Samstag, 31. Januar 2009

Fehlende Zeilen

Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Frau Sakatani: Wie sie verspätet im Unterrichtsraum erschien, hektisch zum Lehrerpult eilte, beinahe ihre eigene Tasche auf den Boden warf und hastig durch einen Wust von losen Blättern und Büchern wühlte und endlich das gesuchte Lehrbuch hervorzog. Und obwohl Frau Sakatani im Laufe des Semesters zu einer meiner Lieblingslehrerinnen geworden war, hatte sie diese chaotische Art nie verloren, nicht einmal heute, an ihrem letzten Unterrichtstag.
Es ist Tag 117 und an der Dokkyo-Universität hat nach der zweiwöchigen Winterpause der Unterricht wieder begonnen. Dennoch ist der Campus merklich leerer geworden. Vielleicht hat bei vielen Studenten die Unterrichtszeit bereits geendet, so wie bei mir. Denn ich bin heute auch nur wegen des letzten Minitest des Semesters in die Universität gelaufen, um wie immer pünktlich um Neun Uhr auf meinem Platz zu sitzen. Wie gewohnt war ich einer der Ersten und wie gewohnt war unsere Lehrerin Frau Sakatani eine der Letzten. Etwas außer Atem kam sie in den Raum gestürmt und hielt in ihren Händen ein Bündel Minitests für die kommenden neunzig Minuten. Während sie durch den Raum eilte und jedem hastig einen Zettel in die Hand drückte, erklärte sie uns, dass wegen Personalmangels heute keine Aushilfe zur Verfügung stehe, was im Klartext hieß: Während Frau Sakatani in einem anderen Raum die Konversationsprüfung abhielt, war keine Aufsichtsperson da, die uns daran hindern konnte die gesamte Klausur von unserem Sitznachbarn abzuschreiben. Während Frau Sakatani mit Rehaugen in die Runde schaute und uns bat doch bitte nur auf den eigenen Test zu schauen, rieben sich die Kursmitglieder unter dem Tisch bereits die Hände.
Kaum fünf Minuten nachdem Frau Sakatani den Raum verlassen hatte, begannen die Chinesen Ryou und Riku begannen leise zu tuscheln und ihre Aufgaben vergleichen. Und so dauerte es nicht lange, bis schließlich fast jeder seine Lösungen mit einem anderen verglich oder im Lehrbuch nachblätterte. Nach einiger Zeit diskutierte ich schließlich auch einige knifflige Aufgaben mit Katharina, was allerdings relativ fruchtlos blieb, weil wir ohnehin beide exakt die gleichen Antworten ausgewählt hatten. Und so hätten wir uns unser unlauteres Abgleichen auch sparen können. Viel mehr Bedenken hatte ich ohnehin immer wegen der mündlichen Prüfungen, bei denen es stets auf das korrekte Auswendiglernen eines vorgegebenen Dialogs ankam. Und hier brachte mir die fehlende Aufsichtsperson herzlich wenig, weshalb ich letzten Endes aufgeregt wie immer den Unterrichtsraum verließ, als ich an der Reihe war.
Frau Sakatani saß am Ende des weitläufigen Flures an einem Tisch und hatte all ihre Unterlagen vor sich ausgebreitet. Als ich kam, nahm sie sich einen Bewertungszettel, schrieb säuberlich meinen Namen darauf und bat mich einen von drei verdeckten Dialogen zu ziehen. Ich wählte einen aus, zeigte ihn vor und bereitete mich auf meinen Part des Dialoges vor. Als sie mir das Zeichen gab, begann ich den ersten Satz von Person A vorzutragen. Sie sagte den Satz von Person B und ich wieder A. Und so hätte der Dialog dann bis zum Ende weiterlaufen müssen, hätte sich Frau Sakatani den Dialog nicht falsch gemerkt. Denn an einem Punkt sagte sie plötzlich nichts und schaute mich nur erwartungsvoll an. Ich schaute ebenso erwartungsvoll zurück und Frau Sakatani begann sich Notizen auf ihrem Bewertungsbogen zu machen, was stets ein schlechtes Zeichen ist. Da der Dialog bereits seit einigen Sekunden in einer unnatürlich langen Stille hing und Frau Sakatani sich wohl zu weigern schien jenen Satz zu sagen, der nun von ihr verlangt worden war, ignorierte ich einfach ihren Part und sagte meinen nächsten Satz auf. Da dies inhaltlich nun aber vollkommen sinnlos war (Ich bedankte mich für eine Auskunft, die mir Frau Sakatani nie gegeben hatte), begann Frau Sakatani sofort sich weitere Bemerkungen auf meinem Bewertungsbogen zu notieren.
Nachdem der verpatzte Dialog beendet war, wollte ich dies nicht alles auf mir sitzen lassen, schließlich war es nicht meine Schuld, dass der Dialog so in die Hose gegangen war. Also entschuldigte ich mich bei Frau Sakatani dafür, dass ich einen Fehler im Dialog begannen hätte und bat sie darum den gesamten Dialog noch ein weiteres Mal durchzusprechen. Daraufhin schaute sie etwas verwirrt, nickte aber. Und so spulten beide den gleichen Dialog ein weiteres mal ab, bis wieder der kritische Punkt erreicht war. Diesmal schaute ich aber übertrieben auffällig auf Frau Sakatanis Textblatt, das vor ihr auf dem Tisch lag. Und als sie verwirrt einen Blick darauf warf, stutzte sie kurz, kniff die Augen zusammen und sagte schließlich jene Textzeile, die sie wohl immer vergessen hatte. Und so klappte der Dialog dieses Mal einwandfrei und ich lehnte mich zufrieden in meinem Stuhl zurück. 
Ähnliche Probleme gab es beim zweiten Dialog. Hier sollten wir auf eine feste Reihe von Fragen eigene Antworten erstellen, sodass sich ein sinnvoller Dialog ergeben würde. Als wir mit dem Dialog begannen, fiel mir aber gleich zu Beginn auf, dass Frau Sakatani eine Frage, nämlich die allererste Frage, ausgelassen hatte. Das brachte mich natürlich erst einmal vollkommen aus dem Konzept, doch ich fing mich und begann einfach meinen Dialog ab der zweiten Frage abzuspulen. Und so stolperte ich durch die Konversation, ohne dass ich sie hinterher ein weiteres Mal auf ihre vergessene Zeile hinwies.
Nachdem Katharina und ich am Ende des Unterrichts schließlich als Letzte unsere Klausuren abgegeben hatten, liefen wir wild diskutierend nach Hause und machten unserem Ärger über die verwirrende Konversationsprüfung Luft, Katharina hatte nämlich genau das Gleiche erlebt wie ich. Für einen Weile überlegten wir, ob Frau Sakatani möglicherweise mit Absicht einige Änderungen in den Dialogen eingebaut hatte, um uns in die Irre zu führen, doch diese Idee verwarfen wir sogleich wieder. Frau Sakatani ist und bleibt einfach Frau Sakatani: Eine etwas konfuse aber doch nette Sprachlehrerin.

Da kommt was auf mich zu

Nach meiner ereignisreichen Zeit zwischen den Jahren und zu Beginn des neuen Jahres, wachte ich eines Morgens auf und stellte erschrocken fest, dass meine Abschlussprüfungen für das Unisemester, nicht einmal mehr eine Woche entfernt war. Ich war so beschäftigt mit den Weihnachtsfeiertagen und dem Jahreswechsel gewesen, dass ich kaum bemerkt hatte, wie schnell die Zeit verflogen war. Und so verbrachte ich die kommenden Tage weitgehend ereignislos in meiner Wohnung und lernte.
Schön chronologisch blätterte ich durch mein Lernbuch und wiederholte Lektion für Lektion, schrieb mir Schriftzeichen heraus, die ich nicht sicher beherrschte, machte mir Notizen zu grammatischen Formen, die ich schon wieder vergessen hatte, und wiederholte die Texte, die wir im Kurs in den letzten Wochen so intensiv bearbeitet hatten. Und zu allem machte ich mir dann eigene kleine Minitests, mit denen ich mich kurz vor der Abschlussprüfung selbst noch einmal überprüfen wollte. Letzten Endes saß ich also inmitten eines Haufens von Blättern, Büchern und Stiften, aus dem irgendwo mein Laptop hervorragte. Mein Lernplan wäre ohne Probleme aufgegangen, da ich bis zur Semesterabschlussprüfung mehr als genug Zeit gehabt hätte alle zwanzig Lektionen des vergangenen Semesters zu wiederholen, doch leider gab es ein winziges Problem, das meine ganze Planung durcheinander brachte: Bereits zwei Tage vor der Abschlussprüfung fand der letzte Minitest statt, in dem noch einmal die letzten zwei Lektionen des Buches abgefragt wurden. Uns dieser Test führte dazu, dass ich vor einer Entscheidung stand: Entweder ich zog das Lernen der beiden letzten Lektionen vor, was eigentlich ein wenig unsinnig war, da alle Lektionen aufeinander aufbauten, oder ich musste die Wiederholung des Lernstoffs um zwei Tage stauchen, damit ich mit dem gesamten Buch bereits vor dem Minitest fertig sein würde. Letztlich entschied ich mich für die zweite Möglichkeit und hetzte somit in etwa vier Tagen durch den Lernstoff eines gesamten Semesters. Glücklicherweise hatte ich bereits unter dem Semester immer eifrig mitgearbeitet und auch schon kurz nach den Weihnachtsfeiertagen die ersten Lektionen des Buches wiederholt, weshalb es sich dann doch recht gut bewerkstelligen ließ.
Da wegen der Feiertage zu Beginn des Jahres die Läden geschlossen hatten, war ich dazu gezwungen am ersten Werktag im neuen Jahr einen gesamten Nachmittag nur mit einkaufen zu verbringen und quer durch Soka zu allen mir bekannten Supermärkten zu rennen, um meine Vorräte aufzustocken und ein paar Fertiggerichte für die kommenden Tage zu hamstern. Als ich wieder im Wohnheim angekommen war und gewohnheitsmäßig meinen Briefkasten überprüfte, war ich überrascht, dass tatsächlich einmal ein Brief für mich darin zu finden war. In der Regel war mein Briefkaste nämlich immer nur mit Werbeblättchen gefüllt, die einem geradezu entgegenquollen, wenn man den Briefkasten zwei Tage nicht geleert hatte. Der Brief war von meiner Großtante aus Deutschland und freute mich so sehr, dass er seitdem seinen festen Platz in meiner kleinen Freiluftvitrine oberhalb meines Schreibtisches gefunden hat.


Bild1: Ein Brief von meiner Großtante aus Deutschland.


Einen Tag bevor die Uni wieder startete und mein Minitest stattfand, hörte ich abends Geräusche an der Wohnungstür. War ich erst für einen kurzen Moment verwundert, wer sich dort wohl zu schaffen machen würde, wurde mir selbst klar, dass es niemand anderes als Yosuke sein konnte, der wieder zurückkehrte, nachdem er über die Feiertage eine Freundin in Kyoto besucht hatte. Da natürlich auch er ab morgen wieder Unterricht hatte, hätte es mir eigentlich klar sein sollen, dass er spätestens an diesem Abend hätte zurückkommen müssen. Obwohl ich mich schon ein wenig daran gewöhnt hatte die Wohnung nur für mich allein zu haben, freute ich mich, dass Yosuke wieder da war und endlich wieder ein wenig Leben in der Wohnung herrschte. Und so begrüßte ich ihn herzlich und wir unterhielten uns eine Weile lang darüber wie wir die Feiertage verbracht hatten, bevor ich mich wieder in mein Zimmer zurückzog, um mich auf den Test am nächsten Tag vorzubereiten.
Später am Abend wurde ich von Tak kontaktiert, der ebenso wie ich mit Unikram beschäftigt war, da der Abgabetermin seiner letzten Arbeiten bevorstand. Nachdem wir uns darüber ausgetauscht hatten, wie wir den Jahreswechsel verbracht hatten, lud er mich, Katharina und Lee zu Nobukos Geburtstagsfeier am Ende der Woche ein. Freudig sagte ich ihm zu, schließlich schien mir ein entspannter Abend mit Freunden nach den anstehenden Klausuren genau das Richtige zu sein. Und als ich dann spät abends im Bett lag, nachdem ich noch einmal alles für den morgigen Tag wiederholt hatte, dachte ich daran, wie es sich wohl anfühlen würde auf Nobukos Geburtstag zu sitzen, da zu jenem Zeitpunkt die stetig näherrollende Semesterabschlussklausur endlich der Vergangenheit angehören würde.

Donnerstag, 29. Januar 2009

Von Kaiserhäusern und Kunstgalerien

Es ist Tag 112 in Japan und gemeinsam mit Katharina und Lee bin ich heute nach Tokyo gefahren, um im kaiserlichen Palastgarten spazieren zu gehen. Dieser ist nämlich nur genau zwei Tage im Jahr für die breite Öffentlichkeit zugänglich, am ersten und am zweiten Januar, weshalb wir uns die Möglichkeit nicht nehmen ließen, einmal über heiligen Boden zu wandeln und vielleicht sogar einen Blick auf den Kaiserpalast zu werfen.
Da wir nicht genau wussten, wann der kaiserliche Palastgarten geöffnet hatte und ob man möglicherweise lange Zeit anstehen musste, fuhren wir sicherheitshalber schon vormittags gegen elf Uhr in Soka los, um auf jeden Fall ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben und nicht vor verschlossenen Toren zu stehen. Der Kaiserpalast befindet sich in Tokyo, was zunächst einmal ziemlich nichtsagend klingt, da Tokyo riesengroß ist. Wie sich herausstellte hieß, allerdings der Bahnhof, an dem wir aussteigen mussten "Tokyo", was zu einigen Verwirrungen im Vorfeld führte:

David: Wo müssen wir hinfahren?
Katharina: Nach Tokyo.
David: Ja, aber wo?
Katharina: Ja, nach "Tokyo".
David: Ja. Aber WO?

Nachdem wir einige Male umgestiegen waren, erreichten wir schließlich den Bahnhof "Tokyo" und überlegten in welche Richtung wir wohl laufen müssten, um zum Kaiserpalast zu gelangen. Da aber fast alle Menschen um uns herum in die gleiche Richtung strömten, ließen wir uns einfach mitreißen und erreichten nach rund zehn Minuten den riesigen Wassergraben, der das Palastgelände umkreist. Der Masse an Menschen folgend, liefen wir gemächlich die Straße entlang, die über den Graben und durch ein kleines Wäldchen führte, und bekamen von einigen Freiwilligen Japanflaggen in die Hand gedrückt, mit denen wir etwas unglücklich wedelnd weiterliefen. Nach einigen Minuten lichtete sich das Wäldchen und wir erreichten einen gigantischen Schotterplatz, auf dem vereinzelt Polizisten standen und neugierig alle Passanten mussterten. War es mir anfangs etwas unangenehm von allen Seiten betrachtet zu werden, gewöhnte ich mich doch recht schnell an die vielen Sicherheitskräfte, deren Anzahl mit dem Voranschreiten stetig zunahm. Der breite Weg, dem wir folgten, wurde durch die näherrückenden Abgrenzungen zu beiden Seiten allmählich geschmälert, bis schließlich die gesamte Menschenmasse zu einer sich gemächlich voranschiebenden Wurst zusammengepresst wurde, die sich nur bei zwei Kontrollen nochmals auffächerte. Bei der ersten Kontrollstation wurden Gepäckstücke untersucht, während bei der zweiten Kontrollstation der Körper nach möglichen Waffen abgetastet wurde. Im Vergleich zur ruppigen Körperkontrolle am Frankfurter Flughafen, war das Abtasten aber keineswegs unangenehm, weshalb ich alles über mich ergehen ließ und schließlich weiterging, während sich der Kontrolleur für die Unannehmlichkeiten entschuldigte.


Bild1: Viele Menschen laufen über das weite Schotterfeld vor dem Kaiserpalast.


Bild2: Katharina und Lee laufen mit ihren Japanflaggen in der Masse mit.


Nach der zweiten Kontrolle erreichten wir drei schließlich das Eingangstor des Palastgartens, an dem zwei Torwachen standen und natürlich Unmengen von Polizisten und kaiserlichen Gardisten nach dem Rechten sahen. Und so durchschritten Katharina, Lee und ich das Tor und liefen ein wenig durch die kaiserliche Gärten. Hatte ich anfangs gedacht, dass der Tag wie ein Spaziergang über die Landesgartenschau ausfallen würde, war ich nun doch ein wenig enttäuscht, da man eigentlich nur mit den restlichen Menschen vorangeschoben wurde und höchstens ein paar Bilder im Vorbeigehen knipsen konnte. Blieb nämlich jemand zu lange an einer Stelle stehen, um ein schönes Motiv in Ruhe zu fotografieren, kamen sofort Bedienstete angelaufen und baten den Betreffenden doch bitte weiterzugehen, um das Voranschreiten der anderen nicht zu behindern. Glücklicherweise schien die Sonne weshalb der Großteil meiner Fotos, die ich im Vorbeigehen schoss, gelang. Nachdem wir ein kurzes Stück gelaufen waren, standen auf einer erhöhten Brücke, von der aus wir einerseits einen Blick auf den Kaiserpalast, andererseits auf die Menschenmassen, die noch hinter uns waren, werfen konnten. Die Bediensteten hatten alle Hände voll zu tun, da überall Japaner stehen blieben, um das Panorama zu fotografieren.


Bild3: Hinter einer kleinen Brücke befand sich das Tor, das wir durchschritten, um in den Palastgarten zu kommen.


Bild4: Von der kleinen Brücke vor dem Eingangstor aus konnte man einen Blick auf die zweite Brücke werfen, über die wir einige Minuten später laufen würden. Dahinter sieht man bereits den Kaiserpalast.


Bild5: Ein etwas verwackeltes Bild von einem der Torwächter in seiner schicken Uniform.


Bild6: Ein Blick zurück auf die Menschenmassen, die direkt hinter uns liefen. Man sieht im Hintergrund das Eingangstor, durch welches wir den Palastgarten betreten haben.


Bild7: Ein Blick auf den Kaiserpalast. Davor einer der unzähligen Sicherheitsbeamten, die zu diesem Zeitpunkt bereits alle fünf Meter neben den Absperrungen standen.


Bild8: Die zweite Brücke.


Bild9: Ein Bild von den kunstvollen Laternen im kaiserlichen Palastgarten.


Bild10: Von der zweiten Brücke aus konnte man einen Blick auf Tokyo werfen. Viele Leute blieben stehen, um mit ihren Kameras und Fotohandys Bilder zu schießen.


Bild11: Warf man einen Blick nach unten, konnte man die Menschenschlange sehen, die gerade dabei war das erste Tor zu passieren.


Nachdem wir durch das zweite Tor am Ende der Brücke geschritten waren, erreichten wir wieder einen großen Platz direkt vor dem kaiserlichen Palast, auf dem sich haufenweise Polizisten und Uniformierte tummelten. Gemeinsam mit den anderen Menschen sammelten wir uns auf dem großen Platz und allmählich dämmerte mir, dass wir nicht nur einen Blick auf den Kaiserpalast und den kaiserlichen Palastgarten werfen würden, sondern vermutlich auf den Tenno (die korrekte Bezeichnung für den japanischen Kaiser) selbst. Und tatsächlich: Nach knapp einer Viertelstunde betrat die japanische Kaiserfamilie unter tobendem Applaus aller Anwesenden einen verglasten Balkon des Palastes. Wie wild knipste ich Bilder mit meiner Kamera, so überrascht war ich plötzlich die höchste Person Japans in dreißig Meter Entfernung von mir stehen zu sehen. Und dann begann der Kaiser mit seiner Neujahrsansprache, der alle andächtig lauschten. Obwohl der Tenno klar und deutlich redete, verstand ich nicht alles, dennoch zeichnete ich alles mit meiner Kamera auf, um mir seine etwa einminütige Ansprache zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in Ruhe anhören zu können. Nachdem der Tenno verstummte, jubelte die Menge erneut und wedelte mit ihren Japanflaggen. Winkend und lächelnd stand die Kaiserfamilie noch für eine Weile auf dem Balkon, bevor sie sich in das Hauptgebäude zurückzog. Und selbst als sich die Menschenmenge schon längst aufgelöst hatte und alle durch den kaiserlichen Palastgarten zurück zum Schotterplatz liefen, redete ich noch begeistert von diesem Erlebnis und konnte gar nicht glauben, dass ich soeben wahrhaftig den Tenno gesehen hatte.


Bild12: Ein Blick auf den Flügel des Kaiserpalastes, vor dem sich die Menschen versammelten.


Bild13: Überall waren Uniformierte präsent, die alles koordinierten. Trotz der Gegenwart dieser zahlreichen Ordnungskräfte fühlte ich mich nicht eingeschüchtert oder bedrängt.



Film1: Ein Blick auf die Menschenmenge vor dem Kaiserpalast.


Bild14: Die Kaiserfamilie zeigt sich dem Publikum.



Film2: Der Tenno hält seine Neujahrsansprache, die an das japanische Volk gerichtet ist.


Bild15: Nach der Rede winken die Mitglieder des japanischen Kaiserhaus noch eine Weile lang in die Menge, während alle Anwesenden mit ihren Japanflaggen wedeln.


Bild16: Ein Blick in die jubelnde Menge. Ein wenig neidisch bin ich schon gewesen, dass Japan ein Kaiserhaus hat, dem man zujubeln kann.


Als wir auf einem breiten Weg den Hügel vom Kaiserpalast hinabliefen, kamen wir an eine Gabelung, an der wir uns entscheiden konnten entweder sofort zum Schotterplatz zu laufen oder eine kleinen Rundgang durch den kaiserlichen Palastgarten zu unternehmen. Selbstverständlich nutzten wir die Gelegenheit durch den zugegebenermaßen recht unspektakulären Garten zu laufen. Ich fotografierte alles, was mit vor die Kamera kam, wenn ich mir auch nie sicher war, ob ich gerade ein bedeutendes japanisches Gebäude, oder vielleicht einfach nur eine schön aussehende Gartenhütte fotografierte. Und so verließen wir nach knapp einer Viertelstunde die kaiserlichen Palastgärten und standen irgendwo mitten in Tokyo.


Bild17: Die Menschenmassen, die vom Kaiserpalast kamen, teilten sich in zwei Gruppen auf. Im Hintergrund sieht man ein Gebäude in traditionell japanischer Architektur, das zum Palastgelände gehört, vor der Kulisse Tokyos.


Bild18: Ein Blick hinauf zum Kaiserpalast, da ich einfach zu fasziniert war von den Menschenmassen.


Bild19: Katharina und Lee vor der Kulisse eines großen Gebäudes, das bestimmt sehr wichtig war. Zumindest war es abgesperrt und von einer Vielzahl von Sicherheitsbeamten umgeben.


Bild20: Lee und ich auf dem Gelände des Kaiserpalastes. Eigentlich wollten wie ein Bild von den zahlreichen Uniformierten im Hintergrund machen.


Bild21: Vielleicht ein Gartenpavillon? Ich weiß es nicht.


Bild22: Gemeinsam mit vielen anderen Interessierten liefen wir im Sonnenschein durch die kaiserlichen Palastgärten.


Bild23: Ein Blick in eine Seitenstraße, die nicht zugänglich war.


Bild24: Die Gärten waren auf der rechten Seite gesäumt von einem großen Wall, neben dem ein Kanal verlief, der im Moment aber trocken lag.


Bild25: Auf dem Palastgelände gibt es sogar einen kleinen See.


Da Katharina, Lee und ich erst einmal nicht wissen, wo wir hingehen sollten, folgten wir der Menschenmenge und erreichten eine große Parkanlage in unmittelbarer Nähe des Palastgeländes. Da das Wetter schön war und wir auf keinen Fall bereits zurück nach Soka fahren wollten, unternahmen wir einen ausgedehnten Spaziergang durch den weitläufigen Marukou-Park.


Bild26: Impressionen aus dem Marukou-Park, in dessen Mitte sich ein kleiner See befand.


Bild27: Ein Blick vom Rand des Marukou-Parkes aus auf Tokyo.


Bild28: Da wir abseits der Hautwege über die kleineren Schleichwege liefen, hatte unser Spaziergang manchmal Züge einer Trekkingtour durch die Wildnis.


Bild29: Obwohl es Anfang Januar war, ließ es sich in den warmen Sonnenstrahlen wohl gut dösen, wie dieser Japaner beweist.


Bild30: Das kennt man bereits aus Soka: Alte Steine mit Einkerbungen am Wegesrand.



Film3: Badende Raben im Marukou-Park. Natürlich haben sie kaum gebadet, als ich erst einmal die Kamera auf sie gerichtet hatte.


Nachdem wir den Marukou-Park verlassen hatten, orientierten wir uns an einer Übersichtskarte darüber, wie wir zum naheliegensten Bahnhof gelangen würden. Nachdem wir eine recht bequeme Route über eine Promenade entlang eines Kanals gefunden hatten, liefen wir im Sonnenschein durch Tokyo, bis unser Blick auf ein großes Gebäude zu unserer Linken fiel. Es war das japanische Nationalmuseum für moderne Kunst, welches ausgerechnet heute freien Eintritt hatte. Nachdem wir ein paar zufriedene Blicke ausgetauscht hatten, liefen wir auf das Gebäude zu, wurden am Eingang nett empfangen und eingeladen uns die Ausstellung im fünften und vierten Stockwerk anzuschauen. Und so verbrachten wir fast zwei Stunden im Nationalmuseum und betrachteten Skulpturen, Zeichnungen, Fotographien und Gemälde aus der japanischen Moderne. Bedauerlicherweise durfte man im Museum nicht fotografieren, weshalb ich keine Erinnerungsfotos von einigen durchaus interessanten Kunstobjekten machen konnte. Nach den fast zwei Stunden waren wir so erschöpft, dass wir uns in einen ruhigen Gang setzten und uns einige digitalisierte Entspannungsbilder ansahen. Wie kann man sich das vorstellen? Nun, es ist eigentlich wie ein Landschaftsgemälde, das sich ein wenig bewegt, da sich beispielsweise Blätter oder Blüten im Vordergrund leicht im Wind wiegen, Autos im Hintergrund vorbeifahren oder sich die Wasseroberfläche eines Sees bewegt. Um all dies ein wenig anschaulicher zu gestalten habe ich trotz des Verbotes heimlich Aufnahmen von einigen digitalisierten Bildern gemacht. Nachdem wir das Museum beim Einsetzen der Dämmerung verlassen hatten, liefen wir zum nächsten Bahnhof und fuhren nach einem langen aber aufregenden Tag zurück nach Soka.


Bild31: Das japanische Nationalmuseum für Moderne Kunst.



Film4: Ein digitalisiertes Bild von Lichtern einer Stadtkulisse, die sich im Wasser spiegeln.



Film5: Ein digitalisiertes Bild von Blättern, die sich vor der Ansicht des Fuji leicht im Wind wiegen, sowie Seerosen, die ruhig auf einem See schaukeln.


Bild32: Nach einem langen Tag kommen Lee, Katharina und ich in der Haltestelle Ootemachi an und fahren erschöpft aber glücklich zurück nach Soka.

Dienstag, 27. Januar 2009

Ein neuer Tag



Film1: So beginnt das Jahr 2009 in Japan. Vielen Dank an Ninja für das Video.


Schreiende Menschen, fliegende Luftballons, das Blitzen von Fotoapparaten. Das sind die ersten Impressionen, die ich vom neuen Jahr hatte, während ich den Sucher meines Fotoapparates über die Menschenmassen und den Nachthimmel schweifen ließ. Nachdem das letzte bisschen Speicherplatz meines Fotoapparates gefüllt war, beendete sich das Video von selbst und ich startete das neue Jahr traditionell mit Glückwünschen und Umarmungen. In Japan beginnt nun erst der eigentlich Feiertag, shougatsu, der bis einschließlich dritten Januar andauert. Anders als bei uns im Westen begrüßt man das neue Jahr nicht mit einem Feuerwerk, sondern geht stattdessen innerhalb der ersten drei Tage des neuen Jahres zu einem Tempel oder Schrein. Dieser erste Tempel- oder Schreinbesuch im neue Jahr heißt hatsumoude und ich wurde hautnah Zeuge davon, denn es dauerte keine Minute, bis sich die gesamte Menschenmenge in Bewegung setzt und sich unaufhaltsam in Richtung des Hauptgebäudes des Zoujou-Tempels schob. Um uns herum wuselten junge Japaner, die ihre Freundinnen hinter sich herzogen, junge Familien, die ihre Kinder auf den Schultern trugen und Senioren, die sich durch die Massen kämpften und jedem böse Blicke zuwarfen, der sie anrempelte. Trotz meiner Größe wurde ich einige Male fast umgeworfen und hatte Schwierigkeiten nicht den Anschluss an América, Leonel und Ninja zu verlieren, die sich erst einmal in die entgegengesetzte Richtung der Massen bewegten, nämlich zum Haupttor. Denn mehr Möglichkeiten hatte man nicht: Zum Hauptgebäude oder zum Haupttor. Dort angekommen verschnauften wir erst einmal und diskutierten unser weiteres Vorgehen. Da viele der Tempelaktivitäten erst jetzt begonnen hatten, beschlossen wir die kommende Zeit noch ein wenig über das Tempelgelände zu laufen, wenn auch nicht unbedingt in Richtung des überquellenden Hauptgebäudes.
Und so machten sich Ninja, América und ich daran erst einmal mochi zu kaufen, die Klebreisbällchen, die in Japan traditionellen zu Neujahr gegessen werden. Fast eine halbe Stunde standen wir in der langen Schlange und warteten darauf, dass die Produktion von mochi der großen Nachfrage nachkommt. Schließlich stellten wir uns zu dritt mit jeweils einem Plastikschälchen irgendwo abseits der Ständen auf einen Platz, und ließen es uns schmecken. Und das Warten hatte sich wirklich ausgezahlt. Während wir so dastanden und genossen, beobachte ich einen Priester, der ganz in der Nähe für eine kleine Spende Japaner segnete, die zu ihren Gottheiten beteten. Was sich nun sehr andächtig anhören mag, ist eigentlich ziemlich amüsant, da die meisten Japaner gar nicht genau wussten, was sie zu tun hatten. Ich vermute, dass es ähnlich wie in Deutschland ist, wo viele Menschen nur einmal im Jahr zu Weihnachten in die Kirche gehen und darum nicht sehr vertraut mit den Sitten und Gebräuchen sind. Ebenso waren viele Japaner verunsichert wie sie sich zu verhalten hatten und schauten ein wenig nervös auf das, was ihre Vorgänger machten, um es dann in mehr oder weniger abgewandelter Form nachzumachen. Aus dem Religionsunterricht in Marburg weiß ich, dass man sich nach einer obligatorischen Geldspende zunächst zweimal verbeugt, daraufhin zweimal klatscht und dann betet. Während des Betens wird man vom Priester gesegnet, bis man das Ritual mit einer letzten einfachen Verbeugung beendet. In der Realität warfen viele Japaner allerdings alles wild durcheinander: Sie verbeugten sich einmal, klatschten dann etwas unsicher, schauten sich um und nickten noch einmal kurz bevor sie das Weite suchten oder sie begannen ihr Ritual selbstbewusst, indem sie erst einmal zweimal laut in die Hände klatschten und sich erst danach zweimal verbeugten, um dann ohne weitere Verbeugung, Segnung und Gebet erhoben Hauptes davon zu schreiten. Und so schaute ich eine Weile lang amüsiert mit Ninja zu, ehe wir weiter durch das Tempelgelände streiften, uns an großen Feuern wärmten und die neue Beleuchtung des Tokyo-Towers bestaunten.


Bild1: Nach dem Jahreswechsel hatte natürlich niemand mehr Interesse an der Uhr, die Countdown für 2009 gezählt hat. Dennoch haben Ninja und ich uns mit der "Null" fotografieren lassen.


Bild2: mochi, eine traditionelle Neujahrsspeise in Japan. Die Linken waren in einem Pulver gewälzt, das ein wenig wie gemahlene Erdnüsse schmeckte, die Rechten waren mit roten Bohnen (süß) zubereitet worden.


Bild3: Pünktlich zum Jahreswechsel erstrahlte der Tokyo-Tower in neuem Licht. Eine große 2009 verkündete den Beginn des neuen Jahres.


Gegen halb Zwei treffen wir wieder auf América und Leonel und gemeinsam verließen wir das Tempelgelände. Auf dem Weg zum Bahnhof gabelten wir die beiden Deutschen, mit denen wir die letzte Stunde des vergangen Jahres verbracht hatten wieder auf und trafen auf eine kleine Gruppe von Deutschen und Spaniern, die sich uns auch anschlossen, da wir ihnen versprochen hatten zu zeigen wie man die Bahn in Japan benutzten würde. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich in Gegenwart der Fremden, von denen einige ein wenig zu laut gröhlten, und etwas seltsame Ansichten über Japan hatten, ein wenig unbehaglich fühlte. Darum lief ich mit Ninja ein wenig voraus und hoffte die anderen bald wieder los zu sein. Wegen Neujahr verkehrten an den Bahnhöfen die Bahnlinien die gesamte Nacht, weshalb es keine Schwierigkeiten gab mit den anderen im Schlepptau zwei Stationen bis nach Roppongi zu fahren, wo ich knapp zwei Wochen zuvor wegen der Weihnachtsbeleuchtung gewesen war (Lichtermeer). Warum fuhren wir nach Roppongi? Nun, weil Roppongi die Partymeile in Tokyo ist, zumindest für Ausländer. Als wir gegen zwei Uhr bei eisiger Kälte durch die überfüllten Straßen liefen, fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat, hatte ich nicht Neujahr mit Ninja, América und Leonel verbringen wollen? Stattdessen lief ich mit einem halben dutzend Deutscher und Spanier vorbei an angetrunkenen Ausländern, überfüllten Nachtclubs und Werbeträgern, die uns alle drei Meter anhielten, doch in ihre Bar zu kommen. Während sich die anderen Deutschen gar nicht sattsehen konnten an dem Vergnügungsangebot, das Spass und Party bis in die Morgenstunden versprach, blickten Leonel, América, Ninja und ich eher ungläubig auf die Eingänge zu schummrigen Clubs mit dubiosen Türstehern. Und da sich unsere große Gruppe nicht auf eine gemeinsam Aktivität einigen konnte, teilten wir uns in drei Gruppen auf: Die kleinere Gruppe von Spaniern und Deutschen zog in den nächsten Nachtclub ein, die beiden Deutschen, die wir beim Countdown kennengelernt hatten, setzen wir in einer ruhigeren Bar ab und América, Ninja, Leonel und ich fanden in einem ruhigen Café einen Tisch, um uns endlich ein wenig zu entspannen.
Aus drei Gründen war ich glücklich: Zunächst einmal, weil ich endlich all die anderen Deutschen und Spanier losgeworden war, die teilweise zwar recht freundlich, teilweise aber auch unausstehlich gewesen waren. Darüber hinaus war ich überglücklich in einem Café gelandet zu sein, wo man keinen Alkohol trank, was für mich als Anti-Alkoholiker weitaus komfortabler war, als in einer verrauchten kleinen Kneipe zu sitzen, in der die Partygäste einer nach dem anderen umkippen. Und zu guter letzt genoss ich es endlich an einem warmen Platz zu sitzen und nicht länger mit abgefrorenen Zehen und Fingern durch die eisige Nacht zu spazieren. Nachdem wir uns ein wenig aufgewärmt hatten, holte sich jeder von uns einen Kaffee und ein Stück Kuchen und mit einem guten Gespräch verbrachten wir die kommenden Stunden. Normalerweise bin ich niemand, der an Neujahr lange aufbleibt, aber seltsamerweise bin ich diese Nacht kaum müde geworden. Es scheint einen Punkt zu geben, den man überschreitet, um danach nicht mehr müde zu sein. Wann ich diesen Punkt überschritten habe, weiß ich nicht. Vielleicht hing meine Munterkeit auch mit dem Kaffee, mit dem guten Gespräch oder einfach damit zusammen, dass überall um mich herum muntere Leute saßen, die sich bei Kaffee und Kuchen unterhielten. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, wie ich völlig vergaß, dass es vier Uhr nachts war, da die Atmosphäre eher auf vier Uhr nachmittags schließen lies. Nur ein Blick aus dem Fenster, hinaus in die rabenschwarze Nacht, holte mich immer wieder in die Realität zurück.


Bild4: América, Ninja, ich und Leonel sitzen nachts in einem Café in Roppongi, einem Bezirk Tokyos, trinken Kaffee und essen Kuchen.


Erst gegen halb Sechs, also nach etwa drei Stunden, verließen wir das Café und schritten wieder hinaus in die eisige Nacht. Und was wir auf dem Weg zum naheliegenden Bahnhof sahen, schockierte mich: Zerbrochene Flaschen, Erbrochenes und Betrunkene überall auf den Straßen. Und inmitten dieses Chaos waren kaum Japaner. Neunzig Prozent derjenigen, die gröhlten, besoffen durch die Gegend torkelten, sich prügelten oder sich am nächsten Laternenpfahl übergaben, waren offensichtlich Ausländer. Und bei den restlichen Zehn Prozent war ich mir nicht einmal sicher, ob es nicht vielleicht Koreaner und Chinesen waren. Und irgendwie war es mir plötzlich peinlich ein Ausländer in Japan zu sein, zu jener Minderheit zu gehören, die randalierte, alles verdreckte, Leute anpöbelte und ihrer Umgebung keinerlei Beachtung zollte. Es ist nicht so, dass ich nicht auch schon betrunkene Japaner, oder randalierende japanische Jugendliche gesehen hätte, aber was sich mir an Neujahr in den Straßen Roppongis bot, gehörte zu den schlimmsten menschlichen Abgründen, die ich jemals gesehen hatte. Ich kann mich nicht einmal an ein vergleichbares Szenario in Deutschland erinnern. Und das Auffälligste war dies: Es waren fast ausschließlich Ausländer. Ich hatte mehrmals von anderen gehört, dass in Japan ein wenig das Vorurteil herrschte, dass vorallem westliche Ausländer grob, peinlich, ungepflegt und vor allem anstandslos seien. Als ich durch die Straßen lief, vorbei an Erbrochenem, Urinlachen, Bewusstlosen, die im Rinnstein lagen oder sich auf Müllsäcken ausgestreckt hatten, Betrunkenen, die sich prügelten, anschrieen oder einfach nur laut gröhlend Flaschen durch die Gegend warfen, wurde mir klar wie solche Vorurteile, möglicherweise sogar ein wenig gerechtfertigt, entstanden. Und so liefen wir zu viert durch das nächtliche Roppongi zum Bahnhof und waren für diesen Moment wohl der einzige Beweis auf den Straßen Roppongis, der zeigte, dass es auch andere Ausländer in Japan gab.
Am Bahnhof von Ropponi trennten sich dann schließlich gegen kurz nach Sechs Uhr morgens unsere Wege. Ich wollte allmählich zurück nach Soka fahren, während América, Leonel und Ninja noch diverse Schreine und Tempel besuchen wollten. Und so machten wir in der Bahnstation von Roppongi ein letztes gemeinsames Foto, bevor ich durch die Ticketschranke lief und in der Menschenmasse verschwand.


Bild5: Ich, Ninja, Leonel und América am Bahnhof von Roppongi. Die Uhr im Hintergrund zeigt 6:04 Uhr an.


Alleine saß ich am Gleis und wartete auf meinen Zug, der direkt bis nach Soka fahren sollte. Um mich herum hingen einige ausgelaugte Ausländer und ein paar Japaner, die mit gerümpfter Nase versuchten Abstand zu den oftmals sturzbetrunkenen Ausländern zu halten. Ich beobachtete die Szenerie und hörte mit meinem MP3-Player Musik, wie ich es mir jedes Jahr zu Neujahr angewöhnt hatte, seitdem ich meinen MP3-Player vor einigen Jahren von meinem Vater geschenkt bekommen habe. Und zu Hintergrundmusik ließ ich die Nacht in Gedanken Revue passieren. Im Nachhinein war es mir gar nicht aufgefallen, dass es kein Feuerwerk gegeben hatte, dennoch hatte ich schon seit Stunden den gleichen Satz im Kopf: "Mein Vater müsste den Japanern mal zeigen, wie man ein richtiges Feuerwerk macht". Dieses Neujahr war einmal ganz anders gewesen, aber doch aufregend und schön. Dann fuhr der Zug ein und ich setzte mich ruhig auf einen freien Platz und fuhr in Richtung Soka. Und nachdem ich einige Zeit mit dem Zug quer durch das unterirdische Schienennetz Tokyos gerast war, erreichte der Zug schließlich die Erdoberfläche. Und in diesem Moment ging am Horizont die Sonne auf und ein neuer Tag begann.
Die ersten Sonnenstrahlen tastete sich über die Häuser Tokyos und durchdrangen die Scheiben des Waggons und schienen mir ins Gesicht. Der halbe Waggon lief ans Fenster und machte mit dem Fotohandy Bilder vom Sonnenaufgang am ersten Tag des neuen Jahres. Und mittendrin saß ich und war glücklich wie selten zuvor. Es lässt sich schwer beschreiben, aber nach dem ich die letzten Stunden größtenteils in Dunkelheit und Kälte verbracht hatte, erschien mir der Sonnenaufgang mit seiner Helligkeit und seiner Wärme wie ein Wunder. Ja, es war einer der schönsten Momente, den ich bisher hier in Japan erleben durfte. Und so fuhr ich mit Beginn des neuen Tages im Bahnhof von Soka ein, lief durch die lichtdurchfluteten Straßen bis zu meinem Wohnheim und kam in meiner Wohnung an. Es war nun bereits fast halb Acht Uhr morgens und nachdem ich mich geduscht hatte, schaute ich nach eMails. Und tatsächlich, ich hatte zwei eMails erhalten: Eine Glückwunschkarte zum neuen Jahr von Tak und eine eMail von meinem Vater. Danach saß ich noch bis kurz nach Acht Uhr an meinem Laptop und erlebte so auch gedanklich den Jahreswechsel in Deutschland mit. Und während in diesen Momenten in Deutschland ein neuer Tag, ein neues Jahr begann, ging mein Tag zu Ende und ich schlief fest ein.

Sonntag, 25. Januar 2009

Countdown

Silvester in Japan beginnt für mich erst einmal mit einem langen, faulen Morgen im Bett. Da ich es nicht gewohnt bin lange aufzubleiben, hielt ich es für klug möglichst lange zu schlafen, um am Abend möglichst fit zu sein. Und so vergeht der Großteil des Tages recht ereignislos. Erst gegen Abend beginne ich mir eine Brotdose mit Reis zu füllen und ein paar Snacks einzupacken, bevor ich mit Schal und Mütze hinaus in die Kälte gehe und in Richtung des Bahnhofs laufe. Soka scheint gar nicht anders als sonst zu sein. Die Straßen sind weder überfüllt noch ausgestorben und all die Supermärkte haben geöffnet, ganz gewöhnlich. Auch als ich am Bahnhof von Soka mein Ticket gelöst habe und in meinen Zug einsteige, um zum Bahnhof Akabanebashi zu fahren, fällt nicht auf, dass der Jahreswechsel nur wenige Stunden entfernt ist. Die Passagiere im Zug dösen vor sich hin, spielen Computerspiele, drücken auf ihren Mobiltelefonen herum oder blicken ausdruckslos vor sich hin. Als ich nach etwa einer Stunde Fahrt am recht beschaulichen Bahnhof Akabanebashi ankomme, wartet noch niemand auf mich, weshalb ich ein wenig umherwandere und schon einmal frische Luft am Ausgang des Bahnhofs schnappe. Wie zu erwarten ist es kalt und ungemütlich, schließlich ist fast Acht Uhr Abends mitten im Winter, darum denke ich darüber nach schnellstmöglich wieder in den Bahnhof zu gehen, als mein Blick auf eine Gruppe von Japanern fällt, die alle fasziniert mit ihren Mobiltelefonen Bilder von etwas machen, dass mir von einigen Häuserblocks verborgen bleibt. Also laufe ich schnell zu den Japanern und sehe auch den Grund für die Begeisterung: In unmittelbarer Nähe ragt der Tokyo-Tower, das Wahrzeichen Tokyos, in den Nachthimmel. Nach einigen Bildern husche ich geschwind wieder in den Bahnhof und warte noch einige Minuten, bis ich schließlich América, Ninja und Leonel, einen Freund Américas der aus Argentinien stammt, durch die Ticketkontrollen kommen sehe.


Bild1: Mein erster Blick auf den Tokyo-Tower aus der Nähe des Bahnhofs Akabanebashi.


Nach einer kurzen Begrüßung und dem Austauschen von verspäteten Weihnachtsgeschenken laufen wir vier wieder ins Freie und müssen uns erst einmal zurechtfinden. Doch glücklicherweise dauert es nicht lange, bis wir die richtige Straße gefunden haben und durchs nächtliche Tokyo in Richtung des Zoujou-Tempels laufen, an dem wir den Jahreswechsel verbringen wollen. In der Nähe es Tempels, macht es sich das erste Mal bemerkbar, dass heute keine normale Nacht ist, denn es häufen sich Begegnungen mit jungen Japanern und Ausländern, die offensichtlich das gleiche Ziel haben wie wir. Ganz in der Nähe des Tempels stehen vor einer einladenden Ansicht auf den Tokyo-Tower schließlich unzählige Grüppchen von Jugendlichen und Touristen, die gemeinsame Erinnerungsfotos schießen. Natürlich lassen auch América, Ninja, Leonel und ich uns fotografieren, bevor wir die letzte Strecke zum Zoujou-Tempel laufen und auf einer Art großem Festival angekommen sind.


Bild2: América, Leonel, Ninja und ich vor der Kulisse des hell erleuchteten Tokyo-Tower.


Eigentlich hatten wir erhofft einen Ballon zu erhaschen, um ihm mit unseren Wünschen zum Beginn des neue Jahres in den Himmel entlassen zu können, doch es sind bereits alle Ballons vergriffen. Im Nachhinein gesehen bin ich aber ganz glücklich die kommenden Stunden meine Hände in der Jackentasche stecken zu haben, als sie einen Ballon haltend der eisigen Kälte auszusetzen. Und da es noch über drei Stunden dauert, bis das neue Jahr beginnt, beginnen wir uns das weitläufige Tempelgelände anzuschauen. Den Großteil meiner Zeit bin ich mit Ninja unterwegs, bis wir nach etwa einer Stunde América wieder aufgabeln und schließlich auch Leonel. Und da man ohnehin schlecht in Worte fassen kann, was ich alles gesehen habe, lasse ich die Bilder sprechen, die Ninja, Leonel und ich in den letzten Stunden des schwindenden Jahres gemacht haben:


Bild3: Gleich neben dem Eingang finden wir uns vor einem kleineren Nebengebäude des Haupttempels wieder. Man kann jetzt bereits erahnen welche Menschenmassen sich auf dem Tempelgelände eingefunden hatten.


Bild4: Auf dem Vorplatz des Tempelgebäudes konnte man Räucherstäbchen anzünden und beten, wovon vor allem ältere Japaner regen Gebrauch gemacht haben.


Bild5: Vor dem Eingang des Tempels konnte man einen Gong läuten. Hiervon haben eher begeisterte junge Japaner Gebrauch gemacht.


Bild6: Abgesehen von Einkaufsständen gab es im Inneren des Schreines einen prunkvollen Altar. Sehr beeindruckend ist der Goldschmuck, der im Vordergrund von der Decke hängt.


Bild7: Ein Versuch etwas näher an den Altar zu zoomen. Vor dem Altar sieht man die aufgereihten weißen Sakeflaschen (japanischer Reiswein), die vermutlich eine Opfergabe für den Bodhisattva sind, dessen Statue man im Hintergrund erkennt.


Bild8: Der Eingang zu einem stilleren Teil des Tempelgeländes, auf dem keine Feierlichkeiten stattfanden. Die Schriftzeichen bedeuten nishimukai kanzeon (also "Kannon mit dem Namen Nishimukai"). Kannon ist ein bekannter weiblicher Boddhisattva. Hier eine knappe und stark vereinfachte Einführung in die buddhistischen Lehren: Das Ziel im Buddhismus ist es aus dem Wiedergeburtenkreislauf auszubrechen, indem man Erleuchtung findet und ins Nirvana eingeht. Wer dies geschafft hat, wird als "Buddha" bezeichnet. Wer dies noch nicht ganz geschafft hat, aber relativ kurz vor der Erleuchtung steht, versucht diesen letzten Schritt zu machen, indem er viele gute Taten vollbringt und andere Menschen selbstlos unterstützt. Diese "Halbgottheiten" werden als "Bodhisattva" bezeichnet. Sie dienen als Anlaufstelle für normale Gläubige, da sie Hilfe, Unterstützung und Rat geben. Und Kannon ist ein weiblicher Boddhisatvas, der in Japan an vielen Tempeln verehrt wird.


Bild9: Im stillen Bereich des Tempels sind hunderte, wenn nicht sogar tausende von kleinen Jizo-Statuen aufgestellt. Erkennen kann man sie an ihren charakteristischen roten Käppchen und Lätzchen. Jizo ist auch ein populärer Bodhisattva in Japan, dessen Aufgabe es ist sich um die Seelen verstorbener Kinder zu kümmern. Es ist somit anzunehmen, dass jede dieser Statuen von Jizo für ein abgetriebenes, in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder im Kindesalter verstorbenes Kind steht.


Bild10: Rein zufällig habe ich dieses Bild im Internet gefunden. Es ist der gleiche Blick auf die unzähligen Jizo-Statuen am Zoujou-Tempel, allerdings bei Tageslicht.



Bild11: Eine von vier größeren Statue im stillen Bereich des Tempelgeländes. Weder Ninja noch ich wussten wer hier dargestellt wird und warum diese Person eine Schäfchenmütze auf dem Kopf hatte.


Bild12: Erste Blicke auf das großen Hauptgebäude des Zoujou-Tempels. Der Platz davor ist abgesperrt, weil dort später ein großes Feuer angezündet werden wird.


Bild13: Etwas abseits konnten Freiwillige mochi herstellen. Dazu nimmt man Reis und schlägt solange auf ihn ein, bis ein klebriger, einheitlicher Teig entsteht, der dann zu mochi (japanische Klebreisbällchen) weiterverarbeitet wird. mochi sind ein typisches Neujahrsessen in Japan, weshalb wir planten nach dem Jahreswechsel noch einmal vorbeizuschauen, um uns frisch zubereitete mochi zu kaufen.


Bild14: Auf dem Tempelgelände stand eine kleine Hütte, die eine große Glocke beherbergte. Hier sollte auch der Hauptakt des Silvestercountdowns stattfinden.


Bild15: In der Kälte stehend machten wir Bilder von uns. Links sind Ninja und ich, rechts sind América und ich.


Bild16: Die Glocke befand sich in relativer Nähe des Haupteingangs des Zoujou-Tempels (Wir waren durch einen kleineren Nebeneingang auf das Tempelgelände gekommen), weshalb wir das Tempelgelände verließen, um Bilder von dem beeindruckenden Haupttor zu schießen. Die vier Schriftzeichen auf den weißen Tafeln über dem Eingang bedeuten kinga shin'nen, also "Ein glückliches neuen Jahr!"


Bild17: Direkt neben dem Eingangstor gab es eine Uhr, die Countdown zählte für den Jahreswechsel. Man konnte sich anstellen und mit der Uhr im Hintergrund fotografieren lassen. Das Foto von América, Ninja und mir wurde also etwa um 21.40 Uhr geschossen.


Bild18: Vom Haupttor aus gingen wir geradewegs auf das riesige Hauptgebäude des Tempels zu.


Bild19: Im Inneren des Tempels war es merklich wärmer, aber auch sehr still. Einige Japaner waren in Richtung des Altars gewandt und beteten. Insgesamt versuchte ich das Fotografieren auf ein Minimum zu beschränken, da ich es unangemessen fand Gläubige beim Gebet abzulichten. Ein Großteil des Inneren war abgesperrt, da in Kürze eine buddhistische Zeremonie stattfinden sollte. Auf dem Bild sieht man den reich verzierten Altar mit einer Abbildung Buddhas im Hintergrund.


Bild20: Durch die Tür schritten sechs buddhistische Mönche (in den grünen Gewändern), ein Priester (orangenes Gewand) und drei Gehilfen (violette Gewänder). Der Priester rezitierte diverse Texte, dessen Inhalt vermutlich kaum jemand im Raum verstand, während die Mönche ihn mit Klatschen und traditionellen Musikinstrumenten begleiteten.


Bild21: Leonel verlor recht schnell das Interesse und lief nach draußen und auch Ninja musste zur Toilette, weshalb América und ich alleine der über zwanzigminütigen Zeremonie folgten. Es war nicht unbedingt spannend und verstanden haben wir beide eigentlich nichts, aber es war doch ein sehr beeindruckendes Erlebnis.


Bild22: Beim Verlassen des Hauptgebäudes war es merklich voller geworden. Hier ein Blick vom Hauptgebäude über den Platz an dem die Anzeige für den Countdown angebracht ist (im Moment zeigt sie nur eine helle 2008 an) bis hinunter zum Haupttor, welches man nicht sehen kann, weil es zu dunkel ist. Interessanterweise hing neben dem Hauptgebäude eine kleine Uhr, die auch Countdown zählte (Auf dem Foto ist sie mit einem großen "FALSCH!" markiert), allerdings vierzig Minuten zu früh. Keiner von uns hat bis heute herausgefunden welchem Zweck dies diente.


Bild23: Gegen halb elf wurden um den Haupttempel herum mehrere große Fackeln angezündet.


Bild24: Mit Leonel im Schlepptau haben wir uns noch einmal angestellt, um ein Gruppenbild mit allen Vieren vor der Uhr zu machen.


Es ist noch eine Stunde bis zum Jahreswechsel und zu viert stehen wir auf dem Platz vor der Glocke, der sich zusehends mit Japanern und Touristen füllt. Mir ist kalt. Nicht einfach nur fröstelnd kalt, sondern richtig eiskalt. Ein wenig ärgere ich mich, dass ich mir nicht wenigstens zwei Paar Socken übereinander angezogen habe. Hektisch wackle ich mit den Füßen und hüpfe von einem Bein aufs andere. Nicht weil ich so aufgeregt wäre, sondern weil mir schlichtweg eiskalt ist. Und so kreist mein Denken weniger um den anstehenden Jahreswechsel in Japan, als vielmehr um meine abfrierenden Gliedmaßen. Aber jetzt noch einmal umherzulaufen, um sich aufzuwärmen ist nicht möglich, da der Platz mittlerweile fast komplett mit Menschen gefüllt ist und ständig noch mehr hinzuströmen. Würde ich jetzt meinen Platz verlassen, würde binnen kürzester Zeit jemand an meiner Stelle stehen. Darum wippe ich weiter auf meinen Füßen und unterhalte mich mit América, Leonel und Ninja. Frierend. Da América nicht so gut Englisch spricht, unterhalten wir uns mit ihr auf Deutsch, was ein wenig seltsam ist, da Leonel kaum Deutsch versteht. Darum schwenken wir für ihn wiederum ins Englische. Und wenn sich América mit ihm unterhalten möchte, spricht sie Spanisch. Und um es noch komplizierter zu machen, werfen wir alle hin und wieder ein wenig Japanisch ein und ich wechsle mit Leonel ein paar Sätze auf Französisch. So reden wir wild in fünf Sprachen durcheinander, bis zwei deutsche Touristen, die neben uns stehen, auf uns aufmerksam werden. Und so kommen wir in Gespräch mit den beiden jungen Männern, die über Neujahr Urlaub in Japan machen und sich selbst erst vor ein paar Tagen hier kennengelernt haben. Und so erzählen wir von unserem Studium, von unserem Austauschjahr, von Weihnachten und all den anderen Dingen, die wir bisher erlebt haben.
Der Platz, der anfangs nur voll war, ist nun übervoll und immer noch strömen neue Menschen hinzu und drängen sich in die Masse. Glücklicherweise haben wir alle einen recht guten Platz erwischt und wurden zufälligerweise relativ nah an die Hütte mit der Glocke gedrängt. Und so bekommen wir auch eine Ansprache des Priesters mit, der erst noch vor kurzem die buddhistische Zeremonie im Haupttempel durchgeführt hat. Verstehen kann ich nichts, aber um mich herum scheinen zumindest viele Japaner interessiert zuzuhören. Ein Blick in die Runde lässt mich tausende von Japanern und Ausländern erblicken, von denen viele die Luftballons in den Händen halten, die um Mitternacht in den Himmel losgelassen werden sollen. An diesen Luftballons sind Karten mit Wünschen für das kommende Jahr befestigt. Man merkt, dass allmählich alle nervös werden. Es sind vielleicht noch fünfzehn Minuten, bis das neue Jahr beginnt.


Bild25: Der Platz füllt sich mit Menschen. Glücklicherweise haben wir einen guten Platz gefunden und haben einen guten Blick auf die Anzeige für den Countdown.


Bild26: Der Priester hält kurz vor dem Jahreswechsel eine Ansprache. Leider ist das Bild verwackelt.


Bild27: Ein Blick in Richtung des Hauptgebäudes auf dem Tempelgelände verrät welche Menschenmassen sich mittlerweile am Zoujou-Tempel eingefunden haben. Die Anwesenden haben bereits ihre Luftballons griffbereit, um sie um Mitternacht fliegen zu lassen. 


Einen Vorteil hat das dichte Gedränge: Mir ist warm geworden. Und so stehe ich eingezwängt zwischen anderen und fühle mich wie ein Pinguin, der sich mit seinen Artgenossen zusammendrängt, um nicht zu frieren. Was geht mir in diesen letzten Minuten durch den Kopf? Nun es sind eigentlich hauptsächlich drei Dinge: Zunächst einmal denke ich an meinen Vater und all die Silvesterfeiern, die ich mit ihm verbracht habe. Ein wenig wünsche ich mir, er könnte hier sein und auch einmal ein ganz anderes Silvester erleben. Aber da es in Japan ja nicht einmal Feuerwerk gibt, wäre er vermutlich ziemlich enttäuscht. Lächelnd muss ich immer an einen Satz denken: "Papa müsste mal hierher kommen und den Japaner zeigen, wie man ein richtiges Feuerwerk macht". Als Zweites denke ich an meine Freundin Katrin in Marburg. Vor einem Jahr habe ich Silvester mit ihr verbracht und kann nicht fassen, dass seitdem schon wieder ein ganzes Jahr vergangen ist. Ob es ihr wohl ähnlich geht? Und die letzte Sache an die ich denke ist ein wenig konfus. Ich denke nämlich darüber nach ob ich in den letzten Minuten des neuen Jahres auch wirklich an alle Personen gedacht habe, an die ich denken wollte. Also rase ich in Gedanken durch Reihen von Namen. Seien es meine zahlreichen Freunde überall auf der Welt, meine Familie, die Familien von Freunden oder Verstorbene, derer ich gedenken wollte. Und während ich versuche nochmals an Jeden kurz zu denken, neigt sich das Jahr dem Ende zu. Es sind noch etwa drei Minuten bis zum Jahreswechsel. 
Die Menge ist angespannt und nervös. Man wechselt noch letzte scherzhafte Sätze, um die Spannung, die für jeden fühlbar in der Luft liegt, zu lockern. Und plötzlich geht es ganz schnell, denn das Licht geht aus. Nicht nur das Licht, das auf all die Menschen strahlt, die auf dem Tempelgelände stehen, nein sogar das Licht des Tokyo-Towers erlischt. Ein wenig flau wird mir nun doch im Magen. Nicht so schlimm als müsste ich gleich auf die Bühne vor ein Millionenpublikum, nein, viel schwächer, aber irgendwie fühlt man ein Kribbeln. Und was mir noch viel mehr bewusst wird: Man gehört dazu. Zu all den tausenden Menschen, die auf den Beginn des neuen Jahres warten. Gemeinsam. Und dann zeigt die Anzeige für den Countdown keine Minuten mehr an, sondern Sekunden und ich wundere mich selbst wie schnell plötzlich alles geht. Noch vor wenigen Stunden war der Jahreswechsel nicht mehr als ein Umblättern im Kalender, doch nun ist es ein Event, an dem man teilnimmt. Es sind weniger als dreißig Sekunden bis zum Jahreswechsel.


Bild28: Das Licht am Tokyo-Tower erlischt.


Hektisch schalte ich die Kamera an, um mit dem letzten bisschen Speicherplatz, das mir noch geblieben ist, die letzten Sekunden des alten Jahres aufzufangen. Aufgeregt suche ich im Dunklen die Video-Funktion, als alle um mich herum beginnen von zehn abwärts zu zählen. Ich murmele abwesend mit, halte die Kamera nach oben drücke auf den Startknopf, doch alles was passiert ist das Aufblitzen des Blitzlichtes für ein einzelnes Foto. Ich muss wohl aus Versehen im Menü etwas falsch ausgewählt haben. Es sind noch fünf Sekunden bis zum Jahreswechsel.


Bild29: Es sind noch fünf Sekunden bis zum Jahreswechsel.

Ich reiße die Kamera wieder nach unten. Es sind noch vier Sekunden.
Hektisch wähle ich die Videofunktion aus. Es sind noch drei Sekunden.
Das Laden der Kamera scheint ewig zu dauern. Es sind noch zwei Sekunden.
Die Kamera ist bereit und ich drücke auf Play. Es ist noch eine Sekunde.
Ich reiße die Kamera nach oben und schaue auf die Digitalanzeige...