An meinem 257. Tag in Japan saß ich mit meinem Sprachkurs wie immer im Unterricht: Aufmerksam, still und begierig den Worten des Lehrers lauschend. Man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören können, so ruhig saßen die Kursmitglieder auf ihren Stühlen, die Lehrbücher vor sich aufgeschlagen und sorgfältig jedes Wort von Frau Sakatani notierend. Wie immer.
Aber halt, irgendetwas stimmt doch hier nicht. Ist mein Kurs denn nicht bekannt für Reden und Schlafen während der Monologe des Lehrenden, mangelnde Motivation bis hin zur vollkommene Teilnahmslosigkeit und Missachtung sämtlicher Anstandsregeln? Eigentlich schon, doch heute war ein besonderer Tag: Ein Kamerateam filmte uns während des Unterrichts, um einen Eindruck vom Japanischunterricht für Ausländer zu erhalten. Verhaltet euch wie immer, hatte man uns gesagt, was natürlich dazu führte, dass sich niemand wie immer verhielt und jeder Student sich von seiner Schokoladenseite zeigen wollte. Und so verursachte Frau Sakatanis Ankündigung des Fernsehteams helle Panik unter den Anwesenden: Eifrig wurden Trinkpäckchen, Flaschen und Essensreste von den Tischen geräumt, das Lehrbuch zurechtgerückt und auf einer Seite ohne Randbemalung aufgeschlagen, die Kleidung zurechtgelegt, Schminke ausgepackt, um sich schnell hübsch zu machen, und ein Blick in die Lernunterlagen geworfen, um überhaupt zu wissen, worüber bereits den ganzen Vormittag geredet worden war. Fast fünf Minuten lang herrschte vollkommener Ausnahmezustand, als alle wild durch die Gegend rannten, sich den Lidschatten der besten Freundin borgten, mit Spucke einzelne Haarsträhnen zurechtformten, dem Sitznachbar erklärten worum es in der Lektion ging und lauthals ihre Panik in den Raum schrieen. Und als das Kamerateam dann mit seiner schweren Ausrüstung in den Raum gelaufen kam, war unser Kurs perfekt: Gesittete Studenten, die mit einem umwerfenden Lächeln an ihren Plätzen saßen und erstaunt von ihren Lehrbüchern aufblickten, mit denen sie die vergangenen Tage ununterbrochen gelernt hatten. Und selbst Frau Sakatani wirkte lieferte eine Show wie wir sie nur selten gesehen hatten, teilte Aufgabenblätter aus die sie eigens für diese Stunde vorbereitet hatte, lachte und scherzte am laufenden Band und lief hilfsbereit zwischen den Studenten umher, um vor der Kamera zu zeigen wie sie jedem Student ihre Unterstützung aufdrückte. Sich aktiv am Unterricht beteiligen wollte sich dann aber kaum jemand, zu viel Angst hatten die meisten sich vor laufender Kamera zu blamieren und sich vor einem Millionenpublikum zur Lachnummer zu machen. Und so durchbrach Marvin irgendwann die Stille, was das Kamerateam dazu bewegte sein Gesicht sofort in Großaufnahme zu filmen, woraufhin Marvin merklich irritiert vor sich hin stotterte. Als ich dann begann zu reden, hatte der Kameramann offensichtlich das Interesse an Nahaufnahmen von Deutsche verloren und ließ die Kamera über die Gesichter der anderen Kursteilnehmer schwenken, die alle eifrig nickend meinen Worten beipflichteten.
Es dauerte keine Viertelstunde, da war er Spuk vorbei und das Kamerateam wieder verschwunden. Im Kurs kehrte wieder die Normalität ein und ich widmete mich der Gruppenarbeit, die während des Filmens nur sehr schleppend vorangekommen war. Wie gewöhnlich war ich Ma zugeteilt worden und musste mich mit ihm und einer Koreanerin namens Kim über das jeweilige Steuersystem in unserem Land austauschen. Ein Thema, an dem niemand wirklich Interesse zeigte. Eine Weile lang verglich ich die wenigen Dinge, die ich über das deutsche Steuersystem wusste, mit dem spärlichen Wissen von Kim, bis diese sich Ma zuwandte.
"Wie ist es in China?"
"Nein."
Einen Moment schwieg Kim, dann ließ sie ihren Kopf zu mir schwenken, verdrehte die Augen und schüttelte resigniert den Kopf.
"Willst du sagen, es gibt kein Steuersystem in China?"
"Lüge."
"Kannst du auch in ganzen Sätze antworten?"
Ma grinste vor sich hin, ignorierte Kims Frage und kritzelte in sein Lehrbuch, während diese ihn merklich gereizt anblickte, aber nichts mehr sagte. Also versuchte ich mein Glück, im Umgang mit Ma war ich ja schon geübt.
"Wieviel Prozent Mehrwertsteuer gibt es denn in China?"
Ma blickte mich verständnislos an.
"Wenn du etwas für einhundert Yen kaufst, wieviel Yen sind davon dann Mehrwertsteuer?"
"Zweihundert Yen."
"Das kann nicht sein. Einhundert Yen sind ja bereits der Gesamtpreis. Die kannst du unmöglich überschreiten. Meinst du vielleicht die Hälfte? Fünfzig Prozent?"
"Zweihundert Prozent."
Ich sah förmlich wie der Kopf von Kim kurz davor war zu explodieren als Ma die Postulierung seiner Fantasiefakten über das chinesische Steuersystem fortsetzte. Und so gab ich es dann irgendwann auf und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, während Kim hitzig mit Ma diskutierte. Sich über Steuern auszutauschen war sicherlich kein leichtes Thema, aber es war doch besser zu seiner Unwissenheit zu stehen, als zu lügen. Aber aufregen wie Kim tat ich mich nicht. Ich war die Gruppenarbeit mit Ma bereits gewohnt und wusste wann es keinen Sinn machte mit ihm zu diskutieren, weil es ja doch zu nichts führen würde. Und so zuckte ich nur mit den Schultern, als ich begann das Resumée unserer Gruppenarbeit zu verfassen und dachte mir still, dass es letztlich Unterricht wie immer war.
4 Kommentare:
Haha, das ist ja sooo lustig wie alle panisch auf das Kamerateam reagiert haben.
Dazu hatten wir letztens gar keine Zeit, denn wir haben das dadurch erfahren, dass das Kamerateam einfach reinkam. Aber bevor die Kamera anging, erhielten wir noch die netten einführenden Worte von unserem Professor. "Seien Sie einfach so wie immer... ich werde Sie heute vielleicht ausnahmsweise mal nicht so niedermachen wie sonst " ;-)
Musstet ihr das Ergebnis der Gruppenarbeit vortragen? Denn dann hätte ich Mas utopische Zahlen einfach mit vorgetragen.
Jaja, die sinnlosen Worte, die man immer hört: "Seien Sie einfach so wie immer..", denn letztlich ist es ja nie "wie immer". Und ich finde es amüsant, dass wir beide in der Uni von Kamerateams gefilmt wurden. Nach deinem Erlebnis im Loro-Park, bist du aber wahrscheinlich schon ein Kamera-Veteran ; )
Wir mussten unsere Ergebnisse vortragen, aber ich habe bewusst nur über Kim und mich gesprochen. Und Frau Sakatani hat natürlich nicht nachgefragt. Es weiß ja jeder, dass Gruppenarbeit mit Ma, nun ja, nicht sehr ergiebig ist.
fuer wen ist das video denn vorgesehen? fuer kuenftige aspiranten der soka uni?
ich stell mir das lustig vor. angenommen ich bin ein student, der nach soka moechte, und ich seh das video. dann ist das einzige, was ich von den sprachkursen in soka weiss: die studenten sind alle wach, ordentlich, brav, gut gepflegt, begeistert bei der sache, notieren fleissig alles mit, die lehrer sind motiviert, helfen wos nur geht und verteilen interessante aufgabenblaetter. und vor allem: so sind sie immer, denn schliesslich verhalten sie sich ja wie immer :) aus der perspektive ist es echt lustig :)
Das ist das Seltsame, niemand wusste was mit dem Videomaterial passiert. Vielleicht muss ich einfach mal auf eigene Faust die Webseite der Dokkyo-Universität durchforsten und Ausschau nach dem Verbleib der Videomitschnitte halten.
Wenn ich etwas finde, kannst du dich selbst von dem vollkommen authentischen und wirklichkeitsgetreuen Filmmaterial überzeugen. : )
Kommentar veröffentlichen