Warum schwänze ich nicht einfach, fragte ich mich heute. Aus Prinzip, antwortete ich auf meine eigene Frage.
Ja so bin ich. Ein Mensch der Prinzipien. Ich mache gerne Sachen aus Prinzip, lege mir selbst Regeln und Bürden auf, an denen ich mich messe. Und auch wenn es eine abgedroschene Floskel ist, auf mich trifft es doch zu: Ich gehe mit mir selbst am härtesten ins Gericht. Es ist schwer mich von mir selbst zu überzeugen, vor mir selbst zu bestehen, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Und darum folge ich eisern meinen Prinzipien, wie beispielsweise der Anwesenheit im Unterricht. Die anderen lächeln immer, wenn ich pünktlich auf meinem Platz sitze und das Angebot den Nachmittag doch einfach blau zu machen abschlage. Pflichtbewusst drücke ich die Unibank, auch wenn es langweilig ist, ich nichts lerne oder alles an mir vorbeizieht. Es ist eben eine Pflicht. Eines meiner Prinzipien.
Doch manchmal kommt man ins Nachdenken. Man überdenkt sein eigenes Handeln und seine Prinzipien, wer man ist, was man macht und warum man Dinge macht oder eben nicht. Zum Beispiel warum ich kein Fleisch esse. Seit zehn Jahren bin ich Halbvegetarier. Warum? Ich kann es nicht sagen, ich bin es aus Prinzip. Wenn mich jemand fragt, dann stammele ich herum, weiß nicht recht eine Begründung zu liefern und verstecke mich hinter Floskeln. Dennoch bin ich Vegetarier geblieben, all die Jahre. Ich habe es mir schließlich selbst auferlegt und konnte es nicht vor mir rechtfertigen einfach wieder Fleisch zu essen. Und dann kam ich ins Denken. Gibt es einen plausiblen Grund kein Fleisch zu essen, außer meiner mir selbst auferlegte Regel? Mir fiel kein Grund ein, den ich mit gutem Herzen hätte nennen können, und so ließ ich los von diesem Prinzip und aß wieder Fleisch, nach über zehn Jahren.
Und ebenso kam ich ins Nachdenken über die Anwesenheit im Unterricht. Wozu saß ich hier? Um zu lernen, um in der Sprache voranzukommen, beantwortete ich meine eigene Frage. Und das tat ich auch in fast jeder Unterrichtsstunde, mal mehr, mal weniger. Doch "fast jede" ist nicht "jede" und so dachte ich an jene wenigen Unterrichtsstunden, in denen ich nichts lernte, in denen ich nur meine Zeit absaß, wie beispielsweise am Donnerstagmorgen bei Herrn Ikuta ("Die Kunst zu Lehren", "Begegnungen"). Ich verstand Herrn Ikuta nicht, sowohl akustisch, als auch inhaltlich. Was wir im Unterricht behandelten, musste ich regelmäßig am Nachmittag nacharbeiten. Am Morgen saß ich nur da, verstand nichts und zwang mich dennoch zuzuhören. Jede Woche aufs Neue. Irgendwann würde sich sicherlich alles ändern. Doch in all den Monaten änderte sich nichts und Morgen für Morgen saß ich im Unterricht und lernte nichts, sondern verplemperte nur meine Zeit. Wozu, begann ich mich fragen. War es nicht mein Ziel Japanisch zu lernen? Opferte ich nicht meine freien Wochenenden und Nachmittage, um mich mit den Büchern hinzusetzen, um zu lernen, wiederholen, übersetzen, um voran zu kommen? Ich wollte keine Zeit sinnlos vertrödeln und dennoch saß ich jeden Donnerstag über drei Stunden lang tatenlos herum und machte nichts. Ist das sinnvoll? Was hält mich an diesem unnützen Unterricht am Donnerstag Morgen? Es sind meine Prinzipien, dachte ich mir. Unterricht zu schwänzen war schlecht. Grundsätzlich. Soetwas wollte ich nicht machen. Aus Prinzip.
Warum fällt es uns so schwer uns von unseren Prinzipien zu lösen? Vielleicht weil sie uns bestimmen, weil sie uns zu jenen Menschen machen, die wir sind. Wären wir noch wir, wenn wir unseren eigenen Prinzipien nicht mehr nachkämen? Was ist mit der alten Dame, die schon seit Jahren aus Prinzip jeden Sonntag in die Kirche geht? Dem Mädchen, das aus Prinzip keinen Sex vor der Ehe haben will? Der Familie, die aus Prinzip gemeinsam um Sieben Uhr zu Abend isst? Ganz gleich wie sinnvoll oder sinnlos die Schranken und Regeln sind, die wir uns auferlegen, es sind Regeln, an denen wir uns messen, an denen wir messen, ob wir noch wir selbst sind. Oder etwa nicht? Vielleicht sind es nur die Konstrukte, die wir aufrechterhalten, um anderen zu beweisen wer wir sind. Die ältere Dame muss sich selbst fragen, ob sie nicht nur in die Kirche geht, weil sie einen guten Eindruck vor dem Rest der Gemeinde machen möchte. Das Mädchen muss sich nicht fragen, ob sie nicht einfach nur Angst hat und einen Schutzwall aufbaut, um nicht verletzt zu werden. Die Familienmitglieder müssen sich fragen, ob sie nicht die Idylle einer heilen Welt aufbauen, um sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass sie in Harmonie leben.
Nur zu gerne verfallen wir in Gewohnheit, weil wir Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten haben. Es ist bequem sich an alten Regeln und Prinzipien festzuhalten und nicht zu hinterfragen, nicht nachdenken zu müssen. Es ist leichter sich an Bestehendes zu klammern, statt loszulassen und auf die Suche zu gehen, nicht zu wissen wohin es uns führen mag. Doch wo ist die Grenze zwischen dem Loslassen von unnützen Prinzipien, mit denen wir uns und anderen etwas vormachen, und dem Abstreifen seiner Selbst? Wo ist die Grenze zwischen frei sein und ziellos sein? Wir müssen unsere Prinzipien immer und immer wieder hinterfragen, wenn wir uns auf die Suche nach uns selbst machen wollen, und eine unnütze Haut nach der anderen Abstreifen wollen, um letztlich bei uns selbst anzukommen. Und doch muss man achtgeben sich nicht selbst auf ein formloses Nichts zu reduzieren. Letztlich muss jeder sich selbst fragen welche Prinzipien und Gewohnheiten, welche Bürden und Regeln, die man sich selbst auferlegt hat, man bereit ist abzulegen, weil sie mit der Zeit nutzlos geworden sind, weil sie keine Funktion mehr haben, und an welche Prinzipien und Regeln, die einen bestimmen, die einen als Individuen definieren, man festhalten will. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns eine Menge unnötigen Balast mit sich herumträgt, den man aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit oder wegen der Angst davor, was andere oder man selbst von sich denken könnte, nicht fallenlässt. Aber wie wollen wir jemals herausfinden wer wir selbst sind und wie glücklich wir werden könnten, wenn wir uns nicht immer wieder von neuem überdenken und korrigieren. Auch wenn es nur so kleine Dinge sind wie das tägliche Erscheinen im Unterricht.
"Vielleicht sollte ich nächste Woche einfach den Unterricht schwänzen. Er bringt mich letztlich doch nicht voran.", erzählte ich Lee, als wir uns in der Mittagspause im nahliegenden Supermarkt unser Mittagessen kauften, um zu zweit im Schatten eines Baumes außerhalb des Schulgeländes zu essen. "Ach, was erzähle ich da eigentlich. Ich würde nie den Unterricht schwänzen.", lachte ich, "So bin ich nunmal. Ich glaube ich wäre nicht ich, wenn ich nicht in den Unterricht gehen würde.". Für den Moment hatte ich mich entschieden, dass der Besuch des Unterrichts von Herrn Ikuta das Pflichtbewusstsein widerspiegelte, das mich auszeichnete. Doch ich weiß, dass ich mich wieder und wieder fragen und immer wieder von neuem über dieses simple Problem reflektieren würde. Und irgendwann werde ich vielleicht das feststellen, was ich auch an meine Dasein als Halb-Vegetarier festgestellt hatte: Es ist nur ein Prinzip, das ich des Bestehens Willens aufrechterhalten habe, weil ich Angst davor hatte loszulassen und mich neuen Ufern zuzuwenden.
Bild1: Nachdem wir festgestellt hatten, dass wir nur aus Gewohnheit in die Mensa gingen und es uns dort gar nicht gefiel, entschlossen sich Lee und ich uns dazu gelegentlich im Supermarkt unser Essen zu kaufen und in Soka ein wenig abseits des Trubels in Zweisamkeit zu essen. Und wir hatten beide so viel Spass dabei etwas Neues zu machen.
2 Kommentare:
Das ist ein sehr schöner, inspirierender Artikel :-)
Ich muss mal drüber nachdenken, ob ich auch solche unnützen Prinzipien haben.
Das ist Balsam für die Seele: Einerseits wird man für den Artikel, also die Idee, gelobt, andererseits kann man etwas bewegen und die Menschen zum Nachdenken anregen.
Was will man mehr als Schreiber?
: )
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