Was an Tag 242 in Japan passierte, verschwamm irgendwo zwischen Wachsein und Schlafen, irgendwo in jenem Zustand, in dem man zwar herumläuft und redet, das Gehirn aber nur mit halber Leistung läuft und man folglich längere Reaktionszeiten hat, mehr Zeit zum Nachdenken benötigt und das gesamte Geschehen wie durch einen Schleier wahrnimmt. Am Wochenende hatte ich zu lange mit einer Freundin telefoniert, bis halb Vier Uhr am Morgen, vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb ich so müde war. Aber hätte ich dann nicht eigentlich gestern schon halb einschlafen müssen?
Wie dem auch sei, der gesamte Vormittag war ein einziges Desaster. Mein Körper saß im Unterricht von Frau Kitamura und doch war ich geistig weggetreten. Während wir den Text lasen, blickte ich unentwegt auf die Zeichen, die vor meinen Augen tanzten und sich einfach nicht zu einem sinnvollen Satz zusammenfügen wollten. Und so rauschte der gesamte Inhalt an mir vorbei, ohne dass ich verstanden hätte, worüber wir über eine Stunde lang sprachen. Auch als wir die Grammatik vertieften, saß ich vor den Übungen und wurde nicht schlau daraus. Ich blickte auf die Grammatikerklärungen, auf die Aufgaben und schließlich auf die Lücken zum Ausfüllen und konnte doch keinen Zusammenhang feststellen. Immer wenn ich drangenommen wurde, blieb ich eine Weile lang reglos sitzen, starrte auf die Seite mit den Aufgaben und murmelte entweder irgendetwas Unverständliches oder warf gleich das Handtuch und sagte, dass ich keine Antwort wüsste. Frau Kitamura war sichtlich besorgt und sah mir auch an, dass ich nicht auf der Höhe war, dennoch blieb ich eisern auf meinem Stuhl sitzen und weigerte mich nach Hause zu gehen oder mich auf dem Tisch auszustrecken und zu schlafen. Und so zog der Unterricht träge an mir vorbei, geradezu als würde ich ganz langsam in einem Honigglas nach unten sinken.
Zum Mittagessen saß ich mit Paul und Marvin in der Mensa und wollte einfach nur essen. Marvin und Paul hatten japanische Freunde eingeladen, mit denen sie sich unterhielten, doch ich war viel zu müde und erschöpft, um mich auf Japanisch mit anderen auszutauschen. Vielleicht wäre es ganz nett gewesen sich mit neuen Menschen zu unterhalten, aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen und so schaufelte ich nur stumm mein Mittagessen in mich hinein, verschwand so schnell ich konnte aus der Mensa, setzte mich in den leeren Klassensaal und schaute mir halbherzig den Unterrichtsstoff von Vormittag an.
Nach dem Essen wurden glücklicherweise Präsentationen abgehalten und so konnte ich mich entspannt zurücklehnen und berieseln lassen. Nikki und eine Chinesin namens Tei hielten ihre Vorträge und aus Höflichkeit versuchte ich aufmerksam zu lauschen. Und zu meiner Überraschung funktionierte es. Meine Müdigkeit vom Vormittag war seit dem Mittagessen allmählich zurückgegangen und ich fühlte mich erstaunlich energetisch und motiviert, was dazu führte, dass ich als Einziger aufmerksam im Saal saß und jedem Wort lauschte. Und so kann ich sagen, dass Nikki meiner Meinung nach eine der besten Präsentationen des Semesters hielt. Ihr Handout war übersichtlich und leicht verständlich, ihre Begriffserklärungen der unbekannten Wörter mit Beispielsätzen versehen und ihre Vortragsweise ruhig und betont. "Man merkt, dass sie Lehrer werden möchte und Seminare zur Lehre belegt hat.", dachte ich mir, als ich ihrem Vortrag lauschte, und belohnte ihre Mühe mit reger Mitarbeit in der Diskussion.
Als Zweite hielt Tei ihren Vortrag und ehrlich gesagt erfuhr ich erst an diesem Tag, dass wir in unserem Kurs ein Mädchen hatten, das Tei hieß. Irgendwie waren mir alle Kursteilnehmer in den letzten Wochen auf ihre Weise aufgefallen und im Gedächtnis geblieben: Zum Beispiel Nikki, weil ich mich oft mit ihr unterhielt und austauschte, oder die Koreanerin Chu, die überaus flüssig sprach, aber ziemlich faul war, zu spät zum Unterricht kam und die bisher schlechteste Präsentation des Semesters gehalten hatte. Jeden im Kurs konnte ich mit einem Namen und einigen Attributen benennen, bis auf Tei, denn sie war für mich immer nur die Chinesin gewesen, die in der ersten Reihe saß und schlief. Sie meldete sich nie, fiel weder positiv noch negativ auf, schwänzte nicht oft, war aber auch nicht immer pünktlich da und gab nicht viel von sich preis. Sie schlief einfach nur auf ihrem Platz in der ersten Reihe. Und eben dieses nichtssagende Image erwarte ich auch von ihrer Präsentation: Ein einschläfernder Vortrag, der mit wenig Motivation zusammengestellt worden war und einfach an mir vorüberziehen würde. Um so überraschter war ich, als Tei einen erstaunlich guten Vortrag abliefert. Zwar kein herausragendes Meisterwerk, aber doch eine Präsentation, die mich ziemlich überraschte. Sie sprach erstaunlich flüssig und fast vollkommen frei, was mich sehr überraschte, und hatte ihren Vortrag über chinesische Esskultur mit unzähligen Bildern und Erklärungen angereichert. Und auch, wenn ich nicht viel verstand, war ich doch erstaunt, dass das nichtssagenden Mädchen, das immer nur im Halbschlaf vor sich hin gedöst hatte, solch ein Engagement gezeigt hatte.
So wach ich im Verlauf des Mittags dann aber auch geworden war, als ich meine Wohnung zurückkehrte, kam die Müdigkeit wieder über mich und ich lies mich in mein Bett plumpsen und schlief für die nächsten Stunden. Der Rest des Tages versank dann wieder irgendwo zwischen Wachsein und Schlafen. Richtig munter wurde ich nicht mehr und so hatte ich mit meinen Gliedern zu kämpfen, die sich so gar nicht vom Bett lösen wollten, doch richtig Schlafen wollte und konnte ich auch nicht mehr. Und so verbrachte ich meine Zeit bis zum Abend mit halbherzigem Lernen, Faulenzen, Dösen und Kochen, alles irgendwie im Halbschlaf.
2 Kommentare:
hey, so sieht mein halbes leben aus! genau so!
:)
Dann weiß ich ja, was mich in der Hälfte deiner Berichte über Japan erwarten wird...
; )
Kommentar veröffentlichen