Montag, 29. Juni 2009

Ein Sommernachts-Fiebertraum

Am Abend meines 269. Tages in Japan fing es an. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und konnte nicht wirklich einschlafen, weil ich Kopfschmerzen hatte. Vielleicht ist es zu stickig, dachte ich mir, öffnete trotz Schwüle die Balkontür und legte mich wieder hin. Die Kopfschmerzen gingen nicht weg, stattdessen trieb mich der Lärm der Autos, das Zirpen der Grillen und die Stimmen von Menschen aus der Umgebung in den Wahnsinn. Es war drückend schwül und heiß, alles klebte und auch wenn ich ohne Decke auf meinem Bett lag, hatte ich das Gefühl zu glühen. Und so lag ich bis tief in die Nacht hinein in meinem Zimmer und fand keinen Schlaf. Ich war zu erschöpft und ausgelaugt, um zu lesen, einen Film zu sehen oder Musik zu hören, doch ich war zu wach, um einzuschlafen. Im Dämmerschlaf döste ich vor mich hin, jeder Laut von draußen erschien mir so laut wie ein Schlag auf den Amboss, jede noch so kleine Brise wie ein Moment im Paradies. Und irgendwann muss ich dann doch noch eingeschlafen sein.
Am nächsten Morgen weckte mich das Piepsen des Weckers. Eigentlich ungewöhnlich, denn aus Gewohnheit werde ich immer wenige Augenblicke vor dem unerträglichen Piepsen wach und habe genug Zeit den Wecker rechtzeitig auszuschalten. Ich war so müde und ausgelaugt, wie schon lange nicht mehr. Es war ein mühevoller Kampf meine bleiernen Gliedmaße zu erheben, obwohl es für mich sonst nie ein Problem gewesen war morgens mit einem Satz aus dem Bett zu springen, wenn ich denn wollte. Statt mich nach dem Schlaf erfrischt zu fühlen, hatte ich das Gefühl die ganze Nacht über Ausdauersport getrieben zu haben. Ich war verschwitzt und ausgelaugt und als ich zur Dusche lief, wäre ich beinahe erst einmal umgekippt, weil sich alles in meinem Kopf dreht.
Es bedurfte keinen Experten um festzustellen, dass ich krank wurde. Und so hätte wohl jeder gesagt, dass ich den Tag zu Hause hätte verbringen sollen, denn sechs Stunden lang in der Uni zu sitzen, Denkarbeit zu leisten und durch die Gegend zu laufen, klang nicht sehr gesundheitsfördernd. Doch wenn es ums Kranksein geht, bin ich sehr eigen: Ich bleibe dem Unterricht nämlich fast nie fern. Bei mir sitzt die Hemmschwelle zu sagen, dass ich krank bin, sehr viel höher als bei den meisten anderen Menschen, was dazu führt, dass ich mich häufig als angeschlagen oder erkältet bezeichne, wenn es mir nicht gut geht. Und das ist dann kein Haarspalterei bei der Begriffswahl, sondern meine eigene Einschätzung, denn solange ich noch in die Universität laufen kann und am Unterricht teilnehme, empfinde ich mich nicht als krank. Wenn andere wegen einer Erkältung, leichter Halsschmerzen, einem leichten Anfall von Übelkeit oder Schmerzen in der Hand zu Hause bleiben, laufe ich noch immer in die Schule und arbeite wie gewohnt mit. Ich trinke dann etwas mehr, benutze öfter die Toilette, putze mir des Öfteren die Nase und stütze häufig meinen Kopf ab, aber krank bin ich nicht. Eben nur angeschlagen. Und nur wenn es mir wirklich elend geht, wenn ich das Gefühl habe mich jeden Moment übergeben zu müssen, wenn ich Schwierigkeiten habe zu laufen, meine Feinmotorik zu steuern oder aufrecht zu sitzen, wenn ich also zu der Überzeugung gelange, dass es keinen Sinn hat in die Universität zu gehen, weil ich mit meiner momentanen, körperlichen Verfassung ohnehin nicht im Stande bin zu lernen, erst dann bleibe ich zu Hause, liege mit guten Gewissen in Bett und bin krank.
Am Montagmorgen stand ich an der Grenze: Meine Kopfschmerzen vom Vorabend waren verschwunden, aber mein Kopf drehte sich und mein Körper bewegte sich nur träge wie ein Mehlsack. Ich hätte zu Hause bleiben können, war aber noch im Stande in die Uni zu gehen. Und so entschied ich mich dazu den Stundenplan über meinen heutigen Tagesverlauf entscheiden zu lassen. In der zweiten Stunde stand etwas von einem Aufsatz und ich war mir unsicher, ob wir nur irgendetwas zu bearbeiten hatten oder eignen eigenen Text verfassen sollten. Würden wir einen eigenen Text verfassen müssen, war dies nämlich gleichbedeutend mit einem bewerteten Test, der bei Abwesenheit mit null Punkten bewertet werden würde. In der dritten Stunde besprachen wir einen neuen Text, was bei Frau Kitamura eigentlich immer sehr sinnvoll war. Und so entschied der Stundenplan für mich, dass heute ein Tag war, an dem man besser in den Unterricht gehen sollte. Hätte ich heute einen weniger engagierten Lehrer und mit Sicherheit keinen Test gehabt, ich wäre wohl zu Hause geblieben und hätte mich einen Tag lang auskuriert, doch so packte ich meine Sachen, machte mich zurecht und trat motiviert hinaus in den morgendlichen Sonnenschein und lief frohen Mutes zur Dokkyo-Universität.
Meine Vermutung bestätigte sich, als wir die gesamte zweite Stunde über Zeit hatten, um einen mindestens einseitigen Aufsatz zu verfassen. Und so schrieb ich und hatte zu meiner Überraschung den ganzen Vormittag keine Beschwerden. Ich hatte fast schon vergessen, dass ich am Morgen noch mit dem Gedanken gespielt hatte zu Hause zu bleiben, und musste ein wenig über mich selbst den Kopf schütteln: Wie hatte ich mich nur so krank fühlen können? Ein wenig flau war mir im Magen, aber das lag daran, dass ich am Morgen nichts zu Frühstück gegessen hatte. Darum aß ich in der Mittagspause mit den anderen in der Mensa und verbrachte die restliche Zeit bis zum Beginn des Nachmittagsunterrichts im Lehrsaal. Und während ich entspannt auf meinem Stuhl saß und wartete, schwappte das Elend vom Morgen wieder zurück. Ich merkte es erst kaum, doch als ich begann den neuen Text im Nachmittagsunterricht zu bearbeiten, fiel mir auf, dass ich nichts auf die Reihe bekam. Ich schaute den Text an und verstand nichts. Ich las die Worte, sah die Schriftzeichen, sprach Sätze aus und sah zwischen nichts von alledem einen Zusammenhang. Mein Kopf war nicht im Stande zu verarbeiten, was sich auf dem Blatt befand, geschweige denn was Frau Kitamura erzählte. Er war ein Topf voller Watte, zum Bersten gefüllt. Ich konnte es körperlich fühlen, dass nichts mehr hinein passte. Darum stützte ich meinen Kopf auf beiden Armen ab, blickte von oben auf den Text herab und sammelte all meine Konzentration, um ganz langsam einen einzelnen Satz, Bestandteil für Bestandteil, durchzugehen. Und als ich dann endlich den Inhalt begriffen hatte, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass Frau Kitamura bereits den nächsten Absatz bearbeitete. Ich musste fast drei Minuten lang unentwegt auf einen einzelnen, simplen Satz geblickt haben. Und so zog der Unterricht an mir vorbei, ohne dass ich irgendetwas verstanden hätte, ohne dass ich auch nur eine Frage von Frau Kitamura hätte beantworten können. Stattdessen saß ich schwitzend auf meinem Stuhl, mein Kopf dreht sich und die Stimmen des Lehrers und einiger schwatzender Kommilitonen dröhnten in meinem Kopf.
Benebelt torkelte ich nach dem Unterricht zum Wohnheim, fiel wie ein Stein in mein Bett und schlief über drei Stunden lang. Als ich am späten Nachmittag die Augen öffnete, ging es mir wie am Morgen: Ich war erschöpfter als vor dem Schlaf. Verschwitzt und mit dröhnendem Kopf lag ich auf dem Bett, die Kleidung klebte an mir und ich konnte nicht sagen, ob die drückende Hitze im Raum daher rührte, dass ich nach meiner Heimkehr vergessen hatte die Klimaanlage anzuschalten, oder einfach Fieber war. Vermutlich beides. Ich hatte Mühe mich auf den Beinen zu halten, konnte mich auf nichts mehr konzentrieren und hatte das Gefühl, das mein Kopf jeden Moment zerbersten würde. Im Delirium bereitete ich mir am Abend mein Essen zu, duschte und legte mich schließlich ins Bett, doch Schlaf fand ich keinen. Es waren die Kopfschmerzen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen: Das Zirpen der Grillen klang für mich wie ein Presslufthammer, die vorbeifahrenden Autos wie startende Flugzeuge und mein Kissen war hart wie ein Stein. Ich vergrub mich darin, um Ruhe zu haben und die Kopfschmerzen zu ersticken, warf die Decke von mir, um Kühlung zu bekommen, konnte letztlich aber nicht einschlafen. Und als ich letztlich doch die Augen schloss und schlief, schien mein Verstand dies gar nicht zu realisieren, es war mehr wie ein Blinzeln und plötzlich stand die Sonne am Himmel. Nur ein kurzes, aber ein sehr anstrengendes, erschöpfendes Blinzeln.
Am nächsten Morgen stand ich auf, mir blieb nichts anderes übrig. In der ersten Stunde schrieben wir einen Test und ich wollte meine Gesamtnote nicht riskieren, indem ich der Prüfung fernblieb und null Punkte eingetragen bekommen würde. Ich lag länger als sonst in meinem Bett, ehe ich es endlich schaffte mich aus der Decke zu winden und in die Dusche zu schlurfen. Teilnahmslos stand ich unter dem Duschstrahl, ließ mich berieseln und dachte nicht einmal nach. Für wenige Minuten war ich einfach nur eine leere Hülle, unfähig mich zu bewegen, zu denken, zu reagieren, dann schlurfte ich tropfend aus der kleinen Nasszelle, packte das Nötigste für den Unterricht zusammen und lief zur Universität.
"Du siehst ziemlich erschöpft aus."
Nikki betrachtete mich ein wenig besorgt, als ich halbabwesend vor ihr saß. Und sie hatte recht. Ich war so ausgelaugt und kraftlos, dass ich am liebsten über dem kleinen Tisch zusammengebrochen und liegengeblieben wäre.
"Aus organisatorischen Gründen wird der Test heute auf die zweite Unterrichtsstunde verschoben."
Na toll, dachte ich mir und blickte aus glasigen Augen träge um mich. Und so kam es dazu, dass ich heute zu einem der Zombies wurde, wie Frau Takeda immer zu sagen pflegte. Ich saß teilnahmslos da, zeigte keine Reaktion, konnte keine Fragen beantworten und las nur stockend und fehlerhaft meinen Textteil vor. Frau Takeda blickte ein wenig besorgt, sagte aber während der Unterrichtszeit nichts. Und so hing ich die erste Stunde auf meinem Stuhl, versuchte das Drehen und Dröhnen zu ignorieren und mich auf den Text zu konzentrieren. Natürlich vergebens. Wie am Vortag konnte ich die Schriftzeichen auf dem Blatt vor mir in keinen Zusammenhang bringen. Sie tanzten in meinem Kopf umher und flohen lachend, wenn ich versuchte sie zu greifen. Wenn ich mich nicht ausreichend auf einen Punkt konzentrierte, begann alles zu verschwimmen und milchig zu werden, als würde man durch eine beschlagene Scheibe sehen. Mein Mund war trocken, weil ich vergessen hatte etwas zu trinken, mein Magen knurrte, aber es schien mich gar nicht zu kümmern, mein Körper hatte derzeit erbittertere Kämpfe auszutragen.
Als die erste Stunde endete und meine Kommilitonen den Raum verließen, um in die Mensa, aufs Klo oder in eine Stille Ecke zum Rauchen zu gehen, kam Frau Takeda vor dem Verlassen des Raumes an meinem Tisch und blickte mich besorgt an.
"Sie sehen heute gar nicht gut aus. Sie sind wohl nur wegen des Tests gekommen."
Ich nickte und versuchte tapfer zu lächeln. Da öffnete Frau Takeda ihre Handtasche, kramte ein wenig darin herum und reichte mir ein Hustenbonbon.
"Das ist leider das Einzige, was ich bei mir habe. Vielleicht hilft es Ihnen ja den Test zu meistern."
Dankbar nahm ich das Bonbon an und mit einem Lächeln verabschiedete sich Frau Takeda und lief beladen mit ihrem Gepäck, aber dennoch vergnügt wie immer aus dem Raum. Ich saß auf meinem Platz, blickte eine Weile lang auf das Bonbon, bis ich es schließlich auspackte und in den Mund steckte.
Obwohl ich auch in den kommenden Stunden nicht auf der Höhe war, lief der Test doch erstaunlich gut. Man könnte fast meinen, dass er mir sogar leichter fiel, als die Prüfungen, die ich gesund absolviert hatte. Sobald ich den Raum mit Marvin und Paul verlassen hatte, meldete ich mich bei ihnen für den Nachmittagsunterricht und den nächsten Tag ab, was diese mit einem erstaunten Blick quittierten.
"Ne, echt? Du gehst mal nicht in den Unterricht?"
"Hast du dir das auch gut überlegt?"
Ein wenig spotteten die beiden, doch ich wusste genau weshalb sie es taten, schließlich hatte ich bisher keine einzige Unterrichtsstunde verpasst. Ich wusste wann meine Grenze erreicht war und ich gut daran tat im Bett liegen zu bleiben. Und diese Grenze hatte ich bereits am Morgen überschritten. Müde und kraftlos schleppte ich mich zum Wohnheim, zwang mich ein wenig zu essen und trinken und fiel schließlich in mein Bett. Mit Kopfschmerzen und Schwindel blickte ich an die Decke und realisierte, dass ich seit langer, langer Zeit wieder einmal wirklich krank war.

Sonntag, 28. Juni 2009

Japan in Bildern (5)

Wie lange mag es schon her sein, dass ich mir vorgenommen hatte einfach nach draußen zu gehen, um den Frühling in Japan in Bildern einzufangen? Sicherlich schon Monate. Doch immer kam etwas dazwischen: Mal hatte ich Stress wegen einer anstehenden Präsentation, mal war ich zu müde und erschöpft und schließlich kam die Regenzeit und es regnete und gewitterte jedes Wochenende. Und so verging Woche um Woche, Monat um Monat. Nach der Kirschblüte Ende März, kam der April, dann der Mai und schließlich der Juni und dann war der Frühling schon vorbei, es war mittlerweile eigentlich Sommer. Dennoch machte ich mich heute mit meiner Kamera auf und durchstreifte die Straßen Sokas auf der Suche nach dem Frühling. Ich schoss Bilder von Blumen, von Grün und allem, was mir interessant vorkam. Und all die Eindrücke, die ich während meines knapp zweistündigen Spaziergangs zur Mittagszeit in Soka erhielt, möchte ich in den folgenden Bildern präsentieren.


Bild1: Es ist schön anzusehen, wie in Soka vor jedem zweiten Haus unzählige Blumentöpfe stehen und den Eingang zum Grundstück in ein kleines Meer aus Grün und bunten Blumen tauchen. Ich habe ein wenig das Gefühl, dass jede Familie versucht möglichst schön anzuschauende und exotische Blumen zu präsentieren, denn ich war überwältigt von der Vielfalt und Pracht der Blumen in den Vorgärten. Zwar kann man bei uns auch schöne Gärten bewundern, doch gibt es bei uns viel häufiger die Standardblumen und Hecken, die man in jedem zweiten Garten findet wie zum Beispiel Rosen und Stiefmütterchen. Die sind zwar auch schön anzuschauen, sind aber nach einiger Zeit nichts Außergewöhnliches mehr. Hier in Soka habe ich aber in fast jedem Garten eine neue Blume gesehen, hatte immer etwas zum Fotografieren, immer etwas, das es wert war einen Moment innezuhalten und andächtig zu schauen.


Bild2: Die zahlreichen Felder in Soka, die im Winter noch brach lagen, werden nun alle bepflanzt. Immer wieder trifft man zwischen den Häusern auf grüne Oasen, mal größer, mal kleiner. Manchmal nur wenige Quadratmeter, mit einem winzigen Beet und einem Baum zum Pinkeln für die Hunde, manchmal riesige Felder, auf denen allerlei Gemüse- und Obstsorten angebaut werden.


Bild3: Ein Blick auf eines der großen Felder, mit einem Gewächshaus im Hintergrund, in dem Tomaten angebaut wurden. Hinter dem Gewächshaus erstreckte sich ein Erdbeerfeld, bei dem ich versucht war ein paar reife Erdbeeren zu pflücken, doch ich hielt mich im Zaum.


Bild4: Niemand hier scheint Eidechsen zu mögen. Jeder schaut angewidert die flinken Echsen an, die überall durch die Felder und Beete huschen und ebenso schnell weg sind, wie man sie sieht. Hier einer der wenigen Schnappschüsse von einer Eidechse, die kurz darauf auch schon wieder verschwunden war.


Bild5: Man fand Blüten in allen Farben und Formen. Hier blaue Blumen.


Bild6: Wunderschön anzuschauende violette Blüten im Vorgarten eines Hauses irgendwo in Soka.


Bild7: Es ist nur ein älterer, verwitterter Baum, doch ich war ziemlich beeindruckt von ihm. Und er zeigt, dass es auch richtige Gärten in Soka gibt, nicht nur Blumentöpfe oder Minibeete vor der Eingangstür.


Bild8: Ich glaube diese buschigen Blütenansammlungen haben wir auch in Deutschland. Aber auch in Blau? Sie waren schon von weitem zu sehen und fanden sich in verschiedenen Farben in vielen Vorgärten. Dies waren einige der wenigen Blüten dieser Pflanzen, die ganz in blau blühten. Ich fand sie sahen aus wie ein Schwarm Schmetterlinge, die alle auf einem Haufen saßen.


Bild9: Ein Foto für jene, die denken, dass es in Japan keine Häuser im Grünen gibt. Dieses Haus war von einem wahren Dickicht umgeben: Baum an Baum, Hecke an Hecke, Strauch an Strauch. Es ist sicherlich nicht die Regel, aber doch interessant zu wissen, dass es nicht nur Minibeete und Blumentöpfe gibt.


Bild10: Große, weiße Blüten. Ich bedauere es ein wenig, dass ich mich nicht so gut mit Pflanzen auskenne, sonst würde ich mehr schreiben, als nur Größe und Farbe.


Bild11: Beim Spaziergang durch Soka fand ich wirklich das gesamte Farbspektrum an Blüten in den Gärten. Hier sieht man orangene Blüten, die wild auf einem Feld wuchsen.


Bild12: Margeriten findet man auch in Japan. Die weißen Blütenblätter hoben sich schön vom braunen Boden ab.


Bild13: Nicht nur die Blumen blühen, auch alle anderen Pflanzen keimten oder schlugen aus. Hier eine Kiefer, deren junge Triebe wie kleine Pinselchen ihre Köpfe in Richtung Sonne reckten.


Bild14: Diese Blüten hingen wie Lampions an vielen Hauseingängen. Ich habe versucht im Foto einzufangen wie die Knospe zur Blüte heranreift. Das Foto ist also nicht perspektivisch verzerrt.


Bild15: Hier bekommt der Ausdruck "Ein Haus im Grünen" eine ganz andere Bedeutung. Ja, auch so etwas sieht man in Japan: Häuser, die komplett zugewachsen sind. So kann man im Grünen wohnen, auch wenn man kaum Gartenfläche hat.

Samstag, 27. Juni 2009

Marvin am Mittag

Ich konnte meinen Blick nicht recht von Ramon lösen. Irgendetwas fesselte mich an ihm, obwohl ich es nicht recht in Worte fassen konnte. Erst dachte ich, dass er mir ins Auge fiel, weil er doch ein wenig anders aussah, als die übrigen Japaner, schließlich kam er ursprünglich von den Philippinen und lebte erst seit einigen Jahren in Japan. Dann dachte ich, dass ich den Blick nicht abwenden konnte, weil er auf unerklärliche Weise etwas Kindliches an sich hatte. Er sah ein wenig aus wie ein Kind, das man in Designerkleidung gezwängt hatte, wie ein kleiner Junge, den die Eltern im Ballparadies bei Ikea vergessen hatten. Am liebsten hätte man ihm eine heiße Schokolade in die Hand gedrückt und seine Mama angerufen. Aus zusammengekniffenen Augen schaute ich Ramon eine Weile lang an, und lies meine Gedanken kreisen, bis mir endlich auffiel, warum ich ihn immer anstarren musste: Er sah fast genauso aus wie Max, einer meiner Freunde aus der Schulzeit, den ich nach dem Abitur allmählich aus den Augen verloren hatte. Ja, das war es. Deshalb musste ich ihn immerzu anstarren.
Wir saßen zu fünft im Freien und jeder aß stumm sein Mittagessen: Paul, Ramon, ein Japaner, Marvin und ich. Gemeinsam mit Marvin wollte ich heute nach dem Unterricht zum Friseur gehen und hatte mich deshalb dazu breitschlagen lassen gemeinsam mit ihm, Paul und zwei Freunden in der Mensa zu Mittag zu essen, ehe wir uns aufmachten. Ich kam mir ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber das ging wohl jedem so. Der Japaner aß still sein Mittagessen und ich beobachtete wie er absichtlich kleine Häppchen nahm und langsam kaute, um möglichst lange mit seinem Essen beschäftigt zu sein. Ich glaube außer einer kurzen Begrüßung und ein paar Worten des Abschieds hat er während der gesamten Zeit nichts gesagt. Ramon saß ebenso still da und schaute sich etwas unsicher um. Hin und wieder wechselte er ein paar Worte mit Marvin auf Japanisch, dass er auch Englisch sprechen konnte, erfuhr ich erst später. Und dann waren da Paul und Marvin, die sich ein wenig auf Deutsch austauschten. Doch da Ramon und der Japaner kein Wort Deutsch verstanden, wurde der Gebrauch der Fremdsprache auf das Minimum reduziert. Und so herrschte Stille. Gelegentlich durch ein wenig Smalltalk unterbrochen, aber größtenteils doch recht ungemütliche Stille. Hätte mich irgendjemand vorgestellt, wäre vielleicht ein Gespräch in Gang gekommen, aber ich saß einfach nur mit am Tisch und wollte nach den ersten fünf Minuten Stille nicht plötzlich anfangen von mir zu reden, mich nicht viel zu verspätet noch selbst vorstellen. Seltsame Freunde, dachte ich mir, als jeder für sich sein Mittagessen aß. Und damit meinte ich weniger Ramon und den Japaner als Person, als vielmehr die Beziehung zwischen ihnen und meinen deutschen Kommilitonen.
"Wir müssen dann auch gehen. Wir wollen noch zum Friseur.", verabschiede sich Marvin von Ramon und dem Japaner und verschwand mit Paul in der Mensa, um sein Tablett abzugeben. Und so entstand eine Situation, die mir gar nicht behagte: Ich musste mich alleine von Personen verabschieden, mit denen ich gar nichts zu tun hatte. Was sagt man da? Auf Wiedersehen? Es war nett euch kennenzulernen? Danke für das Mittagessen? Alles kam mir wie purer Hohn vor, hatte ich doch kaum ein Wort mit den beiden gewechselt, aber irgendetwas musste ich ja sagen: "Ich gehe dann Mal. Einen schönen Tag noch.". Das klang so gar nicht nach mir. Es klang kalt und desinteressiert, dennoch verabschiedeten sich Ramon und der Japaner mit einem freundlichen Lächeln. Aufgesetzt? Echt? Ich weiß es nicht. Ich nickte den beiden zu, griff mein Tablett und lief schnurstracks in die Mensa, um zu Paul und Marvin aufzuschließen. Ein wenig bedauerte ich es nicht mit Ramon gesprochen zu haben, eigentlich wirkte er ganz freundlich und aufgeschlossen, aber vielleicht sah ich auch immer nur Max vor mir sitzen.
"Woher kennst du Ramon und seinen Freund?"
"Keine Ahnung. Irgendwo getroffen. Was weiß ich."
Es klang ein wenig schroff und ich fragte mich für einen Moment was für eine seltsame Freundschaft die anderen wohl verband. Ob sie überhaupt eine Freundschaft verband. Vielleicht bin ich zu geizig mit der Benutzung des Wortes Freund, aber ich an Marvin und Pauls Stelle hätte Ramon und den Japaner im Vorhinein nicht als Freund angekündigt.
"Ich dachte ihr würdet euch gut kennen."
"Den Ramon haben wir letzte Woche bei irgendeinem Seminar getroffen, da hat er uns zum Essen eingeladen. Wer der andere Typ war, keine Ahnung. Den hab ich noch nie gesehen."
Und das war alles, was sie erzählten. Die ganze Geschichte. Und obwohl ich ihn gar nicht kannte, hatte ich ein wenig Mitleid mit Ramon, der sich sicher mehr erhofft hatte beim Essengehen. Letztlich hatte er wie alle nur stumm dagesessen. Freunde, dachte ich mir und zuckte mit den Schultern. Ich schien wirklich eine andere Benutzung für das Wort zu haben.
Manchmal frage ich mich, was die anderen wohl von mir denken. Ich gehe nicht mit ihnen auf Partys, aus Mangel an gemeinsamen Themen spreche ich oft über die Uni und ich kann nicht von Abenteuern mit Frauen, Trinkspielen oder irgendwelchem Tratsch berichten. Ob ich wohl einfach nur langweilig wirke, oder ob ich von den anderen einfach nur als anders aber nett empfunden werde? Ich mag keine Oberflächlichkeiten bei Unterhaltungen, keine Gespräche bei denen man nur spricht, um zu sprechen, keine Unterhaltungen, die einfach nur ziellos umherirrten, ohne jemandem auch nur irgendeinen Fortschritt oder eine Erkenntnis zu bringen. Und schon gar nicht mag ich das gegenseitige Schweigen bei Treffen, wie beim Mittagessen. Also unterhielt ich mich auf dem Weg zum Friseur auf meine Weise mit Marvin. Ich erzählte über mich: Anekdoten, die mich als Menschen kennzeichneten. Anfangs sprach ich erst einmal fast alleine, Marvin hörte zu und antwortete mit den üblichen Floskeln, den üblichen Oberflächlichkeiten, die man von sich gab, um zu sprechen, ohne wirklich etwas zu sagen. Doch irgendwann bekam unser Gespräch Substanz. Irgendwann merkte ich, dass nicht mehr nur ich von mir erzählte, sondern dass auch Marvin über sich sprach. Und am wichtigsten: Dass wir miteinander sprachen. Nur zu oft reden Personen, aber eigentlich spricht jeder für sich.
"Ich habe mich im Schwimmkurs nie getraut einen Köpfer vom Drei-Meter-Brett zu machen. Ich fand es unfair, dass man maximal eine drei erreichen konnte, wenn man nicht mit einem Köpfer heruntergesprungen ist."
"Ja, ich mochte Schwimmunterricht auch nicht. Ich konnte nicht wirklich schwimmen und hatte Angst vorm Wasser, aber das kümmert Lehrer ja nicht. Ich habe es gehasst."
Und so unterhielten wir uns, während wir quer durch Soka liefen. Und ein wenig lernte ich Marvin kennen, den Menschen.
Ich kann nicht sagen, dass ich bei meinem ersten Friseurbesuch in Japan sehr positive Erinnerungen gesammelt hätte: Ich war ziemlich überfordert, konnte mich nicht wirklich verständigen und verließ letzten Endes recht verstört das Geschäft ("Abenteuer beim Friseur"). Diesmal sollte aber alles besser werden, deswegen hatte ich mich nicht nur nach Marvins Friseur erkundigt, sondern war ihm gleich in sein Stammgeschäft gefolgt. Und es zahlte sich aus: Der Friseurbesuch war weitaus angenehmer als mein Abenteuer zu Beginn des Jahres. Freudig wurden wir begrüßt und angehalten Platz zu nehmen. Auf die Frage wie ich meine Haare geschnitten haben wollte, druckste ich wie gewohnt ein wenig unentschlossen herum und bekam sogleich eine Karte mit verschiedenen aktuellen Frisuren in die Hand gedrückt. Eine gute Idee, musste ich zugeben und wählte unter den Haarmodellen meine beiden Favoriten aus. "Etwa so." murmelte ich und fuhr mit meinem Zeigefinger beständig zwischen zwei Bildern hin und her. Und damit war es auch schon fast getan. Die junge Dame begann munter zu schneiden und stellte zwischendurch nur ein paar simple Fragen, auf die ich stets problemlos antworten konnte. Jegliche Spur von Unbehagen war verschwunden, es lief glatt. Der einzige Wermutstropfen, den ich bei meinem Besuch vergoss, war mein Mangel an Ausdrücken zur Bestätigung. Denn nach den üblichen Antworten wie "Das ist in Ordnung.", "Okay." und "Ja, bitte." war mein Repertoire an japanischen Bejahungen erschöpft und ich musste wieder von vorne beginnen. Das hört sich nicht weiter schlimm an, dennoch nagte es ein wenig an mir. Manchmal hätte ich gerne Dinge eingeworfen, wie ich es aus Deutschland gewohnt war. Ein kurzes "Das sieht gut aus." oder ein "Genau so.", aber ich war mir zu unsicher, was ich sagen sollte, darum sagte ich lieber nichts. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf meine Mimik spielen zu lassen: Ich lächelte und nickte so viel ich nur konnte.
Es dauerte nicht lange, da war die junge Frau fertig und ich wurde zur Kasse geführt. Noch ehe ich mein Portemonnaie zücken konnte, fiel der Kassierer mit einem Wedel über mich her und entfernte alle Haare, die möglicherweise auf meine Kleidung hätten gelangen können. Ich war ein wenig erschrocken, denn so etwas war ich nicht gewohnt, doch ich fing mich schnell, ließ das Wedeln über mich ergehen und bedankte mich angemessen, ehe ich dann endlich bezahlen durfte. Eigentlich hatte ich mir einen Satz zurechtgelegt, um zu fragen, ob ich wohl auf einem der Stühle am Eingang Platz nehmen könne, bis auch Marvin fertig wäre, doch der Kassierer kam mir zuvor und bot mir einen Platz an, den ich dankbar annahm. Zehn Minuten lang schaute ich mir das kleine Tischchen mit Werbeprodukten an, das vor mir stand und versuchte wenig erfolgreich japanische Hinweise zur Haarpflege und Angaben zu Inhaltsstoffen zu lesen, bis schließlich auch Marvin fertig war. Nachdem auch er abgewedelt wurde und bezahlt hatte, wurden wir lauthals vom gesamten Laden verabschiedet und nach draußen geführt. Wir nahmen unsere Regenschirme, die wir wegen des bewölkten Himmels mitgenommen hatten, an uns und liefen zurück zum Wohnheim. Ein voller Erfolg.
Auf dem Rückweg konnten wir uns ausgiebig über unseren gemeinsamen Besuch beim Friseur austauschen, etwas das wir zusammen erlebt hatten. Es waren eben jene Minuten, in denen mir bewusst wurde wie unterschiedlich Paul und Marvin waren. Marvin strahlte viel mehr Positivität, viel mehr Herzlichkeit aus und ich genoss es mich mit ihm zu unterhalten. Wir kannten uns schon seit Monaten, doch wirklich unterhalten hatten wir uns noch nicht zuvor. Und so liefen wir in ein Gespräch vertieft zum Wohnheim. Als Freund würde ich Marvin nicht bezeichnen, dazu sind meine Ansprüche an Freundschaft zu hoch, aber ich habe doch das Gefühl, dass wir heute einen Schritt aufeinander zugekommen sind, unsere Gespräche einen Tick gehaltvoller geworden sind, man angefangen hat etwas von sich zu zeigen. Und auch wenn ich in ihm noch keinen Freund gefunden habe, so doch einen guten Bekannten, der mir sicher in Erinnerung bleiben wird.

Lehren und lehren lassen

Wäre ich Lehrer für unseren Sprachkurs, ich hätte auch keine Lust uns zu lehren. Der Großteil des Kurses hängt gelangweilt herum, ein Student demotivierter als der Nächste, und kaum jemand zeigt auch nur das geringste Interesse am Unterrichtsverlauf. Auf die Nachfrage, ob etwas verständlich war, erhält man größtenteils nur ein müdes Murren, beim Bearbeiten von Aufgaben herrscht Totenstille und selbst wenn einige Lehrer ihrem Ärger Luft machen und den Kurs anschnauzen, schlafen die meisten oder ignorieren es, während sie auf ihren Handys herumspielen. Auf dieses Trauerspiel reagiert jeder Lehrende auf seine eigene Weise: Einige schrauben das Niveau hinunter, um die Mitarbeit zu erleichtern, einige bombardieren uns mit Tests und einige lesen nur demotiviert den Lektionstext herunter, ganz gleich ob es jemand versteht oder nicht. Wie sehr sich der Unterricht bei einigen Lehrern im Verlauf des Semesters geändert hat, ist mir heute erst wirklich bewusst geworden, als wir bei Herrn Ikuta im Unterricht saßen und nichts machten. Und so hatte ich mehr als genug Zeit mir Gedanken über meine Sprachlehrer und deren neue Unterrichtsmethoden zu machen.
Dass ich nie wirklich begeistert von Herrn Ikutas Unterricht war, habe ich schon oft berichtet. Ich war nie sehr angetan von seinen Lehrmethoden und hatte immer das Gefühl, dass er keinen großen Spass an seinem Beruf hat. Wie kann man da wohl noch demotivierter sein? Indem man einfach überhaupt nichts mehr macht. Der ohnehin schon recht ineffektive Unterricht von Herrn Ikuta ist mittlerweile nur noch eine Zeit des tatenlosen Herumsitzens. Er macht sich nicht einmal die Mühe den Lektionstext oder die Aufgabenstellungen vorzulesen, stattdessen lässt er uns in Stillarbeit alles selbst erarbeiten. Und so sitzen wir eine Stunde lang herum, blättern in unseren Wörterbüchern, beantworten die Fragen zum Text und verlassen schließlich den Unterricht. Ist man früher fertig, unterhält man sich, schläft oder vertreibt sich anderweitig die Zeit. Doch so uninspiriert dies auch klingen mag, es hat auch seine Vorteile: Endlich kann man in seinem eigenen Tempo arbeiten, kein lästiges Hetzen durch den Text, bei dem man ohnehin nichts versteht, kein Vorlesen von Kursteilnehmern, die für einen Absatz eine Ewigkeit brauchen und keine Nachfragen des Lehrers, auf die ohnehin nur Totenstille folgt. Es mag sich seltsam anhören, aber der Unterricht von Herrn Ikuta ist durch seine vollkommene Gleichgültigkeit besser geworden. Und nicht nur der Unterricht, auch die Tests: Er hat keine Motivation mehr umfassende, ausgefeilte Aufgabenstellungen zu erstellen, darum stellt er uns in den Prüfungen nur ein paar wenige, leichte Aufgaben und wirft mit guten Punktzahlen nur so um sich. Und so kam es, dass ich in der Konversationsprüfung mit Paul, Marvin und Nikki volle Punktzahl erhalten habe, obwohl ich gar nicht so gut vorbereitet war. Aber das scheint Herrn Ikuta mittlerweile egal zu sein. Hauptsache er hat möglichst wenig Mühe beim Lehren.
Ähnlich wenig Motivation zeigt auch Frau Sakatani. Die sonst etwas schusselige, aber freundliche Lehrerin, die immer darauf bedacht war die Texte so ausführlich zu besprechen, dass jeder sie verstehen konnte, liest die Texte nur noch monoton herunter. Es gibt keine Erklärungen mehr, keine lustigen Anekdoten, keine Nachfragen. Ob es jeder versteht, interessiert sie nicht mehr, sie fragt schon lange nicht mehr nach. Wenn sie von den Studierenden die Texte vorlesen lässt, merkt man wie ungeduldig sie geworden ist und jedes falsch gelesene Schriftzeichen mit gereizter Stimme sofort korrigiert. Lob gibt sie nicht mehr von sich, stattdessen hört man sie immer öfter klagen: Wieder weiß jemand nicht, wo wir uns im Text befinden, wieder schläft jemand im Unterricht, wieder hat sich kaum jemand vorbereitet. Doch ihre gelegentliche Kritik verhallt klanglos im stillen Unterrichtsraum. Diejenigen, die lauschen, betrifft es nicht, diejenigen, die es betreffen würde, hören ohnehin nicht zu. Und so rast Frau Sakatani durch die Texte, hofft möglichst schnell die Unterrichtszeit zu einem Ende zu bringen und verlässt manchmal so schnell den Raum, dass sie noch vor den Studenten am Aufzug steht.
"Der Zombiekurs" nennt uns die ältere, lebensfrohe Frau Takeda nur noch. Was sie zu Beginn des Semesters noch mit einem Lachen sagte, während sie auf ihrem Stuhl schaukelte, klingt nun nur noch wie ein müder Versuch irgendetwas zu sagen, um die Stille zu brechen. Sie erzählt noch ihre Anekdoten und lustigen Geschichten, doch ich sehe ihren traurigen Blick, wenn niemand lauscht, wenn niemand eine Reaktion zeigt und sie fast schon mit sich alleine redet. Ebenso auch Frau Nomura, die ältere Lehrerin, die uns immer versucht zum Lernen zu begeistern und sich so viel Mühe gibt unser Interesse auch an Themen Japans zu wecken, die nicht im Lehrbuch behandelt werden. Es ist nicht lange her, da stellte sie uns eine ganze Liste mit idiomatischen Ausdrücken im Japanischen zusammen, einfach so. "Diese Formulierungen werden sie öfter im Japanischen antreffen, da dachte ich mir, es hilft ihnen sie sie kompakt auf einem Zettel stehen haben.". Der Kurs schlief einfach weiter, niemand beteiligte sich, stattdessen hörte man vereinzelt leise Stimmen, die "Langweilig." oder "Wann ist denn Ende?" vor sich hin murmelten. Ein wenig betrübt schaute Frau Nomura auf ihre Liste und brach das Bearbeiten wegen mangelnden Interesses vorzeitig ab. Die Arbeit habe ich mir umsonst gemacht, konnte man an ihrem Blick ablesen.
Ganz anders begegnet Frau Nakanishi, die gestrenge Lehrerin mit dem makellosen Äußeren, dem Desinteresse des Kurses: Jeden Donnerstag setzt sie uns einen neuen Test vor. Immer und immer wieder. Es sollte eigentlich ein Aufsatz geschrieben werden? Stattdessen wird ein unbekannter Test mit Fragestellungen verteilt. Es sollte eigentlich ein neuer Text bearbeitet werden? Erst einmal wird ein Minitest abgehalten. Wir machen fast nichts anderes mehr. Welches Ziel sie damit genau verfolgt ist mir unklar, vielleicht denkt sie so das Interesse des Kurses zu wecken? Vielleicht möchte sie uns vor Augen führen, dass wir lernen sollten? Ich weiß es nicht. Ähnlichen Widerstand gegen die schlechten Manieren und Motivationslosigkeit des Kurses zeigt Frau Kitamura, indem sie regelmäßig durch die Reihen läuft und schlafende Studenten wachrüttelt, quasselnde Mädchen besonders oft an die Reihe nimmt oder auch einfach mal Mobiltelefone und ähnliches einsammelt, wenn diese bei den betreffenden Personen mehr Aufmerksamkeit erregen als sie selbst. Abgesehen davon versucht sie ihren Unterricht wie immer zu halten: Sie erklärt, sie stellt Verständnisfragen, sie lässt uns mitdenken. Auch wenn immer weniger Leute mitarbeiten, hält sie eisern an ihrem Unterricht fest und bevorzugt es ein paar schnippische Bemerkungen von sich zu geben, als nur zu klagen.
Die einzigen Lehrer, die immer noch exakt wie zum Beginn des Semesters lehren, sind die langweilige Frau Ezoe und die junge Frau Hara. Frau Ezoe hat schon immer am Lehrbuch geklebt und bei jeder Gelegenheit ihr charakteristisches "Wardasjetztverständlichjadaswarverständlich." eingestreut, da macht es keinen Unterschied, ob der Kurs wach ist, oder nicht. Frau Hara hingegen ist noch in der Ausbildungszeit und kann sich nicht erlauben ihre Pflicht nicht zu erfüllen und lehrt somit Woche für Woche mit gewohnter Freundlichkeit und voller Enthusiasmus.
Jeder Lehrer passt sich auf seine Weise an unseren Sprachkurs an. Jeder versucht auf seine Weise das Beste daraus zu machen, auch wenn dies manchmal bedeutet gar nichts mehr zu tun. Doch während ein Großteil des Kurses vollkommen ignoriert wie sich die Lehrer verändern, wie sie gleichgültig und motviationslos an der Tafel stehen, wie sie manchmal fast schon traurig auf einen stummen Kurs einreden, wie sie eisern, mit einem Lächeln durch die Lektion führen, mir entgeht es nicht und ich habe Mitleid mit ihnen. Während die anderen dösen, sitze ich aufrecht auf meinem Platz und arbeite mit. Ich kann nicht einfach zusehen, wie Frau Takeda einsam ihre Anekdoten erzählt, wie Frau Nomura sich abmüht, um uns zu helfen und nur stumme Kritik erntet, wie Frau Sakatani nur noch gereizt den Text abhandelt oder wie Frau Kitamura mit voller Kraft lehrt und nichts im Gegenzug erhält. Ich fühle mich in der Verantwortung das Desinteresse der anderen wett zu machen, und so nicke ich und lächele, wenn Frau Takeda erzählt, ich bedanke mich, wenn Frau Nomura uns selbsterstellte Unterlagen austeilt, ich frage nach und arbeite mit, wenn Frau Sakatani den Text bearbeitet und werfe böse Blicke auf meine Kommilitonen, wenn Frau Kitamura mit einer schnippischen Bemerkung ihrem Unmut über die anderen Kursteilnehmer freien Lauf lässt. Und ich denke die Lehrer danken es mir. Ich sehe wie erleichtert sie sind, wenn ich mich melde, wie sie mich anschauen, wenn sie etwas erzählen und der Rest des Kurses schläft, wie sie sich freuen, wenn ich eine Frage stelle, oder wie ein flüchtiges Lächeln über ihre Lippen huscht, wenn sie mir einen Test mit guter Punktzahl zurückgeben.
Es ist nicht so, als wäre ich der Einzige, der im Unterricht mitarbeitet, aber die Anzahl derjenigen, die überhaupt noch Interesse zeigen, ist doch an einer Hand abzuzählen. Und gerade wenn diese wenigen Personen fehlen oder doch einmal nicht mitarbeiten, wird es manchmal unerträglich. Nicht nur für die Studierenden, auch für die Lehrer. Ich habe dieses Semester acht verschiedene Lehrer, jeder mit seinen eigenen Lehrmethoden, jeder mit seinen eigenen Kniffs, aber auch Macken, doch keiner schafft es ein gutes Lernklima zu schaffen. Niemand kann mir sagen, dass dies alles die Schuld der Lehrer ist. Man hört immer, dass der Unterricht mit dem Lehrer steht und fällt, doch hier in Japan habe ich gelernt, dass ein Unterricht ein Geben und Nehmen ist. Und genauso wie ein Mensch nicht nur Geben kann, kann auch ein Lehrer nicht einfach nur Lehrern. Ich fühle mich in der Verantwortung zu Geben, auch wenn ich für elf andere Personen etwas mitgeben muss. Es ist anstrengend und oft muss ich mich dazu zwingen aufmerksam zu lauschen, interessiert zu schauen, eine Frage zu stellen oder einfach nur zu lächeln. Ich lerne im Unterricht, das ist keine Frage, aber wirklichen Spass am Geschehen habe ich nur noch selten. Ich würde mir wirklich einen Sprachkurs wünschen, in dem die Teilnehmer motiviert sind, rege am Geschehen teilnahmen und Spass haben. Es ist ermüdend sich Woche für Woche aufzuraffen und Positivität und Interesse auszustrahlen. Und so frage ich mich manchmal zu welchem Preis ich in den Unterricht gehe, wozu ich mir all die Mühen auflade. Doch jedes Mal wenn Frau Takeda etwas erzählt und sich freut, wenn ich lache, jedes Mal wenn Frau Kitamura ebenfalls lächelt, wenn ich über die Faulheit der anderen schmunzle, jedes Mal wenn Herr Ikuta anerkennend sieht, dass ich während der Stunde Stillarbeit tatsächlich gearbeitet habe, jedes Mal wenn Frau Sakatani übermäßig glücklich strahlt, wenn ich hin und wieder ein "Ja." oder "Ich habe verstanden." einstreue und jedes Mal wenn Frau Nomura erleichtert und stolz sieht wie ich mir zu ihrem Gesprochenen Notizen mache, dann weiß ich genau wofür ich all die Mühe investiere. Denn kein Mensch kann auf Dauer nur geben, ohne etwas zurückzubekommen.

Mittwoch, 24. Juni 2009

Zurückblicken

Wer kennt es nicht, das Gefühl auf der Stelle zu treten. Vor allem wenn man Student oder Auszubildender ist und das Leben nur daraus zu bestehen scheint zu lernen, fragt man sich oft, ob man in dem, was man studiert, überhaupt noch vorwärts kommt. Jeder, der wie ich schon einmal eine Sprache gelernt hat, kennt es: Die ersten Fortschritte sind schnell gemacht, man kann fast wöchentlich sehen, wie man sich verbessert und hat seinen Erfolg stets vor Augen. Doch nach und nach fällt einem auf, dass man den Überblick verliert, dass man in einem Meer aus Wörtern und Regeln schwimmt, zwischen denen man droht unterzugehen. Das Vorwärtskommen wird immer stockender, es wird immer mühsamer die Sprachleiter nach oben zu klettern und alles was man sieht, ist eine Sprosse nach der anderen, an der man sich mühevoll nach oben zieht, ohne das Gefühl zu haben irgendwo anzukommen. Und irgendwann erreicht man den Punkt, an dem man nur noch die Hand nach Wissen ausstreckt und verzweifelt greift und doch nichts begreift. Für jedes Wort, das man neu lernt, scheint irgendwo ein Altes verloren zu gehen. Man hat nicht mehr das Gefühl Neues anzuhäufen sondern nur halbwegs das Bedürfnis beisammenzuhalten, was man mit sich trägt. Und so lernt man und lernt, um voran zu kommen, und fühlt sich letztlich doch, als würde man auf der Stelle treten.
Doch oft kommt man voran. Man merkt es nur nicht. Insbesondere Sprachen sind ein Fass ohne Boden, aus dem man ständig schöpfen kann, ohne dass der Inhalt je erschöpft wäre. Das Problem liegt daran, dass wir gewohnt sind den Augenmerk auf das zu legen, was wir nicht haben, statt zu Abwechslung den Fokus einmal auf das zu legen, was wir bereits erreicht haben. Und bei solch endlosen Unterfangen wie dem Erlernen einer Sprache wird man immer einen Berg von Wörtern vor sich sehen, die man noch nicht kennt. Und das ist nicht nur so bei Fremdsprachen, nein, man muss sich nur einmal ein Fachbuch, ein Buch aus dem Antiquariat oder gar ein Tagebuch schnappen, das in wüster Jugendsprache verfasst ist, um zu begreifen welche Lücken man sogar in seiner eigenen Muttersprache vorweist. Das große Problem bei einer Sprache ist, dass man nur schwer messen kann, welche Fortschritte man macht. Als Marathonläufer kann man die Zeit stoppen, als Videospieler kann man seine Höchstpunktzahl übertreffen und als Unternehmer die Gewinne steigern, aber als Sprachschüler bleibt einem nichts übrig als sich einzureden, dass man irgendwie besser geworden ist, denn niemand käme auf die Idee sich hinzusetzen und jeden Monat alle Wörter aufzuzählen, die er aktiv beherrscht, oder sich gar einen Tag mit einem Duden zu beschäftigen und die Wörter zu zählen, die man beim Lesen mit einer Bedeutung verbinden kann, um sich eine eigene Lernkurve zu zeichnen. Das ist einer der Gründe weshalb das Lernen einer Sprache äußerst frustrierend sein kann.
Doch glücklicherweise gibt es immer Momente, in denen man sich selbst auf die Schulter klopfen kann und visuell vor sich hat, was man erreicht hat. Beispielsweise heute, als wir im Unterricht unser bisheriges Lehrbuch abschlossen und uns neuen Lernmaterialien widmeten. Es war jener magische Moment, in dem ich die letzte Seite des alten Buches zuschlug, als ich einige Augenblicke lang die mehr als zweihundert gebundenen Seiten voller Grammatik und Vokabular vor mir auf dem Tisch liegen hatte, die ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte. Es war ein langer und anstrengender Weg gewesen und ich hatte nicht alles mitgenommen, einiges unterwegs verloren, aber im Großen und Ganzen war es doch ein beträchtlicher Berg an Wissen, der dort vor mir lag. Und als ich das neue Buch aufschlug, dachte ich nicht daran welche Fluten von neuem Vokabular auf mich einströmen werden, ich dachte daran wie glücklich und stolz ich auf das Buch zurückblicken werde, wenn es in wenigen Wochen durchgearbeitet auf meinem Tisch liege würde.
Vielleicht sollte man sich an diesen kleinen Dingen ein Beispiel nehmen und ein wenig zuversichtlicher und zufriedener mit jenen Sachen sein, die man erreicht hat, als sich immer nur nach jenen Dingen zu sehnen, die man noch nicht hat. Es ist nicht falsch sich Ziele zu setzen, Träume zu haben, Ideale anzustreben und ich möchte niemanden dazu auffordern selbstgefällig zu prahlen, aber vielleicht sollte jeder von uns auch einmal einen Blick zurück werfen, während wie vorwärts gehen. Einfach einmal sehen welchen Weg wir bereits gekommen sind, welche Berge wir bereits erklommen und welche Meere wir durchschwommen haben. Es ist nicht falsch auch einmal auf sich selbst stolz zu sein, sich selbst für seine eigenen Leistungen auf die Schulter zu klopfen. Denn nur so wird der Weg ins Ungewisse, den jeder von uns beschreitet, nicht zu einem endlosen Kampf, einer ewigen Hetzjagd, sondern zu einer Reise, die wir genießen können.

Dienstag, 23. Juni 2009

Die elf Anderen

Es war nachmittags, der Beginn der dritten Stunde, als Tei, die Chinesin, heute zum Sprachkurs erschien. Nichts Besonderes, dachte sich wohl jeder, denn es ist schon Alltag, dass die Hälfte des Sprachkurses erst irgendwann am späten Vormittag oder Nachmittags den Weg in den Lehrraum findet. Niemand nahm so recht Notiz von ihr, als sie zu ihre Platz schlurfte, ihre Tasche abstellte und daraus eine Tüte hervorkramte. Andächtig und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen lief sie zwischen den Reihen der Teilnehmern umher und legte jedem ein KitKat auf den Platz. Alle waren dankbar, aber doch ein wenig überrumpelt. Süßigkeiten? Womit hatten wir die verdient? Hatte Tei vielleicht Geburtstag? Alle blickten Tei ein wenig verwirrt an, als sie langsam zu ihrem Platz schlurfte, die Tüte zusammenfaltete, in den Rucksack steckte und sich hinsetzte.
"Ich habe heute Vormittag geheiratet."
Einen Moment herrschte vollkommene Stille, dann begannen die ersten Mädchen schrill nachzuhaken: "Wirklich?!?". Alle blickten sich mit offnen Mündern an und niemand wusste so recht, wie man reagieren sollte. Vor allem Frau Ezoe saß auf ihrem Stuhl, blickte sich nervös um und wartete darauf, dass jemand die Situation mit einem Lachen und der Bemerkung, dass alles nur ein Witz wäre, auflösen würde.
"Wirklich."
Tei saß auf ihrem Platz, lächelte und brachte mit ihrer vollkommenen Ruhe alle vollkommen aus dem Konzept. Es dauerte einige Moment, bis die ersten Mädchen schrill kreischend auf sie zustürmten, sie umarmten und ihr gratulierten. Während die eine Hälfte des Kurses sie überschwenglich zu allen Details ihrer Hochzeit und ihrem Ehemann ausfragten, saßen einige da und waren einfach nur baff.
"Hat sie gerade gesagt, dass sie heute Vormittag geheiratet hat?"
"Ja, ich glaube schon."
"Das kommt doch recht überraschend."
Und während nacheinander jeder Tei gratulierte, ihren Ausführung lauschte und die ersten Fotos von der standesamtlichen Trauung die Runde machten, saß Frau Ezoe noch immer an ihrem Lehrerpult, schaute sich verwirrt um und fragte leise:
"Wirklich? Das ist keine Lüge?"
Es sind Momente wie diese, in denen einem schlagartig bewusst wird, dass man die Menschen um sich herum gar nicht wirklich kennt. Und so drängte sich mir die Frage auf, wer diese Leute in meinem Sprachkurs eigentlich sind, mit denen ich ein halbes Jahr meines Lebens teile. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden in Anlehnung an den Artikel über meine Kommilitonen vom letzten Semester ("Die zehn Anderen") diesen Beitrag zu verfassen, der ein wenig Licht auf all jene Personen wirft, mit denen ich den Großteil meines zweiten Semesters hier in Japan teile: die anderen elf Kursteilnehmer.

Cassy, das war das Mädchen, das in China geboren wurde, aber nun schon seit Jahren in Kanada lebt und somit fließend Chinesisch als auch Englisch spricht. Ich kenne sie noch aus dem letzten Semester, maßgeblich durch ihre Bekanntschaft mit Tak, die mittlerweile aber weitgehend abgebrochen ist. Manchmal unterhalten wir uns ein wenig, aber eigentlich haben wir nicht viel miteinander zu tun. Sie versteht sich sehr gut mit allen anderen Mädchen aus dem Kurs, insbesondere aber mit Nikki, mit der sie oft ausgeht oder Ausflüge unternimmt. Sie ist ein wenig faul geworden, schwänzt meist die erste Stunde oder den Nachmittagsunterricht, ist insgesamt aber verhältnismäßig gut. Sie kann Japanisch recht gut sprechen und lesen und profitiert von ihrem chinesischen Sprachverständnis, schließlich teilen sich Japanisch und Chinesisch das Schriftsystem. Sie wohnt im gleichen Wohnheim wie ich und ich glaube sie ist recht oft auf den Feiern hier anzutreffen. Sie studiert in Kanada Grafikdesign und ist mehr oder weniger aus Spass nach Japan gekommen, das heißt ihre Leistungen hier im Sprachkurs haben keinen Einfluss auf ihr Studium in Kanada.
(Das Treffen aus dem letzten Semester, bei dem ich Cassy näher kennenlernte: "Die Frau an seiner Seite")

Chu, das ist eines der zwei koreanischen Mädchen bei uns im Sprachkurs. Sie nimmt sich während des Unterrichts gerne einiges heraus, indem sie keck oder fast schon ironisch auf die Fragen einiger Lehrer antwortet, oftmals auf ihrem Platz schläft und sich fast den ganzen Unterricht über mit ihrer Freundin Kim unterhält. Man könnte fast sagen, dass sie eines jener Problemkinder ist, das immer und immer wieder während des Unterrichts zurechtgewiesen werden muss, kein wirkliches Interesse am Lernen zeigt und folglich oft den Unterricht schwänzt oder unzureichende Präsentationen hält. Sie ist eine jener Studentinnen, bei denen man sich denkt, dass sie das Potential hätte ganz oben im Kurs mitzuspielen, wenn sie nicht so unglaublich faul und demotiviert wäre, denn wenn sie eines kann, dann ist es japanisch sprechen und verstehen. Manchmal habe ich das Gefühl, das sie in unserem Kurs unterfordert ist, zumindest mündlich. Ich glaube sie wohnt im gleichen Wohnheim wie ich, wo sie oft bis früh am Morgen an den zahlreichen, ausschweifenden Partys teilnimmt, weshalb sie an den folgenden Tagen oft im Unterricht fehlt oder auch mal mit Restalkohol im Blut erscheint. Trotz ihrer Trägheit und Aufmüpfigkeit ist sie ein netter Mensch, mit dem man sich sehr gut unterhalten kann. Wir grüßen uns immer, wechseln gelegentlich Worte und verstehen uns trotz unserer grundverschiedenen Lebenseinstellungen recht gut.
(Chu hält ihre unzureichende Präsentation: "Hier kommt die Maus")

Kim, das ist Chus beste Freundin und die zweite Koreanerin bei und im Kurs. Sie ist ein wenig wie eine kleine Prinzessin: Sie sieht wirklich hübsch aus, ist modisch gekleidet und hat ein wenig diese Aura von Unnahbarkeit. Da sie bekannt ist für ihre leise Stimme und oft auf den Boden schaut, während sie redet, ist sie schwer zu verstehen und wurde von den Lehrern immer als das schüchterne, zerbrechliche Küken des Kurses gesehen. Doch mittlerweile weiß wohl jeder, dass sie eine der ausdauernsten Partygängerinnen ist, die sich regelmäßig zutrinkt und gemeinsam mit Chu bis in die frühen Morgenstunden feiert. Im Gegensatz zu Chu kommt sie morgens aber oft pünktlich in den Unterricht, wo sie dann kopfüber auf ihrem Platz hängt und schläft. Große Motivation zu lernen hat sie nicht, lieber redet sie während es Unterrichts oder schminkt sich und wird folglich oft zurechtgewiesen, oft allerdings zwecklos. Ich habe kaum etwas mit ihr zu tun, aber wenn wir doch einmal Gruppenarbeiten haben oder uns kurz unterhalten, verstehen wir uns ziemlich gut.
("Eine Gruppenarbeit mit Kim und Ma: "Unterricht wie immer")

Kou, das ist eine der Chinesinnen bei uns im Kurs, die wegen ihrer hellbraun gefärbten Haare immer ins Auge fällt. Ich weiß nicht viel über sie, weil wie uns nicht unterhalten und sie nicht einmal im gleichen Wohnheim wohnt wie ich. Sie ist verhältnismäßig ruhig und fällt im Unterricht nur durch zwei Sachen auf: Negativ, wenn sie schläft; positiv, wenn sie Fragen stellt. Ja, Kou ist so ziemlich der einzige Kursteilnehmer, der gelegentlich eine Frage stellt. Sie scheint recht fleißig zu sein, bereitet die Lektionstexte vor, arbeitet oft auch tatkräftig mit und zeigt nur selten vollkommenes Desinteresse. Wenn nachmittags alle Kursteilnehmer träge auf ihren Plätzen hängen, sind Kou, Marvin und ich oft die Einzigen, die mitarbeiten und zu viert mit dem Lehrer den Unterricht führen. Manchmal drehe ich mich zu ihr um, wenn der Lehrer etwas Unverständliches erklärt, eine lustige Bemerkung von sich gibt oder sonst irgendetwas Außergewöhnliches macht. Dann wechseln wir lächelnd einen Blick, nicken uns kurz zu oder tauschen ein paar Worte, mehr haben wir aber nicht miteinander zu tun. Am meisten Kontakt hat Kou mit Nikki, neben der sie oft sitzt, und mit der sie oft gemeinsam Rauchen geht. Während des Unterrichts hört man sie oft gemeinsam tuscheln, oft über Privates manchmal aber auch über den Lernstoff.

Ma, der Chinese, dürfte wohl jedem bekannt sein, der meinen Blog regelmäßig liest. Was kann ich noch hinzufügen, was ich nicht schon unzählige Male in meinen Artikeln geschrieben hätte? Er ist der Sonderling des Kurses, oftmals auch unbemerkt die Lachnummer. Sein Japanisch ist schwer zu verstehen und treibt oft auch die Lehrer zur Verzweiflung. Regelmäßig wird er vergeblich aufgefordert langsam und deutlich zu sprechen, sowohl von Lehrern als auch von seinen Konversationspartnern. Er versucht Eigenarbeit zu umgehen, lässt gerne andere die Arbeit erledigen und wird nie müde seinen Standardspruch: "Ich denke gerade" von sich zu geben, der mittlerweile sogar schon von den Lehrern ironisch aufgegriffen wird. Er ist bekannt dafür Lügen zu erzählen, insbesondere wenn er sich dadurch Vorteile oder Anerkennung von den Lehrern verspricht, doch er stellt sich dabei so ungeschickt und unglaubhaft an, dass seine Lügen stets nach hinten losgehen und ihm nur ungläubiges Kopfschütteln einbringen. Gerade wegen des offensichtlichen Heuchelns vor den Lehrern mögen ihn die Kursteilnehmer nicht wirklich. Niemand möchte mit ihm arbeiten, weshalb oft der Zufall über einen Partner für ihn entscheiden muss und wir wissen, dass das Los mich unnatürlich oft trifft. Privat lässt sich kaum etwas über ihn sagen, da er nicht viel von sich erzählt und vieles immer den Beigeschmack von Lügengeschichten hat. Ich habe Gerüchte gehört, dass er in einem chinesischen Restaurant angestellt sein soll und einen Teil seines Lohn zu seiner armen Familie nach China schickt, aber ob dies wirklich stimmt, weiß niemand so recht.
(Eine gelungene Konversationsprüfung mit Ma: "Überraschungen")
(Ein paar Gerüchte und Fakten zu Ma: "Secret of Ma")
(Eine katastrophale Konversationsprüfung mit Ma: "Hören und Verstehen")
(Ein Beispiel für eine Konversation im Unterricht: "Hochzeit in China")

Marvin, das ist gemeinsam mit mir wohl der engagierteste und auch beste Kursteilnehmer. Er erscheint pünktlich zum Unterrichtsbeginn, schwänzt nur sehr selten und arbeitet eigentlich fast immer mit. Nicht nur weil er deutsch spricht verstehen wir uns ziemlich gut, wir liegen etwa auf der gleichen Längenwelle und im Gegensatz zu vielen anderen Kursteilnehmern kenne ich Marvin ein wenig besser. Einerseits ist er bekannt als Gastgeber und Teilnehmer ausschweifender Partys im Wohnheim, doch nebenbei bekomme ich auch ganz andere Facetten von ihm mit: Er hat eine feste japanische Freundin, um die er sich rührend zu kümmern scheint, er reist viel umher, schaut sich vieles interessiert an und hört in seiner Freizeit auch gerne mal klassische Musik. Wir können uns gut unterhalten, witzeln oft gemeinsam im Unterricht und ergänzen uns beim Lernen recht gut. Insgesamt ist er wohl der Kursteilnehmer, dem ich am meisten ähnele. Er verbringt viel Zeit mit Paul, aber auch den anderen Deutschen an der Universität wie Milena, meiner Nachbarin, oder Yosuke, meinem Mitbewohner. Oft laufe ich gemeinsam mit ihm und Paul über den Campus oder sitze im Klassenraum.
(Marvin hält seine Präsentation über schwarze Löcher: "Hier kommt die Maus")

Nikki, das ist das einzige Mädchen aus den Philippinen im Kurs, die sowohl Englisch als auch Tagalog, eine traditionelle Sprache der Philippinen, spricht. Oft unterhalten wir uns mit großem Interesse über unsere Heimatländer und Kulturen, aber auch über Lehrer und Lernmethoden, schließlich möchte sie irgendwann einmal Sprachlehrerin werden. Wir sind bei vielen Dingen auf der gleichen Wellenlänger und können uns hervorragend unterhalten. Manchmal verbringen wir in der Mittagspause oder nach der Uni gemeinsam ein wenig Zeit oder laufen gemeinsam durch Soka. Sie ist wohl meine beste Freundin aus dem Sprachkurs. Obwohl sie oft im Unterricht ist, macht sie gerne auch mal einen Nachmittag oder Vormittag blau, wenn sie keine Lust hat, dann schläft sie lang, liest Bücher oder spielt Computer. Cassy ist ihre beste Freundin im Kurs und gemeinsam verbringen sie viel Zeit, fahren nach Tokyo oder reisen durch Japan. Da sie außerhalb des Wohnheims wohnt, nimmt sie nur bedingt am Partyleben der anderen teil. Laut eigener Aussage verbringt sie lieber einen Abend zu Hause und liest ein gutes Buch.
(Nikki und ich tauschen uns über Lehrmethoden und die Philippinen aus: "Wenn Nikki lehrt und lernt")
(Ein spätabendliches Treffen mit Nikki, bei dem wir uns über unsere Heimatländer austauschten: "Kulturvergleiche")
(Nikki und ich reden Lehrmethoden und den Beruf des Sprachlehrers: "Die Kunst zu Lehren")

Paul, das ist neben Marvin und mir der dritten Deutsche im Kurs. Oftmals sieht man ihm im Zweierpack mit Marvin, weil die beiden stets zusammenkleben und sich auch eine Wohnung im Wohnheim teilen. Dennoch sind die beiden grundverschieden, wenn man sie erst einmal ein wenig kennengelernt hat. Paul ist viel fauler als Marvin, sagt gerne überdeutlich seine Meinung und neigt dazu sich gerne aufzuregen, mal mehr, mal weniger berechtigt. Man könnte fast sagen, dass er ein Mann wie aus dem Bilderbuch ist: Er feiert gerne, redet ständig über Frauen und Sex und verbringt viel Zeit in Kraftraum zum Muskeltraining. Im Gegensatz zu Marvin, der eine feste Freundin hat, redet Paul gerne ausschweifend über seine Eroberungen der letzten Nacht und hält sich mit pikanten Details nicht zurück, selbst wenn ein Lehrer neben ihm steht. Die verstehen doch eh alle kein Deutsch, würde er wohl laut sagen. Er kommt gerne zu spät zum Unterricht, schwänzt aber fast nie. Auch wenn er insbesondere bei seinen Präsentationen recht faul ist und nur das Minimum macht, ist er doch fleißiger als viele andere Kursteilnehmer und hat oft gute bis sehr gute Noten. Manchmal erscheint er mir politisch sehr rechts orientiert, fast schon radikal zu sein, wenn er sehr geschmacklose Bemerkungen über Juden, den Holocaust oder Massenvernichtung macht, wobei ich nur selten einschätzen kann, ob er das Gesagte ernst meint oder einfach nur einen schlechten Witz reißt.
(Paul recyclet seine Präsentation von letzten Semester: "Paul, das Plagiat und die Petze")

Riku, das ist einer der sechs Chinesen und wohl der schlechteste Kursteilnehmer. Er kommt notorisch zu spät, ist eigentlich immer unvorbereitet, hat manchmal nicht einmal die Lehrbücher dabei und weiß nie wo wir uns im Text befinden. Er kann nur schlecht Japanisch reden und insbesondere seine Lesequalitäten lassen zu wünschen übrig. Während man Ma schlecht versteht, weil er die Texte ohne Punkt und Komma vor sich hin nuschelt, schläft man bei Riku eher ein, weil er an jedem Schriftzeichen hängenbleibt und über die Lesung nachgrübelt. Selbst die geduldigsten Lehrer schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und fragen sich wohl regelmäßig, wie Riku es in den Oberkurs geschafft hat. Während des Unterrichts schläft er oft auf seinem Platz oder spielt mit seinem Mobiltelefon, aufpassen tut er nie. Die Lehrer sagen ihm regelmäßig, dass er dringend lernen muss, aber er zeigt so gar kein Interesse und schwänzt lieber den Unterricht. Er gehört auch zu jenen Teilnehmern, die gerne ihren Müll einfach in die Ecke werfen oder auf dem Tisch liegen lassen und sich nicht weiter darum kümmern. In den Pausen verschwindet er stets zum Rauchen irgendwo und scheint nichts anderes zu machen als auf chinesisch zu telefonieren und Kurznachrichten zu tippen. Er redet mit allen chinesischen Kursteilnehmern rege auf Chinesisch, doch am meisten wohl mit Cassy, Ryou und Ma. Ehrlich gesagt habe ich gar nichts mit ihm zu tun, nur gelegentlich werden wir zur Gruppenarbeit in eine Gruppe gesteckt.
(Gruppenarbeit mit Riku und Ma: "Einer für alle, alle für sich!")

Ryou, das ist der dritte chinesische Junge, neben Ma und Riku. Er ist recht faul, schläft gerne im Unterricht oder spielt wie Riku mit seinem Mobiltelefon. Im Gegensatz zu Ma und Riku ist Ryou allerdings recht geschwätzig im Unterricht, meldet sich gerne und erzählt aus seinem Leben. Sein Japanisch ist nicht sonderlich gut, was ihn jedoch nicht daran hindert immer und immer wieder auf Japanisch zu reden, was wegen Satzdreher und falsch benutzter Worte oft zu unbeabsichtigter Komik führt. Ryou nimmt es aber stets mit einem Lachen und plappert munter weiter, weshalb ihn die Lehrer manchmal in seinem Enthusiasmus ein wenig bremsen müssen. Er ist insbesondere beim Lesen ziemlich schlecht und wird oft von den Lehrern gescholten, ist aber dennoch ein liebenswerter Zeitgenosse, der gerne auf Menschen zugeht und irgendetwas fragt oder redet. Obwohl er wie viele andere Kursteilnehmer im gleichen Wohnheim wohnt und meines Wissens fast nie auf die Partys der anderen geht, macht er gerne blau oder kommt zu spät. Lieber ist er in seiner Wohnung, schläft, isst und spielt Computerspiele. Er ist ein regelrechter Computerfreak, interessiert sich für Technik und neue Errungenschaften und kann stundenlang über Videospiele, Mobiltelefone oder ähnliches reden, dennoch haben wir nicht wirklich viel miteinander zu tun.
(Ryou schläft im Unterricht: "Der schlafende Chinese")
(Ryou läd mich ein mit ihm Computerspiele zu spielen: "Yoko sagt, es wird nicht regnen")

Tei, das ist die letzte Kursteilnehmerin, von der ich eigentlich fast nichts weiß. Sie ist nie sonderlich aufgefallen, hat anfänglich viel im Unterricht geschlafen, arbeitet mittlerweile aber oft recht motiviert mit und hat eine erstaunlich gute Präsentation gehalten. In der Pause sitzt sie oft mit mir alleine im Klassenraum, isst ihr Mittagessen und döst vor sich hin. Außer dass sie nicht bei mir im Wohnheim wohnt und heute Vormittag einen Japaner geheiratet hat, weiß ich nichts von ihr.
(Tei fällt mir das erste Mal auf, als sie eine überraschend gute Präsentation hält: "Im Halbschlaf")

Rollenspiele

Wir Menschen sind Schauspieler und die Welt ist unsere Bühne. Und je besser man schauspielert und sich seiner Rolle fügt, desto mehr kann man erreichen.
Das sagen nicht nur irgendwelche schlauen Soziologen und Theaterwissenschaftler, das ist eine Erkenntnis, zu der jeder von uns gelangen kann, wenn er nur aufmerksam genug beobachtet. Täglich schlüpft jeder von uns in dutzende von Rollen und präsentiert eine mehr oder weniger gelungene schauspielerische Leistung, anhand derer er von anderen bewertet wird. Mal spielt man einen Freund, mal einen Schüler, mal einen Fahrgast und manchmal auch einen Liebhaber. Egal wem man begegnet, wen man trifft, immer wird man in eine Rolle gedrängt und muss dementsprechend schauspielern. Man verhält sich anders, wenn man eine Präsentation halten soll, als wenn man man in einem Bewerbungsgespräch sitzt. Man agiert anders wenn man als Angestellter in einem Supermarkt arbeitet, als wenn man auf einer Party mit jemand unbekanntem flirtet. Und wer in seiner Rolle überzeugt hat Erfolg.
Wie gerne rege ich mich beispielsweise über einige meiner Sprachlehrer auf. Der Grund? Sie überzeugen nicht in ihrer Rolle als Lehrer. Sie erklären den Lernstoff unverständlich, haben keinen Spass am Lehren und wissen manchmal selbst nicht weiter. Es ist schwer jemandem Respekt zu zollen, der unglaubwürdig wirkt. Würden wir uns gerne von einem Arzt behandeln lassen, der sich seiner Rolle als Arzt nicht anpasst? Jemand der sich nicht für ein Medikament entscheiden kann und uns mit zittriger Hand ein Präparat in die Hand drückt, der uns ins Gesicht sagt, dass er uns keine Diagnose stellen kann? Kaufen wir nicht lieber bei Servicepersonal ein, bei dem wir das Gefühl haben, dass sie den Kunden respektieren, als bei jenen, die uns das Gefühl geben, dass sie über uns stehen? Und lassen wir uns nicht eher von jenen Menschen überzeugen, die selbstsicher und flüssig ihre Meinungen vortragen, als von jenen, die vor sich hin stammeln und den Eindruck machen selbst nicht von dem überzeugt zu sein, was sie uns erzählen? Unser schauspielerisches Talent ist der Schlüssel zum Erfolg, weshalb man fast nichts besseres machen kann, als sich zu verstellen und in andere Rollen zu schlüpfen. Und je überzeugender man darin wirkt andere Denkweisen und Verhaltensweisen zu adaptieren, um so gewappneter ist man für das alltägliche, menschliche Miteinander.
Am Sonntag, Tag 261 in Japan, habe ich darum den Abend damit verbracht mit einer Freundin übers Internet Rollenspiele zu spielen. Sie, als angehende Psychologin, schlüpfte in die Rolle der Therapeutin, während ich mir Patienten mit psychischen Störungen ausdachte und zum Besten gab. Und je mehr wir uns beide ins Zeug legten und uns in unsere Rollen einfanden, um so größer war der Nutzen für uns beide. Ich konnte meiner Freundin sagen wie überzeugend ich sie in ihrer Rolle als ernstzunehmende Therapeutin fand, zu welchen Zeitpunkten ich mich als Patient angegriffen oder missverstanden gefühlt hätte, wohingegen ich ihr mehr Freiraum zu einer umfassenden Analyse meiner Psyche bot, je besser und überzeugender ich mich in der Rolle des Patienten einfand. Und so schauspielerte ich an diesem Abend was das Zeug hielt: Mal war ich eine menschenscheue Apothekerin mit Minderwertigkeitskomplex, dann wieder ein aufdringlicher, ungeduldiger Student, der am Leistungsdruck und Konkurrenzdenken zerbrach. Je breiter mein Spektrum an Rollen und schauspielerischen Leistungen, desto größer war für meine Freundin die Herausforderung sich immer wieder auf neue Charaktere einzulassen und ihr eigenes Schauspiel immer wieder von neuem anzupassen. Über zwei Stunden verbrachten wir so den Abend und mussten am Ende an einige Gespräch herzlich lachen über die ausgefallenen und doch überzeugenden schauspielerischen Leistungen, die wir erbracht hatten.
Aber wo ist bei all dem Schauspiel das Ich? Eine schwere Frage, auf die nicht einmal die Gesellschaftswissenschaften eine einheitliche Antwort haben. Einige gehen sogar so weit zu sagen, dass es gar kein Ich gibt, weil wir in jeder Interaktion mit anderen eine Rolle einnehmen und schauspielern, selbst gegenüber unseren engsten Familienmitgliedern, unseren besten Freunden und unserem Beziehungs- oder Ehepartner. Ja sogar uns selbst spielen wir etwas vor. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass hinter all dem Schauspiel ein Ich steht, das wir in unser Schauspiel einfließen lassen, das uns als Individuum bestimmt und von anderen abhebt. Wir wir herausfinden was an uns echt ist und was nur Schauspiel? Nun, indem wir uns einmal selbst beobachten und fragen, was bleibt, wenn wir all jene Dinge abstreifen, die wir uns selbst vorspielen, wenn niemand anderes da ist. Und ja, damit sind wir wieder an jenem Punkt angelangt, über den ich schon einmal geschrieben habe ("Von Prinzipien, Bürden und der Suche nach sich selbst").
Gleichzeitig man selbst sein und sich schauspielend in eine Rolle einfügen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg in jeder Hinsicht. Aber das heißt nicht perfekt zu sein, nicht mechanisch nach einem unsichtbaren Skript zu handeln. Vielmehr heißt es zu überzeugen in dem, was man macht. Und manchmal heißt das auch Schwächen zu zeigen, verletzlich zu sein. Denn wir schätzen Freunde und Partner nicht, weil sie perfekt sind, weil sie auf alles eine Antwort wissen, weil sie uns mit ihrem Wissen ausstechen können. Die Rolle eines guten Freundes und Partners erfüllt man, wenn man angreifbar und verletzlich wird, wenn man Seiten von sich zeigt, die man sonst in keiner anderen Rolle präsentiert. Zu schauspielern heißt nicht sich selbst etwas vorzumachen, einem moralischen Ideal folgen, nein, es heißt einfach nur eine Rolle authentisch mit Leben zu füllen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Sonntag, 21. Juni 2009

Wenn Nikki lehrt und lernt

Jeden Freitag besucht Nikki ein Seminar an der Universität, in dem sie lernt wie man Ausländer effizient Japanisch lehrt, eine unerlässliche Veranstaltung für jeden angehenden Japanischlehrer. Die Dozentin ist die motivierte, überfreundliche und doch strenge Frau Nakanishi, meine Sprachlehrerin vom Donnerstag, die allen Teilnehmern regelmäßig Hausaufgaben aufgibt, an denen diese dann eine Woche lang zu knabbern haben. Meist dreht es sich um das Entwickeln von Erklärungsmodellen für Grundlagen der Japanischen Grammatik: Wie erklärt man die Grundlagen des Satzbaus, wie erklärt man die Funktion einzelner Partikel, womit veranschaulicht man seine Erklärung, um es möglichst einprägsam vorzutragen.
Mit diesen Fragestellungen setzt sich auch Nikki Woche für Woche auseinander und nicht selten zieht sie mich dabei zu Rate. Dann treffen wir uns nach dem Unterricht, setzen uns irgendwo zu zweit hin und lassen unserer Kreativität freien Lauf. Nikki erklärt mir wie ihre Hausaufgabe lautet, worauf es ankommt und ich kommentiere dann ihre bisherigen Lösungsvorschläge. Manchmal feile ich ein wenig an ihrem Konzept oder schlage ihr ganz neue Strategien vor, an die sie bisher noch gar nicht gedacht hatte. Und so erarbeitet Nikki Woche für Woche in Partnerarbeit mit mir Lehrmethoden und durchdachte Lösungen für die geforderten Hausaufgaben, während ich nebenbei jede Menge über das Lehren lerne. Ein netter Nebeneffekt, schließlich habe ich früher immer mit dem Gedanken gespielt Sprachlehrer zu werden.
Doch Nikki lernt mit mir nicht nur für ihr Seminar, sie erzählt mir auch immer wieder Interessantes über die Philippinen, ihr Heimatland. So auch heute, an Tag 259 in Japan, als ich ihr Gesellschaft leistete, während sie nach dem Unterricht auf den Beginn ihrer Lehrveranstaltung bei Frau Nakanishi warten musste. Die anderen Studenten des Sprachkurses hatten die Universität bereits verlassen, als Nikki und ich zu zweit im leeren Klassenraum saßen, unser Mittagessen auspackten und begannen uns zu unterhalten. Während jeder von uns seinen Reis und die Beilagen nach und nach verspeiste, tauschten wir uns über die Probleme und Jugendkultur in unseren Ländern aus, denn darüber kann man sich gut mit Nikki unterhalten, da sie auch bei heiklen Themen kein Blatt vor den Mund nimmt. Und so erzählte sie munter von der immer bequemer und fauler werdenden Jugend in den Philippinen, die genau jenes Gut vernachlässigte, für das die Philippinen weithin bekannt waren: Die englische Sprache.
"Wir sind bekannt für unser gutes, akzentfreies Englisch. Darum werden wir oft für Korrespondenzen in Asien angeheuert und viele asiatische Ausländer kommen zu uns, um Englisch zu lernen. Doch das Englisch der Jugend wir immer schlechter und darum geht es mit der Wirtschaft immer weiter bergab. Man ist zu faul geworden richtiges Englisch zu lernen und mischt es mit Tagalog, einer traditionellen Sprache in den Philippinen. Darum wurde von staatlicher Seite das Englisch gefördert und sogar zur zweiten Amtssprache ernannt, doch das kümmert die Jugend herzlich wenig. Weißt du, es ist eine Art Teufelskreis in den Philippinen: Die Armen bleiben arm und die Reichen reich, darum sehen vor allem die Armen keinen Sinn darin Englisch zu lernen, wenn sie letztlich doch nur als Haushälter, Chauffeur oder ähnliches enden. Ich denke ich kann froh sein, dass ich aus einem reichen Haushalt komme und mir alle Wege offen stehen. Wir haben Angestellte, ein großes Grundstück und meine Mutter muss nicht einmal arbeiten. Dennoch sehe ich das Elend um mich: Wenn ich im Auto zur Schule gefahren werde, betteln die Armen an der Autoscheibe und wollen Geld. Aber das kann ich ihnen nicht geben, denn einerseits sind es zu viele Bettelnde und man kann sich nicht entscheiden wer es verdient hat und wer nicht, andererseits müssen sie selbst arbeiten, um Geld zu bekommen. Das klingt hart, aber in den Philippinen gibt es immer mehr Menschen, die zu faul sind zu arbeiten, da verschlimmert man alles nur, wenn man ihnen Geld für nichts gibt. Ja, es ist nicht alles perfekt in den Philippinen und ich frage mich oft wie sich mein Land in Zukunft entwickeln wird.".
Interessiert hörte ich Nikki zu und war überrascht wie viele Gemeinsamkeiten unsere Heimatländer hatten, obgleich sie doch so unterschiedlich waren. Fast eine Stunde lang lernte ich von Nikki und sie von mir, dann verabschiedeten wir uns und sie machte sich auf den Weg in ihr Seminar, um vorzustellen, was wir in der vergangenen Woche gemeinsam erarbeitet hatten.
"Irgendwann musst du mal mitkommen in das Seminar. Ich denke das könnte dir gefallen."
Ich dachte ernsthaft darüber nach. Vielleicht würde ich das wirklich einmal machen.

Freitag, 19. Juni 2009

Unterricht wie immer

An meinem 257. Tag in Japan saß ich mit meinem Sprachkurs wie immer im Unterricht: Aufmerksam, still und begierig den Worten des Lehrers lauschend. Man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören können, so ruhig saßen die Kursmitglieder auf ihren Stühlen, die Lehrbücher vor sich aufgeschlagen und sorgfältig jedes Wort von Frau Sakatani notierend. Wie immer.
Aber halt, irgendetwas stimmt doch hier nicht. Ist mein Kurs denn nicht bekannt für Reden und Schlafen während der Monologe des Lehrenden, mangelnde Motivation bis hin zur vollkommene Teilnahmslosigkeit und Missachtung sämtlicher Anstandsregeln? Eigentlich schon, doch heute war ein besonderer Tag: Ein Kamerateam filmte uns während des Unterrichts, um einen Eindruck vom Japanischunterricht für Ausländer zu erhalten. Verhaltet euch wie immer, hatte man uns gesagt, was natürlich dazu führte, dass sich niemand wie immer verhielt und jeder Student sich von seiner Schokoladenseite zeigen wollte. Und so verursachte Frau Sakatanis Ankündigung des Fernsehteams helle Panik unter den Anwesenden: Eifrig wurden Trinkpäckchen, Flaschen und Essensreste von den Tischen geräumt, das Lehrbuch zurechtgerückt und auf einer Seite ohne Randbemalung aufgeschlagen, die Kleidung zurechtgelegt, Schminke ausgepackt, um sich schnell hübsch zu machen, und ein Blick in die Lernunterlagen geworfen, um überhaupt zu wissen, worüber bereits den ganzen Vormittag geredet worden war. Fast fünf Minuten lang herrschte vollkommener Ausnahmezustand, als alle wild durch die Gegend rannten, sich den Lidschatten der besten Freundin borgten, mit Spucke einzelne Haarsträhnen zurechtformten, dem Sitznachbar erklärten worum es in der Lektion ging und lauthals ihre Panik in den Raum schrieen. Und als das Kamerateam dann mit seiner schweren Ausrüstung in den Raum gelaufen kam, war unser Kurs perfekt: Gesittete Studenten, die mit einem umwerfenden Lächeln an ihren Plätzen saßen und erstaunt von ihren Lehrbüchern aufblickten, mit denen sie die vergangenen Tage ununterbrochen gelernt hatten. Und selbst Frau Sakatani wirkte lieferte eine Show wie wir sie nur selten gesehen hatten, teilte Aufgabenblätter aus die sie eigens für diese Stunde vorbereitet hatte, lachte und scherzte am laufenden Band und lief hilfsbereit zwischen den Studenten umher, um vor der Kamera zu zeigen wie sie jedem Student ihre Unterstützung aufdrückte. Sich aktiv am Unterricht beteiligen wollte sich dann aber kaum jemand, zu viel Angst hatten die meisten sich vor laufender Kamera zu blamieren und sich vor einem Millionenpublikum zur Lachnummer zu machen. Und so durchbrach Marvin irgendwann die Stille, was das Kamerateam dazu bewegte sein Gesicht sofort in Großaufnahme zu filmen, woraufhin Marvin merklich irritiert vor sich hin stotterte. Als ich dann begann zu reden, hatte der Kameramann offensichtlich das Interesse an Nahaufnahmen von Deutsche verloren und ließ die Kamera über die Gesichter der anderen Kursteilnehmer schwenken, die alle eifrig nickend meinen Worten beipflichteten.
Es dauerte keine Viertelstunde, da war er Spuk vorbei und das Kamerateam wieder verschwunden. Im Kurs kehrte wieder die Normalität ein und ich widmete mich der Gruppenarbeit, die während des Filmens nur sehr schleppend vorangekommen war. Wie gewöhnlich war ich Ma zugeteilt worden und musste mich mit ihm und einer Koreanerin namens Kim über das jeweilige Steuersystem in unserem Land austauschen. Ein Thema, an dem niemand wirklich Interesse zeigte. Eine Weile lang verglich ich die wenigen Dinge, die ich über das deutsche Steuersystem wusste, mit dem spärlichen Wissen von Kim, bis diese sich Ma zuwandte.
"Wie ist es in China?"
"Nein."
Einen Moment schwieg Kim, dann ließ sie ihren Kopf zu mir schwenken, verdrehte die Augen und schüttelte resigniert den Kopf.
"Willst du sagen, es gibt kein Steuersystem in China?"
"Lüge."
"Kannst du auch in ganzen Sätze antworten?"
Ma grinste vor sich hin, ignorierte Kims Frage und kritzelte in sein Lehrbuch, während diese ihn merklich gereizt anblickte, aber nichts mehr sagte. Also versuchte ich mein Glück, im Umgang mit Ma war ich ja schon geübt.
"Wieviel Prozent Mehrwertsteuer gibt es denn in China?"
Ma blickte mich verständnislos an.
"Wenn du etwas für einhundert Yen kaufst, wieviel Yen sind davon dann Mehrwertsteuer?"
"Zweihundert Yen."
"Das kann nicht sein. Einhundert Yen sind ja bereits der Gesamtpreis. Die kannst du unmöglich überschreiten. Meinst du vielleicht die Hälfte? Fünfzig Prozent?"
"Zweihundert Prozent."
Ich sah förmlich wie der Kopf von Kim kurz davor war zu explodieren als Ma die Postulierung seiner Fantasiefakten über das chinesische Steuersystem fortsetzte. Und so gab ich es dann irgendwann auf und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, während Kim hitzig mit Ma diskutierte. Sich über Steuern auszutauschen war sicherlich kein leichtes Thema, aber es war doch besser zu seiner Unwissenheit zu stehen, als zu lügen. Aber aufregen wie Kim tat ich mich nicht. Ich war die Gruppenarbeit mit Ma bereits gewohnt und wusste wann es keinen Sinn machte mit ihm zu diskutieren, weil es ja doch zu nichts führen würde. Und so zuckte ich nur mit den Schultern, als ich begann das Resumée unserer Gruppenarbeit zu verfassen und dachte mir still, dass es letztlich Unterricht wie immer war.

Mehr als nur ein Dialog

Lehrbücher können machmal etwas seltsam sein. Aber sie dienen schließlich nur dem Erlernen der Sprache, maßgeblich dem Ausbau der Grammatik und des Vokabulars, da drückt man auch gerne einmal ein Auge zu, wenn der Inhalt der zu bearbeitenden Texte und Dialoge nicht sehr überzeugend ist. Dennoch arbeiten sich die Lehrer Lektion für Lektion durch mehr oder weniger durchdachten Texte und Dialoge, ohne auch nur einmal eine eigene Meinung zu den Lehrmaterialien abzugeben. Der Zweck heiligt die Mittel, denn warum sollte man sich über den Inhalt des Lehrbuches aufregen, solange die geforderte Grammatik und das notwendige Vokabular behandelt werden. Es macht keinen Unterschied, ob man über Topfpflanzen mit langen Wurzeln, die technischen Bestandteile von Robotern, die chemischen Vorgänge bei der Sauerstoffübertragung im Blut oder den Weltrekord des Milch-aus-den-Augen-Spritzens redet, denn letztlich lernt man nur das Vokabular und die Grammatik für den wöchentlichen Kurztest und ignoriert jegliche Art von inhaltlicher Kritik. Insbesondere unsere Sprachlehrer scheinen äußerst trainiert darin zu sein den Lernstoff abzuarbeiten, ohne auch nur ein einziges Wort über ihre eigene Meinung gegenüber dem Inhalt zu verlieren. Zumindest war es bisher so, denn heute brach Frau Hara das Eis und machte sich das erste Mal über das Lehrbuch lustig.
Frau Hara, das war die junge Sprachlehrerin, die auf mich eher den Eindruck einer Referendarin, als einer ausgebildeten Sprachlehrerin machte, zumindest äußerlich ("Dokkyo-Reprise"). Bisher war sie nie auffällig aus der Masse der Sprachlehrer hervorgetreten: Sie war weder sonderlich streng, klebte nicht übertrieben am Lehrbuch, hatte keine nervigen Angewohnheiten, führte ohne Fehler und in angemessener Motivation durch den Unterricht und hatte sich nie in irgendwelche peinlichen Situation manövriert. Sie war einfach nur die nette Lehrerin vom Montagmorgen, die jeder ganz nett fand. Und darum überraschte es mich auch ein wenig, als sie heute beim Vorlesen der Dialoge aus dem Lehrbuch unerwartet begann zu lachen.
"Das ist so ein unsinniger Dialog. Niemand würde das je so sagen."
Sie ließ sich nicht sehr viel mehr über das Lehrbuch aus, aber es war diese kurze Bemerkung und ihr unterschwelliges Kichern, während des Lesens der restlichen Dialoge, die mir das erste Mal bewusst werden ließen, dass ich nicht ohne Grund den Kopf schüttelte, wenn wir wieder einmal einen weniger schlüssigen Dialog lasen.
Zum Ende der Stunde mussten wir in Gruppenarbeit einen gemeinsamen Dialog nach Vorgaben des Lehrbuchs erstellen. Wir sollten jemanden trösten, dessen Haustier verstorben war und Frau Hara schüttelte bereits resigniert den Kopf, als sie uns die Papiere zum Aufschreiben unserer kreativen Ergüsse austeilte. Da ich mit Paul und Marvin, den beiden anderen Deutschen, in einer Gruppe war und wir um Frau Haras Missbilligung des Lehrbuches wussten, erstellten wir bewusst einen vollkommen ironischen Dialog über das tragische Ende des Kanarienvogels Piepi, den wir mit übertriebener Theatralik und massig Seufzern und künstlichen Tränen vortrugen. Der Kurs, Frau Hara und nicht zuletzt wir hatten helle Freude an unserem Schauspiel und die geforderten Formulierungen und Wörter lernten wir ebenfalls. Und so genossen wir für den Moment die stille Kritik an unserem Lehrbuch und seinem stellenweise fragwürdigen Inhalt.
Immer wenn man nach den Mittagessen die Mensa der Universität verlässt, muss man durch eine wahre Allee von Studenten, die mit Zettel für alle nur erdenklichen Aktivitäten werben. Für gewöhnlich winke ich ab und lasse im Sekundentakt "Nein, danke." aus mir heraussprudeln, doch heute kam ein ganz hartnäckiger Japaner auf mich zu und war überzeugt mich als neues Mitglied für seinen Sportclub anzuwerben. Bekleidet mit einem engen Muskelshirt, das sich über seinen durchtrainierten Körper spannte und jeden einzelnen Muskel seines Oberkörpers betonte, baute er sich vor mir auf.
"Du siehst aus als würdest du gerne Football spielen."
"Sehe ich so aus?"
"Du würdest dich gut in unserem Team machen. Komm einfach mal zum Training vorbei."
Ich war nicht sonderlich sportlich und schon gar nicht interessiert an Football. Und so versuchte ich mich irgendwie aus der Konversation herauszuwinden. An sich hätte ich nichts gegen ein wenig Bewegung, doch ausgerechnet Football?
"Ach, ich bin nicht so sportlich."
"Trainier regelmäßig mit uns und das dürfte kein Problem mehr sein." 
"Nun, ich bin zur Zeit ziemlich beschäftigt mit Lernen. Ich glaube das wird nichts."
"Du lernst Japanisch? Fein, wir können während des Trainings auf Japanisch reden, dann übst du nebenbei noch ein wenig."
Er war gut darin jedes meiner Argumente so zu verdrehen, dass es sich gegen mich selbst richtete. Und wenn er mich nicht gerade für Football angeworben hätte, wäre ich wohl auf sein Angebot eingegangen. Einfach aus dem Grund, weil mir die Gegenargumente ausgingen.
"Ich werde drüber nachdenken, okay?"
"Wenn ich dich morgen sehe, rede ich dich wieder an."
Ich lächelte ein wenig schief und wollte irgendwo in der Menschenmenge untertauchen, da drückte er mir noch einmal fest die Hand.
"Takagi. Ich heiße Takagi. Und du?"
"David."
Soviel wusste ich über Anwerbe- und Verkaufsstrategien: Wenn man erst einmal eine persönliche Bindung aufgebaut hatte, wurde es immer schwerer für den Angeworbenen abzusagen. Und so fühlte ich mich schon fast in der Verpflichtung zuzusagen, konnte mich aber irgendwie noch aus dem Gespräch winden und lief schnurstracks ins nächste Gebäude. Takagi war ganz nett gewesen, aber doch war unser Dialog ein Paradebeispiel für kommunikative Kriegsführung gewesen. Und ich hatte haushoch verloren.