Seite, die er uns noch nie zuvor gezeigt hatte. Ob die junge Dame ihm seine Show abkaufte? Ich weiß es nicht, aber zumindest hatten wir Studenten einmal einen nahezu perfekten Unterricht bei Herrn Ikuta. Wer hätte das wohl gedacht?
"Wir wollen in die Sushibar auf der anderen Seite der Straße gehen. Kommst du mit?"
Paul und Milena standen in der Tür und schauten mich fragend an. Einen Moment dachte ich nach, dann sagte ich zu.
"Was? Du kommst echt mit?"
"Oh, war das nur eine höfliche Frage, die ich hätte verneinen müssen?"
"Nein, schon okay. Wir dachten nur, nun ja, weil du ja sonst nie mitkommst..."
Irgendwie hatten beide Seiten recht. Dieses Semester hatten mich Marvin, Paul und Milena wirklich oft eingeladen an ihren Unternehmungen teilzunehmen. Sie hatten mich gefragt, ob ich zu ihren Partys kommen, mit ihnen abends um die Häuser ziehen oder ob ich nicht mit ihnen zusammen einen Wochenendausflug machen würde. Jedes Mal war ich wirklich gerührt und doch sagte ich immer ab. Ich trank keinen Alkohol, mochte keine verrauchten Clubs und hatte eine Abneigung gegen größere Menschenaufläufe. Und immer wenn sie mich einluden, war mindestens einer dieser Faktoren inbegriffen, der mich dazu veranlasste dankend abzusagen. Und so war es schon fast zu einem Ritual geworden, dass Paul und Marvin mich einluden und ich mit einem "Vielen Dank, ich werde darüber nachdenken." antwortete, was in der Regel auf ein "Nein, danke." hinauslief. Vor allem Paul machte sich immer ein wenig über mich lustig, wusste er doch, dass ich letztlich ohnehin nie kam. Und so hatten sich ihre Einladungen in den letzten Monaten von ernsten Angeboten zu obligatorischen Fragen, die man aus Nettigkeit stellt, um den anderen nicht bewusst auszugrenzen, gewandelt. Dementsprechend überrascht war Paul auch, als ich seine möglicherweise gar nicht so ernst gemeinte Frage bejahte und nur um wenige Minuten zum Fertigmachen bat. Warum ich letztlich zusagte? Nun, ich wollte auch einmal zu der kleinen Gruppe von Deutschen gehören, die immer eingeschworen alles gemeinsam unternahm. Und außerdem war ich froh, einmal zu einer Aktivität eingeladen zu werden, bei der es weder Alkohol, noch Raucher, noch große Menschenläufe gab. Und so konnte ich gar nicht nein sagen.
Zu fünft saßen wir stumm an einem Tisch, während das Essen an einem Fließband an uns vorbeifuhr. Lachs, Garnele, Sepia, Ei, Meeresfrüchte, Mais, so waren die Reisbällchen belegt, die auf den kleinen Tellern an uns vorüberzogen.
"Ihr geht hier öfter Essen?"
Ich brach die Stille und schaute fragend um mich. Milena starrte auf das Band mit den Tellern, während mein Mitbewohner Yosuke mit dem kleinen feuchten Tuch herumspielte, das jeder von uns bekommen hatte, um sich vor dem Essen die Hände zu säubern.
"Yosuke frisst sich hier jeden Abend voll. Der frisst nichts anderes."
Yosuke blickte auf und starrte Paul böse an, der sich mit verschränkten Armen zurücklehnte. Nach einer kurzen Pause begann Yosuke dann zu erläutern, warum es ungesund wäre sich nur von Sushi zu ernähren.
"Hör, hör, der Schlaumeier lässt uns wieder an seiner Weisheit teilhaben."
Marvin unterbrach Yosuke mitten im Satz und schnaufte höhnisch in Yosukes Richtung. Der hatte sich so weit von den anderen weggelehnt, dass er schon fast von der Sitzbank fiel. Ich blickte mich ein wenig unsicher um und schaute letztlich zu Milena, die Marvin sanft am Arm packte.
"Lass gut sein."
"Willst du mir etwa den Mund verbieten? Paul reißt auch ständig seine Fresse auf und da sagst du nichts."
Er schüttelte ihre Hand ab und saß wieder still auf seinem Platz. Milena verdrehte ein wenig die Augen und starrte wieder auf das Fließband, auf dem die Sushi vorbeiliefen. Und dann herrschte wieder Stille.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mir die Runde der Deutschen ein wenig freudvoller vorgestellt hatte. Da sie so oft zusammen ausgingen und Partys feierten, hatte ich angenommen, dass alle vier dicke Freunde wären, doch was ich an diesem Abend sah, war ein Haufen Individuen, die sich kabbelten und ärgerten wie Kleinkinder. War das ganze Bild von der freudvollen Runde von Deutschen nur Schein? Zumindest an diesem Abend war ich ein wenig schockiert von dem, was ich erlebte, und notierte mir einen neuen Grund auf meiner Liste, warum ich mit den anderen nur ungern ausgehen wollte: Weil es keine gute Atmosphäre gab. Ob es wohl viele dieser scheinbaren Gemeinschaften gab, die nach außen harmonisch schienen, innerlich aber uneins waren? Ich dachte an mich und mir fiel auf, dass ich wohl eher das gegenteilige Problem hatte: Ich wirkte nach außen isoliert und abweisend und war doch recht offen und herzlich. Heute Abend hatte ich erlebt, dass es wohl auch umgekehrt ging: Nach außen kumpelhaft und befreundet und doch jeder für sich alleine. Und ein wenig war ich froh, dass ich hier in Japan echte Freunde gefunden hatte, keine oberflächlichen Bekanntschaften, keine aufgezwungenen Beziehungen, nein, wirkliche Freunde.
Bild1: Paul in der Sushibar. Rechts kann man das Fließband erahnen, auf dem die Teller mit den Sushi vorbeifuhren. Den grünen Tee gibt es übrigens kostenlos und man kann sich so viel nachfüllen, wie man möchte. (Vielen Dank an Milena für das Foto)
Im Anschluss an das Essen ging ich wieder mit Milena spazieren. Mittlerweile ist es eine kleine Tradition geworden abends zu zweit durch die leeren Gassen und Straßen zu wandern, um die Umgebung zu erkunden. Und so streunten wir wieder einmal fast zwei Stunden lang durch das nächtliche Soka, vorbei an Flussläufen, Schreien, Tempeln, dunklen Parkanlagen, entlang der Hauptverkehrsstraßen, der bunten Reklame, den geschlossenen Läden, bis ihn in die düsteren und ausgestorbenen Gewerbegebiete. Und auch wenn es es kaum Dinge sind, die es wert sind zu erwähnen, so gibt es doch so vieles Interesantes zu sehen, wenn man nur hinsieht. Denn Soka bei Nacht ist gar nicht so ausgestorben und leer, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Bild2: Soka bei Nacht. Irgendwo durch die leeren Pfade, jenseits der Straßen, jenseits der elektrischen Lichter streunte ich mit Milena über unbenutzte Parkplätze, hindurch zwischen Vorgärten, vorbei an stillen Parkanlagen und machte gelegentlich ein Bild.
Bild3: Es war die erste Kakerlake, die ich jemals gesehen hatte. Sie krabbelte eilig über die beleuchtete Straße eines Wohngebietes und Milena und ich liefen gebückt, mit der Kamera im Anschlag, hinterher.
Bild4: In der Dunkelheit erhob sich der riesige Golfplatz wie ein leuchtendes Monstrum. Mit Milena stand ich hinter dem Netz und beobachtete eine Weile lang wie die Kunden einen Golfball nach dem anderen ins Nichts schlugen. Es war geradezu hypnotisch dem rhythmischen Geräusch der Aufschläge zu lauschen.
2 Kommentare:
Die Story klingt aber auch wieder böse...
Sagen wir mal, wir waren an dem Abend nicht alle in bester Stimmung.
Ich kann nur über das Schreiben, was ich persönlich wahrnehme.
Sicher haben die andere den Abend ganz anders aufgefasst und bewertet und das ist auch gut so. Wäre ja schade, wenn alle immer nur das Gleiche denken würden. Und ich weiß ja, dass Marvin, Paul und Yosuke nicht immer griesgrämig und gereizt sind, aber an diesem Abend waren sie es, darum steht es hier geschrieben.
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