Film1: So beginnt das Jahr 2009 in Japan. Vielen Dank an Ninja für das Video.
Schreiende Menschen, fliegende Luftballons, das Blitzen von Fotoapparaten. Das sind die ersten Impressionen, die ich vom neuen Jahr hatte, während ich den Sucher meines Fotoapparates über die Menschenmassen und den Nachthimmel schweifen ließ. Nachdem das letzte bisschen Speicherplatz meines Fotoapparates gefüllt war, beendete sich das Video von selbst und ich startete das neue Jahr traditionell mit Glückwünschen und Umarmungen. In Japan beginnt nun erst der eigentlich Feiertag, shougatsu, der bis einschließlich dritten Januar andauert. Anders als bei uns im Westen begrüßt man das neue Jahr nicht mit einem Feuerwerk, sondern geht stattdessen innerhalb der ersten drei Tage des neuen Jahres zu einem Tempel oder Schrein. Dieser erste Tempel- oder Schreinbesuch im neue Jahr heißt hatsumoude und ich wurde hautnah Zeuge davon, denn es dauerte keine Minute, bis sich die gesamte Menschenmenge in Bewegung setzt und sich unaufhaltsam in Richtung des Hauptgebäudes des Zoujou-Tempels schob. Um uns herum wuselten junge Japaner, die ihre Freundinnen hinter sich herzogen, junge Familien, die ihre Kinder auf den Schultern trugen und Senioren, die sich durch die Massen kämpften und jedem böse Blicke zuwarfen, der sie anrempelte. Trotz meiner Größe wurde ich einige Male fast umgeworfen und hatte Schwierigkeiten nicht den Anschluss an América, Leonel und Ninja zu verlieren, die sich erst einmal in die entgegengesetzte Richtung der Massen bewegten, nämlich zum Haupttor. Denn mehr Möglichkeiten hatte man nicht: Zum Hauptgebäude oder zum Haupttor. Dort angekommen verschnauften wir erst einmal und diskutierten unser weiteres Vorgehen. Da viele der Tempelaktivitäten erst jetzt begonnen hatten, beschlossen wir die kommende Zeit noch ein wenig über das Tempelgelände zu laufen, wenn auch nicht unbedingt in Richtung des überquellenden Hauptgebäudes.
Und so machten sich Ninja, América und ich daran erst einmal mochi zu kaufen, die Klebreisbällchen, die in Japan traditionellen zu Neujahr gegessen werden. Fast eine halbe Stunde standen wir in der langen Schlange und warteten darauf, dass die Produktion von mochi der großen Nachfrage nachkommt. Schließlich stellten wir uns zu dritt mit jeweils einem Plastikschälchen irgendwo abseits der Ständen auf einen Platz, und ließen es uns schmecken. Und das Warten hatte sich wirklich ausgezahlt. Während wir so dastanden und genossen, beobachte ich einen Priester, der ganz in der Nähe für eine kleine Spende Japaner segnete, die zu ihren Gottheiten beteten. Was sich nun sehr andächtig anhören mag, ist eigentlich ziemlich amüsant, da die meisten Japaner gar nicht genau wussten, was sie zu tun hatten. Ich vermute, dass es ähnlich wie in Deutschland ist, wo viele Menschen nur einmal im Jahr zu Weihnachten in die Kirche gehen und darum nicht sehr vertraut mit den Sitten und Gebräuchen sind. Ebenso waren viele Japaner verunsichert wie sie sich zu verhalten hatten und schauten ein wenig nervös auf das, was ihre Vorgänger machten, um es dann in mehr oder weniger abgewandelter Form nachzumachen. Aus dem Religionsunterricht in Marburg weiß ich, dass man sich nach einer obligatorischen Geldspende zunächst zweimal verbeugt, daraufhin zweimal klatscht und dann betet. Während des Betens wird man vom Priester gesegnet, bis man das Ritual mit einer letzten einfachen Verbeugung beendet. In der Realität warfen viele Japaner allerdings alles wild durcheinander: Sie verbeugten sich einmal, klatschten dann etwas unsicher, schauten sich um und nickten noch einmal kurz bevor sie das Weite suchten oder sie begannen ihr Ritual selbstbewusst, indem sie erst einmal zweimal laut in die Hände klatschten und sich erst danach zweimal verbeugten, um dann ohne weitere Verbeugung, Segnung und Gebet erhoben Hauptes davon zu schreiten. Und so schaute ich eine Weile lang amüsiert mit Ninja zu, ehe wir weiter durch das Tempelgelände streiften, uns an großen Feuern wärmten und die neue Beleuchtung des Tokyo-Towers bestaunten.

Bild1: Nach dem Jahreswechsel hatte natürlich niemand mehr Interesse an der Uhr, die Countdown für 2009 gezählt hat. Dennoch haben Ninja und ich uns mit der "Null" fotografieren lassen.

Bild2: mochi, eine traditionelle Neujahrsspeise in Japan. Die Linken waren in einem Pulver gewälzt, das ein wenig wie gemahlene Erdnüsse schmeckte, die Rechten waren mit roten Bohnen (süß) zubereitet worden.

Bild3: Pünktlich zum Jahreswechsel erstrahlte der Tokyo-Tower in neuem Licht. Eine große 2009 verkündete den Beginn des neuen Jahres.
Gegen halb Zwei treffen wir wieder auf América und Leonel und gemeinsam verließen wir das Tempelgelände. Auf dem Weg zum Bahnhof gabelten wir die beiden Deutschen, mit denen wir die letzte Stunde des vergangen Jahres verbracht hatten wieder auf und trafen auf eine kleine Gruppe von Deutschen und Spaniern, die sich uns auch anschlossen, da wir ihnen versprochen hatten zu zeigen wie man die Bahn in Japan benutzten würde. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich in Gegenwart der Fremden, von denen einige ein wenig zu laut gröhlten, und etwas seltsame Ansichten über Japan hatten, ein wenig unbehaglich fühlte. Darum lief ich mit Ninja ein wenig voraus und hoffte die anderen bald wieder los zu sein. Wegen Neujahr verkehrten an den Bahnhöfen die Bahnlinien die gesamte Nacht, weshalb es keine Schwierigkeiten gab mit den anderen im Schlepptau zwei Stationen bis nach Roppongi zu fahren, wo ich knapp zwei Wochen zuvor wegen der Weihnachtsbeleuchtung gewesen war (Lichtermeer). Warum fuhren wir nach Roppongi? Nun, weil Roppongi die Partymeile in Tokyo ist, zumindest für Ausländer. Als wir gegen zwei Uhr bei eisiger Kälte durch die überfüllten Straßen liefen, fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat, hatte ich nicht Neujahr mit Ninja, América und Leonel verbringen wollen? Stattdessen lief ich mit einem halben dutzend Deutscher und Spanier vorbei an angetrunkenen Ausländern, überfüllten Nachtclubs und Werbeträgern, die uns alle drei Meter anhielten, doch in ihre Bar zu kommen. Während sich die anderen Deutschen gar nicht sattsehen konnten an dem Vergnügungsangebot, das Spass und Party bis in die Morgenstunden versprach, blickten Leonel, América, Ninja und ich eher ungläubig auf die Eingänge zu schummrigen Clubs mit dubiosen Türstehern. Und da sich unsere große Gruppe nicht auf eine gemeinsam Aktivität einigen konnte, teilten wir uns in drei Gruppen auf: Die kleinere Gruppe von Spaniern und Deutschen zog in den nächsten Nachtclub ein, die beiden Deutschen, die wir beim Countdown kennengelernt hatten, setzen wir in einer ruhigeren Bar ab und América, Ninja, Leonel und ich fanden in einem ruhigen Café einen Tisch, um uns endlich ein wenig zu entspannen.
Aus drei Gründen war ich glücklich: Zunächst einmal, weil ich endlich all die anderen Deutschen und Spanier losgeworden war, die teilweise zwar recht freundlich, teilweise aber auch unausstehlich gewesen waren. Darüber hinaus war ich überglücklich in einem Café gelandet zu sein, wo man keinen Alkohol trank, was für mich als Anti-Alkoholiker weitaus komfortabler war, als in einer verrauchten kleinen Kneipe zu sitzen, in der die Partygäste einer nach dem anderen umkippen. Und zu guter letzt genoss ich es endlich an einem warmen Platz zu sitzen und nicht länger mit abgefrorenen Zehen und Fingern durch die eisige Nacht zu spazieren. Nachdem wir uns ein wenig aufgewärmt hatten, holte sich jeder von uns einen Kaffee und ein Stück Kuchen und mit einem guten Gespräch verbrachten wir die kommenden Stunden. Normalerweise bin ich niemand, der an Neujahr lange aufbleibt, aber seltsamerweise bin ich diese Nacht kaum müde geworden. Es scheint einen Punkt zu geben, den man überschreitet, um danach nicht mehr müde zu sein. Wann ich diesen Punkt überschritten habe, weiß ich nicht. Vielleicht hing meine Munterkeit auch mit dem Kaffee, mit dem guten Gespräch oder einfach damit zusammen, dass überall um mich herum muntere Leute saßen, die sich bei Kaffee und Kuchen unterhielten. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, wie ich völlig vergaß, dass es vier Uhr nachts war, da die Atmosphäre eher auf vier Uhr nachmittags schließen lies. Nur ein Blick aus dem Fenster, hinaus in die rabenschwarze Nacht, holte mich immer wieder in die Realität zurück.

Bild4: América, Ninja, ich und Leonel sitzen nachts in einem Café in Roppongi, einem Bezirk Tokyos, trinken Kaffee und essen Kuchen.
Erst gegen halb Sechs, also nach etwa drei Stunden, verließen wir das Café und schritten wieder hinaus in die eisige Nacht. Und was wir auf dem Weg zum naheliegenden Bahnhof sahen, schockierte mich: Zerbrochene Flaschen, Erbrochenes und Betrunkene überall auf den Straßen. Und inmitten dieses Chaos waren kaum Japaner. Neunzig Prozent derjenigen, die gröhlten, besoffen durch die Gegend torkelten, sich prügelten oder sich am nächsten Laternenpfahl übergaben, waren offensichtlich Ausländer. Und bei den restlichen Zehn Prozent war ich mir nicht einmal sicher, ob es nicht vielleicht Koreaner und Chinesen waren. Und irgendwie war es mir plötzlich peinlich ein Ausländer in Japan zu sein, zu jener Minderheit zu gehören, die randalierte, alles verdreckte, Leute anpöbelte und ihrer Umgebung keinerlei Beachtung zollte. Es ist nicht so, dass ich nicht auch schon betrunkene Japaner, oder randalierende japanische Jugendliche gesehen hätte, aber was sich mir an Neujahr in den Straßen Roppongis bot, gehörte zu den schlimmsten menschlichen Abgründen, die ich jemals gesehen hatte. Ich kann mich nicht einmal an ein vergleichbares Szenario in Deutschland erinnern. Und das Auffälligste war dies: Es waren fast ausschließlich Ausländer. Ich hatte mehrmals von anderen gehört, dass in Japan ein wenig das Vorurteil herrschte, dass vorallem westliche Ausländer grob, peinlich, ungepflegt und vor allem anstandslos seien. Als ich durch die Straßen lief, vorbei an Erbrochenem, Urinlachen, Bewusstlosen, die im Rinnstein lagen oder sich auf Müllsäcken ausgestreckt hatten, Betrunkenen, die sich prügelten, anschrieen oder einfach nur laut gröhlend Flaschen durch die Gegend warfen, wurde mir klar wie solche Vorurteile, möglicherweise sogar ein wenig gerechtfertigt, entstanden. Und so liefen wir zu viert durch das nächtliche Roppongi zum Bahnhof und waren für diesen Moment wohl der einzige Beweis auf den Straßen Roppongis, der zeigte, dass es auch andere Ausländer in Japan gab.
Am Bahnhof von Ropponi trennten sich dann schließlich gegen kurz nach Sechs Uhr morgens unsere Wege. Ich wollte allmählich zurück nach Soka fahren, während América, Leonel und Ninja noch diverse Schreine und Tempel besuchen wollten. Und so machten wir in der Bahnstation von Roppongi ein letztes gemeinsames Foto, bevor ich durch die Ticketschranke lief und in der Menschenmasse verschwand.

Bild5: Ich, Ninja, Leonel und América am Bahnhof von Roppongi. Die Uhr im Hintergrund zeigt 6:04 Uhr an.
Alleine saß ich am Gleis und wartete auf meinen Zug, der direkt bis nach Soka fahren sollte. Um mich herum hingen einige ausgelaugte Ausländer und ein paar Japaner, die mit gerümpfter Nase versuchten Abstand zu den oftmals sturzbetrunkenen Ausländern zu halten. Ich beobachtete die Szenerie und hörte mit meinem MP3-Player Musik, wie ich es mir jedes Jahr zu Neujahr angewöhnt hatte, seitdem ich meinen MP3-Player vor einigen Jahren von meinem Vater geschenkt bekommen habe. Und zu Hintergrundmusik ließ ich die Nacht in Gedanken Revue passieren. Im Nachhinein war es mir gar nicht aufgefallen, dass es kein Feuerwerk gegeben hatte, dennoch hatte ich schon seit Stunden den gleichen Satz im Kopf: "Mein Vater müsste den Japanern mal zeigen, wie man ein richtiges Feuerwerk macht". Dieses Neujahr war einmal ganz anders gewesen, aber doch aufregend und schön. Dann fuhr der Zug ein und ich setzte mich ruhig auf einen freien Platz und fuhr in Richtung Soka. Und nachdem ich einige Zeit mit dem Zug quer durch das unterirdische Schienennetz Tokyos gerast war, erreichte der Zug schließlich die Erdoberfläche. Und in diesem Moment ging am Horizont die Sonne auf und ein neuer Tag begann.
Die ersten Sonnenstrahlen tastete sich über die Häuser Tokyos und durchdrangen die Scheiben des Waggons und schienen mir ins Gesicht. Der halbe Waggon lief ans Fenster und machte mit dem Fotohandy Bilder vom Sonnenaufgang am ersten Tag des neuen Jahres. Und mittendrin saß ich und war glücklich wie selten zuvor. Es lässt sich schwer beschreiben, aber nach dem ich die letzten Stunden größtenteils in Dunkelheit und Kälte verbracht hatte, erschien mir der Sonnenaufgang mit seiner Helligkeit und seiner Wärme wie ein Wunder. Ja, es war einer der schönsten Momente, den ich bisher hier in Japan erleben durfte. Und so fuhr ich mit Beginn des neuen Tages im Bahnhof von Soka ein, lief durch die lichtdurchfluteten Straßen bis zu meinem Wohnheim und kam in meiner Wohnung an. Es war nun bereits fast halb Acht Uhr morgens und nachdem ich mich geduscht hatte, schaute ich nach eMails. Und tatsächlich, ich hatte zwei eMails erhalten: Eine Glückwunschkarte zum neuen Jahr von Tak und eine eMail von meinem Vater. Danach saß ich noch bis kurz nach Acht Uhr an meinem Laptop und erlebte so auch gedanklich den Jahreswechsel in Deutschland mit. Und während in diesen Momenten in Deutschland ein neuer Tag, ein neues Jahr begann, ging mein Tag zu Ende und ich schlief fest ein.
2 Kommentare:
Hallo David,
die Vorstellung, sich mitten in der Nacht in einem Café zu Kaffee und Kuchen zu treffen ist ja schon lustig. Aber warum eigentlich nicht :-) Die Uhrzeit 4:00 hat ja wenigstens gepasst, es war eben einfach alles um 12 Stunden zum normalen Rhythmus verschoben.
Das mit den Ausländern klingt ja wirklich schlimm. Besonders auffällig ist sowas natürlich in einem Land, wo man die Ausländer anhand ihres äußeren erkennen kann. Sonst würde man vielleicht gar nicht merken, dass vor allem die Ausländer die Chaoten sind. Wie gut, dass du den Japanern ein anderes Bild vermitteln kannst ;-)
Liebe Grüße,
Helene
Das mit der passenden Zeit zu Kaffee und Kuchen habe ich so noch gar nicht gesehen. Rückblickend ist es aber wirklich eine amüsante Vorstellung mitten in der nacht Kaffee und Kuchen zu essen.
Und ja, die Ausländer waren wirklich peinlich. Ich wäre ja gerne als strahlendes Beispiel vorangegangen, aber wenn man einmal davon absieht, dass ich in der Masse der vielen anderen Ausländer nicht heraussteche, gibt es doch ein ganz banales Problem: Es waren ja kaum Japaner auf den Straßen, denen ich hätte auffallen können ; )
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