Montag, 1. Juni 2009

Freitags vom Montag lernen

"Ich glaube, ich hätte mir den Ausflug sparen können."
"War es denn so uninteressant?"
"Es war eher das Gesamtpaket, das mich nicht überzeugt hat."
Selten offenbarte Lee ihre Meinung so deutlich, weswegen ich mutmaßte, dass ihr Ausflug am vergangenen Montag wirklich nicht sehr erfüllend gewesen war. Die Sehenswürdigkeiten schienen wie erwartet sehenswert und beeindruckend gewesen zu sein, doch ausreichend Zeit zum Bestaunen war ihr nicht geblieben. Viel zu spät war sie mit den anderen aus ihrer Reisegruppe angekommen, viel zu früh wieder gegangen. Gerade einmal vier Stunden hatten sie in dem Touristenort verbracht, der Inhalt für eine mehrtägigen Urlaub geboten hätte. Dabei waren sie nicht einmal die einzigen, die sich dort getummelt hatten. Wie zu erwarten waren zur golden week japanische Touristen aus dem ganzen Land zusammengekommen, um ihre arbeitsfreie Zeit mit dem Beschauen der dortigen Sehenswürdigkeiten zu verbringen. Da hatte es auch nicht geholfen, dass Lees Reisepartner sich dort vor geraumer Zeit alles schon einmal angesehen hatten und somit weitaus schneller an den Sehenswürdigkeiten vorbei hasteten, als ihr lieb gewesen wäre. Und so war sie letztlich kaum zum Fotografieren und andächtigen Betrachten gekommen, was sie sich eigentlich erwünscht hätte. Über fünfzig Euro hatte sie für den Ausflug aus dem Fenster geworfen und war dementsprechend enttäuscht vom Resultat.
Unweigerlich musste ich an meinen Trip nach Kyoto denken. Damals hatte ich meine Lektion gelernt: Gruppenausflüge und Sehenswürdigkeiten betrachten  vertrugen sich nicht. Zumindest nicht, wenn man die falschen Leute dabei hatte. Dieses Mal war ich schlauer gewesen und hatte mich frühzeitig von dem Reisevorhaben distanziert, wie sich herausstellte zurecht. Und so konnte ich mir ein gewisses Gefühl von Triumph nicht verkneifen. Nicht über Lees enttäuschenden Kurzausflug, sondern über meine richtige Entscheidung, die mir einen anstrengenden und letztlich doch nutzlosen Tag, sowie über fünfzig Euro erspart hatte. "Lass uns nach dem Semester noch einmal zusammen dorthin fahren und mit ausreichend Zeit alles gründlich anzusehen.", lud ich Lee ein, die lachte und ein nichtssagendes "Ja, vielleicht machen wir das." erwiderte.
Sechs Leute saßen heute im Sprachkurs. Dass die anderen nicht gekommen waren, konnte ich ihnen nicht verdenken, schließlich schwamm der Freitag einsam zwischen der golden week und dem Wochenende und lud dazu ein blau zu machen. Obendrein war es nur recht belangloser Konversationsunterricht, der weder direkt in einer Prüfung abgefragt werden würde, noch neues Vokabular einführte. Symbolisch hatten wir unsere Plätze gewählt: Der Chinese Ma saß am einen Ende des Raumes, die fünf übrigen Teilnehmer am anderen. Allerdings nur die erste Unterrichtsstunde, denn danach war wieder Zweierarbeit gefragt und wen hätte es anderes treffen können als mich. Ein wenig ungehalten über die Entscheidung des Lehrers schlurfte ich mit meinen Unterlagen durch den Raum, begleitet von Gekicher der übrigen vier Teilnehmer und setzte mich neben Ma.
"Dann lass uns Mal anfangen."
"Ich denke gerade."
"Ja. Natürlich."
Und so schrieb ich wie schon beim letzten Mal den Dialog alleine. Doch mehr als das, störte mich der Gedanken in der kommenden Woche wieder einmal mit Ma meine Konversationsprüfung führen zu müssen. "Ich wäre besser dran gewesen, hätte ich den heutigen Tag zu Hause verbracht.", dachte ich mir in Anbetracht des sinnlosen Freitagsunterrichts, der mir mehr Ärger als Gutes gebracht hatte. "Schließlich hat es am Montag auch geklappt.".

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