Samstag, 29. November 2008

Tage, an denen man im Bett bleiben sollte

Eigentlich gab es gar keinen Grund, aber am am Freitag, meinem siebzigsten Tag in Japan, war ich vollkommen aufgeregt. Nachdem ich am Vorabend wegen der Mücke erst gegen 1.30 Uhr einschlafen konnte, war ich bereits um 6.30 Uhr wieder wach. Ganz ohne Wecker war ich mit pochendem Herzen aufgewacht, warum weiß ich nicht. Zwar hatte ich heute meine zweite Präsentation, allerdings war ich nicht einmal bei meinem ersten Vortrag dermaßen aufgeregt gewesen. Wie dem auch sei: Ich packte meine Sachen, traf letzte Vorbereitungen für meine nahende Präsentation, machte mich fertig, wusch Wäsche und saß letztlich am Schreibtisch, starrte auf die Uhr und wartete, dass es endlich Zeit war, um aus dem Haus zu gehen. So lief ich dann einerseits aufgedreht und unruhig, andererseits vollkommen übermüdet zur Dokkyo-Universität.
Während ich die erste Stunde im Unterricht saß, nahm die Müdigkeit dann überhand und ich hing in meinem Stuhl und kämpfte dagegen an mich einfach auf den Tisch plumpsen zu lassen und einzuschlafen. Zu allem Überfluss kam zu meiner müdigkeitsbedingten Denkblockade noch ein ausgesprochenes Pech bei der Aufgabenverteilung während des Unterrichts, weshalb ich fast den ganzen Morgen über hilflos vor den Übungen saß und nie genau wußte, was ich machen sollte. Meine Lehrerin Frau Takeda begann irgendwann ganz besorgt zu schauen, sagte aber nichts.
Vor Beginn der zweiten Stunde eilte ich dann in die Bibliothek, um rechtzeitig mein Handout und mein Skript auszudrucken. In der Zwischenzeit kümmerten sich Katharina und Michael aus Bremen um die Einrichtung von Michaels Laptop. Denn nach dem Debakel mit meinem eigenen Laptop bei meiner letzten Präsentation hatte ich dieses Mal in weiser Voraussicht sowohl Michael, als auch Katharina gebeten ihre eigenen Laptops mitzubringen, um meine Präsentation darauf abzuspielen. Ein weiteres Mal einen Vortrag ohne Bilder zu halten, wollte ich nämlich um jeden Preis umgehen. Als ich wieder von der Bibliothek kam, gab Michael mir grünes Licht für meine Präsentation und ich setzte mich bereit für meinen Vortrag auf meinen Platz. Bevor ich an der Reihe war, hielt Ma, der nervige Chinese aus meinem Kurs, seinen Vortrag. Und wie bereits beim letztes Mal war es ein mittelschweres Desaster, das sich uns darbot. Alle saßen geheuchelt interessiert da und reisten in Gedanken auf einem Schiff durch unbekannte Meere, während Ma vor dem Rednerpult stand, nervös seinen Text vor sich hin nuschelte und jegliche Interpunktion und Intonation schlichtweg überlas. Als alle gedanklich bereits ans Ende der Welt gesegelt waren, fiel den Zuhörenden auf, dass niemand mehr redete und nach und nach fanden sich alle wieder in der Realität ein. Auch Frau Takeda schien während des Vortrags auf Weltreise gegangen zu sein, denn sie schaute zunächst hastig auf das Handout, stellte dann nach längerem Warten eine Frage, die so gar nichts mit dem Thema zu tun hatte, und eröffnete sogleich die Diskussionsrunde. Da aber natürlich niemand dem Vortrag gefolgt war, breitete sich eine peinliche Stille im Klassenraum aus, die nach einigen Sekunden von Frau Takeda mit einem überschwenglichen und vollkommen deplatzierten Klatschen geschlossen wurde.
Nachdem Ma Platz genommen hatte, holte Frau Takeda noch drei Überraschungsgäste in den Raum: Es waren zwei Lehrer und ein Student, die gekommen waren, um sich meinen Vortrag anzuhören. Während sich noch alle unterhielten, ging ich bereits hinters Rednerpult und übte den Umgang mit dem fremden Laptop. Und während ich versuchsweise durch meine Folien blätterte, fiel mir auf, dass meine Bilder nicht angezeigt wurden. Während meine Zuhörer bereits auf mein Handout schauten, rief ich Michael herbei und wies ihn auf das Problem hin, woraufhin dieser ratlos an seinem Computer herumtippte, bevor er schulterzuckend aufgab. Also entschuldigte ich mich bei meinem Publikum für die Unannehmlichkeiten und baute schnellstmöglich mit Katharina den zweiten Laptop auf, den ich für den Notfall mitgenommen hatte. Doch auch auf jenem konnten die Bilder meiner Präsentation nicht angezeigt werden. Als Frau Takeda von unserer Ratlosigkeit Wind bekam, setzte sie sich dazu und fragte, was denn los sei. Aufgrund eigenen Unwissens und mangelndem japanischen Fachvokabular, konnten wir ihr nicht wirklich erklären, wo das Problem lag, aber immerhin wurde deutlich, dass wir nicht weiterkamen. Also rief Frau Takeda beim Computerhilfsdienst der Universität an, der uns wenige Minuten später zwei junge Damen vorbei sandte, welche gemeinsam mit Katharina, Michael, Frau Takeda und mir vor den beiden Laptops saßen. Da aber der Computerhilfsdienst kein deutsch konnte, saßen sie ebenso ratlos wie wir vor der nicht funktionierenden Präsentation und schauten missmutig auf ihren mitgebrachten, dritten Laptop. Minute um Minute verstrich, in denen diverse Programme installiert und wieder deinstalliert, Menüs geöffnet, Einstellungen verändert, Betriebssysteme neugestartet oder Daten zwischen den Laptops hin und her geschoben wurden. Nach geschlagenen vierzig Minuten gab der hilflose Hilfsdienst auf und zog resigniert mit dem japanischen Laptop von dannen. Und da ich mir geschworen hatte meinen Vortrag nicht noch ein weiteres Mal ohne Bilder zu halten, einigte ich mich mit Frau Takeda darauf meine Präsentation am Montag im Unterricht von Frau Ezoe zu halten. Ein wenig enttäuscht darüber keinen Vortrag über griechische Mythologie gehört zu haben, beendete Frau Takeda schließlich vorzeitig den Unterricht und alle außer mir strömten glücklich aus dem Saal.
Um ein wenig über den verpatzten Vortrag hinwegzuhelfen, bot ich Frau Takeda meine Hilfe an und räumte gemeinsam mit ihr die wild herumliegenden Computerkabel ein. Nachdem ich mich nochmals von ganzem Herzen für die gescheiterte Präsentation entschuldigt hatte, schlich ich langsam zum Wohnheim. Die unbegründete Aufregung hatte sich ein wenig gelegt, dafür wurde ich von enormer Müdigkeit, Hunger und Enttäuschung über die Präsentation geplagt. Müde schleppte ich mich in meine Wohnung, in mein Zimmer und in mein Bett, wo ich unter der Decke verschwand und mich darüber ärgerte, dass ich meine Präsentation noch nicht hatte halten können und am kommenden Montag von Neuem antreten musste. Dann fiel ich schließlich in einen tiefen Schlaf und wurde erst nach mehreren Stunden am späten Nachmittag wieder wach. Den Rest des Tages war ich dann ganz träge und demotiviert, bis ich schließlich spät in der Nacht abermals in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der kulinarische Abend

Jeder, der mich kennt, weiß, dass es drei Dinge gibt, die ich so überhaupt nicht mag: Rauchen, Alkohol und Partys. Darum versuche ich diese drei Dinge bei jeder sich bietenden Möglichkeit zu umgehen. Hin und wieder lässt es sich allerdings nicht vermeiden, beispielsweise wenn mit Sekt auf das neue Jahr angestoßen wird oder man zu der Party eines guten Freundes eingeladen wird. Und so geschah es auch, dass ich zu Taks Geburtstagsfeier eingeladen wurde, obwohl ich eigentlich gar keine richtige Lust hatte. Während ich anfangs noch versuchte höflich abzulehnen, da ich keinen Alkohol trinke und ohnehin kaum jemanden seiner Freunde kannte, bestand Tak darauf mich als einen seiner besten Freunde an seiner Geburtstagsfeier um sich zu haben und versicherte mir, dass ich keinen Alkohol trinken bräuchte und er darauf aufpassen würde, dass ich nicht einsam herumsitzen würde, weshalb mir nichts anderes übrig blieb als zuzusagen. Und nachdem ich den Dienstag und den Mittwoch meiner nahenden Präsentation gewidmet hatte, war es am Donnerstag Abend schließlich so weit: Um 18.20 Uhr sollte ich mich mit Tak und seinen Freunden am Bahnhof "Matsubara Danchi" in Soka treffen.
Ich kann nicht leugnen, dass ich sehr aufgeregt war, schließlich wußte ich gar nicht genau, was mich erwartete. Tak hatte von einer nomikai gesprochen, was aus den japanischen Schriftzeichen für "Trinken" und "Treffen" zusammengesetzt wird. Folglich erwartete ich eine Zusammenkunft junger Japaner, die sich die Kante gaben, während ich mit einem Glas Mineralwasser daneben sitzen würde. Zwar hatte Tak drei Tage zuvor noch versprochen, dass er sich um mich kümmern würde, doch mittlerweile war mir bewusst geworden, wie utopisch diese Hoffnung wohl wäre, schließlich war ich nur einer von seinen vielen Gästen und er konnte unmöglich nur mir seine Aufmerksamkeit widmen. So lief ich ziemlich nervös und angespannt zum Bahnhof "Matsubara Danchi" und traf auf Tak und rund zehn seiner japanischen Freunde. Zuerst fiel mir auf, dass Tak im Anzug war, was aber weniger am Anlass, als vielmehr daran lag, dass er gerade erst von seinem Arbeit gekommen war. Es war ziemlich ungewöhnlich ihn als einen von jenen Geschäftsmännern zu sehen, die in Japan zu Hauf anzutreffen waren, denn von unseren vorherigen Treffen war ich es gewohnt ihn in Sweatshirt oder T-Shirt zu sehen. Er stellte mich kurz in der kleinen Runde vor und bevor ich etwas sagen konnte, kam hinter mir bereits der nächste Gast an: Es war Cassy, das chinesische Mädchen aus meinem Sprachkurs, das in Kanada lebt. Ich war überrascht noch einen anderen ausländischen Studenten zu sehen und heftete mich sogleich an ihre Fersen. Kurz darauf brachen wir auf und gemeinsam mit Cassy und Tak lief ich zu dem Lokal, in dem der Geburtstag gefeiert werden sollte.
Da ich noch nie zuvor in solch einer Lokalität gewesen war, war alles vollkommen neu und ungewohnt. Gleich im Eingangsbereich zog sich jeder die Schuhe aus und mit Strümpfen lief man zu einem kleinen Spind und schloss seine Schuhe dort ein. Ich kopierte das Verhalten der anderen und folgte dann dem Bediensteten, der uns durch einen wahren Irrgarten von Gängen zu einem größeren Raum führte, der für uns gemietet war. Wenn ich "Raum" sage, stimmt dies allerdings nicht, denn eigentlich gab es nur einen langen Tisch, der im Boden eingelassen war, um den herum sich alle mit Sitzkissen auf Bodenhöhe setzten und ihre Füße in die Vertiefung unter dem Tisch baumeln ließen. Dieser Tisch mit den umliegenden Sitzkissen war auf drei Seiten von Wänden begrenzt und auf der vierten Seite zu jenem Gang offen, über den das Personal mit Speisen und Getränken bediente. Diese vierte Seite konnte je nach Belieben allerdings mit Schiebetüren verschlossen werden, wodurch dann ein privater, abgeschlossener Bereich entstand. Als alle einen Platz suchten, versuchte ich mich unauffällig unter die anderen zu mischen und mich irgendwo hinzusetzen. Doch kaum hatte ich Platz genommen, baute sich Tak vor mir auf, sagte: "Was machst du da? Du sitzt neben mir!" und zog mich am Ärmel einmal um den Tisch direkt auf den Platz neben sich. Ein wenig peinlich berührt war ich schon, als mir so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde und ich so offensichtlich über all die anderen Gäste gehoben wurde, da ich direkt neben dem Geburtstagskind saß. Nachdem auch noch die letzten Gäste eingetroffen waren, stellte Tak alle achtzehn Anwesenden der Reihe nach vor und einige von Ihnen kannte ich auch schon, darunter einen Freund, den ich einige Tage zuvor bei einem Treffen mit Tak kennengelernt hatte (Missionsziel: Ein Treffen mit Tak), die ausländischen Studierenden Cassy aus Kanada und Michael aus Bremen (Die zehn Anderen), Nobukos Freundin Ayano, die auch auf der "Lasst und japanische sprechen"-Party war (Pakete, Partys, Peinlichkeiten) sowie den schmächtigen Erstsemesterstudent, der unter der Verantwortung Taks stand (Missionsziel: Ein Treffen mit Tak). Zu Beginn fühlte ich mich sehr unwohl, da ich kaum jemanden kannte und mich das Mädchen, das mir gegenübersaß, die ganze Zeit über anschaute, weil ich keinen Alkohol trank und nicht sehr gut japanisch sprechen konnte. Und nach einiger Zeit hatten alle irgendeinen Gesprächspartner, nur ich saß relativ alleine da. Ich kann nicht sagen, dass ich mich nicht bemüht hätte immer wieder in ein Gespräch zu kommen, so bat ich ein Mädchen neben mir um Hilfe bei der Auswahl eines alkoholfreien Getränks oder versuchte mit einigen anderen Mädchen ins Gespräch zu kommen, aber die Sprachbarriere unterband jegliche flüssige Konversation, denn mein japanisch war viel zu stockend und fehlerbelastet, als dass ich hätte viel erzählen können, und das Englisch meiner Gesprächspartner war eher schlecht als recht. Zwar saß diagonal vor mir Michael aus meinem Sprachkurs, doch wir wollten beide so wenig deutsch wie nur möglich reden, da wir uns sonst vollends abgekapselt hätten. Vermutlich hätte ich den ganzen Abend alleine dagesessen und im Minutentakt an meinem Getränk genippt, wäre Tak nicht beherzt immer und immer wieder mit mir ins Gespräch gekommen, und hätte mich mit aufmunternde Worte und lustigen Aktionen zum Lachen gebracht. Und wider meiner Erwartungen, hielt er tatsächlich ein, was er versprochen hatte: Er passte darauf auf, dass ich nicht alleine dasaß.
Nach einiger Zeit begann trotz Taks vorangekündigter nomikai, also der Zusammenkunft zum Trinken, das Essen. Als der junge Bedienstete die Bestellung aufnahm, riefen alle mehr oder weniger ihre Bestellungen durcheinander. Da ich enorme Schwierigkeiten hatte die Speisekarte zu lesen und offensichtlich auch niemand Anstalten machte mir dabei zu helfen, saß ich nur stumm mit der Speisekarte in der Hand da und bestellte gar nichts. Und erstaunlicherweise schien es niemandem aufzufallen. So saß ich ein wenig unsicher da und machte mich auf erstaunte Kommentare gefasst, wenn sich herausstellen würde, dass ich gar kein Gericht geordert hatte. Als dann die ersten Bestellungen serviert wurden, staunte ich nicht schlecht, als diese einfach in die Mitte des Tisches gestellt wurden und sich jeder nach Herzenslust bediente. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass nicht jeder wie bei uns ein eigenes Gericht bestellte, sondern die georderten Speisen für jeden zur Verfügung standen. Dies ausnutzend, probierte ich alle Speisen, die auf den Tisch gestellt wurden einmal und erweiterte meinen kulinarischen Horizont um ein Vielfaches. Zu den Speisen, die ich im Verlaufe des Abends probierte gehörten ganz gewöhnlicher Salat, eine Pizza mit Fischbelag und Unmengen an Mayonnaise, Hähnchenspieße, panierte Knorpel, eine Suppe mit Tofu, Grünzeug und Fleisch, sowie ein Fischfilet. Die Hähnchenspieße heißen in Japan toriyaki, was nichts anderes bedeutet als "gebratener Vogel". Glücklicherweise habe ich mir vor Japan antrainiert Geflügel zu essen, weshalb ich von den wirklich köstlichen toriyaki kosten konnte. Ich hatte ein wenig den Eindruck, dass alle Teile des Hühnchens, die nicht für diese Spieße geeignet waren, verkleinert, paniert und frittiert wurden, um sie dann als nächstes Gericht anzubieten. Als der Teller mit kleinen, frittierten Kügelchen vor mir abgesetzt wurde, fragte ich interessiert nach, was dies denn sei und schaute zunächst ziemlich verdutzt, als ich als Antwort "Knochen" erhielt, schließlich konnte man doch nicht allen Ernstes frittierte Knochen als Gericht anbieten. Da sich aber alle begeistert auf die kleinen Kügelchen stürzten, schappte ich mir mit meinen Stäbchen auch eines und schob es mir in den Mund. Doch es war nichts anderes als ein ein großes frittiertes Stück Knorpel, auf dem ich herumbiss. Da ich es unmöglich ausspucken konnte, versuchte ich zu lächeln, schluckte den zähen Knorpel in einem Stück herunter und widmete mich überinteressiert dem ungefährlichen Salat. Kurze Zeit danach wurde vor mir eine Pizza abgestellt, die mit reichlich Mayonnaise bestrichen war. Da eine Pizza recht harmlos wirkte, nahm ich mir ein Stück und war auch sehr zufrieden mit meiner Beute. Sie hatte irgendeinen fischigen Belag, vermutlich Lachs, der aber sehr gut schmeckte. Am anderen Ende des Tisches war ein großes Fischfilet geordert worden, von dem ich mir ein Stück geben ließ. Da man wohl nicht erwartete, dass Ausländer Fisch zu schätzen wüssten, erhielt ich lediglich ein haselnussgroßes Stück von dem vorzüglichen Filet. Als ich Nachschub haben wollte, lag bereits nur noch das Gerippe auf der Platte. Zuletzt probierte ich die Suppe, in der Tofu, diverses Grünzeug und Fleischstreifen brodelten. War zwar die Suppe mit Tofu und Grünzeug ganz erträglich, so sträubte sich alles in mir gegen das Fleisch. Denn auch wenn ich eigentlich nie irgendeine Art von Fleisch esse, weiß ich doch, dass Fleisch nicht die Konsistenz von Gummi haben sollte. Genau diese Konsistenz hatte aber der Brocken, den ich im Mund hatte, und so biss ich für etwa dreißig Sekunden lang immer wieder auf dem gleichen Fleischstück herum, dass sich weder teilen, noch seine Form verändern wollte. Irgendwann wurde es mir dann zu dumm und ich schluckte das Fleischstück kurz vor der Würgegrenze als Ganzes hinunter. Die restlichen Fleischbrocken ließ ich dann in meinem Schälchen zurück.
Nach etwa einer Stunde wurden alle Gäste durchnummeriert und nach dem Zufallsprinzip neu verteilt, damit man neue Leute kennenlernen konnte. Und so kam es, dass ich am Kopfende des Tisches gegenüber von Tak, Michael aus Bremen und neben einer Japanerin namens Yasuko saß. Und da Yasuko eine der wenigen Japanerinnen war, die sehr fließend Englisch sprechen konnte, eröffnete sich für mich endlich die Möglichkeit sich gut zu unterhalten. Gemeinsam mit Tak und Michael kamen wir immer wieder ins Gespräch, wodurch sich meine anfängliche Angespanntheit vollends verflüchtigte und ich den Abend in vollen Zügen genießen konnte. Als Tak befriedigt sah, dass ich endlich Gesprächspartner gefunden hatte und mich amüsierte, folgte er seiner Rolle als Gastgeber und wanderte den Rest des Abends zwischen den verschiedenen Gästen umher und sorgte sich um deren Wohlergehen. Ich unterhielt mich mit Yasuko über ihren Beruf, ihre Erlebnisse im Ausland und über Fremdsprachen, da sie genau wie ich noch ein paar Brocken Französisch aus ihrer Schulzeit beherrschte. Gemeinsam mit Michael erzählte ich allen Interessierten etwas über Deutschland und lehrte wieder den ein oder anderen Satz auf Deutsch. Später am Abend kam ich auch mit dem Erstsemesterstudenten ins Gespräch, der unter Taks Verantwortung stand. Wir hatten zwar eine sehr stockende, aber doch recht amüsante Unterhaltung über die Schwierigkeiten beim Sprechen einer Fremdsprache.
Gegen halb elf begannen sich die ersten Gäste auf den Weg zu machen und die Gemeinschaft löste sich allmählich auf. Wie in Japan typisch wurde die Rechnung geordert und durch die Zahl der Anwesenden geteilt, wodurch jeder 2300 Yen, also etwa 17 Euro zu zahlen hatte. Das war zwar weitaus teurer, als ein gemütlicher Abend zu Hause mit selbstgemachten Okonomiyaki oder einem Teller Spaghetti, dafür aber hatte ich einen unvergesslichen Ausflug in die japanische Esskultur unternommen und nicht nur kulinarisch viel Neues gelernt. Nachdem alle Anwesenden ihre Telefonnummern und Emailadressen ausgetauscht hatten, holte ich meine Schuhe aus dem Spind, zog sie kurz vor dem Eingang an und folgte den anderen in die frische Nachtluft. Auf dem Rückweg erkundigte sich Tak unsicher, wie mir der Abend gefallen habe und er erschien sehr erleichtert, als ich ihm ganz ehrlich mitteilte, dass ich den Abend trotz meiner anfänglichen Angespanntheit, sehr genießen konnte. Wieder am Bahnhof Matsubara Danchi angekommen, verabschiedeten sich alle gemeinsam von Tak und dankten ihm für seine Einladung. Winkend lief er mit zwei Freunden zu seinem Zug und Michael, Cassy, drei Japanerinnen, der Erstsemesterstudent und ich machten uns auf den Weg in Richtung Wohnheim. Nach und nach teilte sich unsere Gruppe immer weiter auf, bis schließlich nur noch Michael, Cassy und ich gemeinsam am Wohnheim ankamen. Mit den besten Wünschen für meine morgige Präsentation verabschiedeten sie sich und ich fiel kurz darauf müde in mein Bett. Und wäre nicht eine Mücke laut summend immer wieder zu meinem Ohr geflogen und hätte mich wach gehalten, wäre ich bestimmt auch sehr schnell und zufrieden eingeschlafen. So lag ich aber noch eine Weile in meinem Bett, starrte an die Decke und hatte Zeit all die neuen Eindrücke des Tages zu verarbeiten.

Donnerstag, 27. November 2008

Hinter der Maske

Eigentlich begann der Montag bereits am Sonntag. Denn am Sonntagabend begann ich mit Tak Kurznachrichten im Chat hin und her zu schicken, so wie wir es für gewöhnlich taten, wenn wir uns abends online trafen. In diesen abendlichen Gesprächen tauschten wir uns für gewöhnlich über unsere Interessen, unsere Berufsplanungen oder einfach nur belanglose Dinge aus unserem Tag aus.
An diesem Sonntagabend war es aber anders. Es mag sich seltsam anhören, aber obwohl wir nur über emotionslose Buchstaben in einem Chat-Programm kommunizierten, wußte ich, dass Tak etwas bedrückte. Und schon nach kurzer Zeit schrieb Tak, dass er einen Freund zum Reden bräuchte, weil seine Beziehung zu seiner Freundin aus Großbritannien in die Brüche gegangen war. Und dies war der Moment, in dem Tak buchstäblich die Tür für eine wahre Freundschaft öffnete, indem er die Maske des direkten und ewig lachenden Konversationspartners fallen ließ und sich so zeigte wie er wirklich war: tief verletzt, traurig und alleine. Zunächst war ich ein wenig überwältigt davon, dass Tak ausgerechnet mich um Unterstützung bat, schließlich kannten wir uns kaum zwei Wochen, doch ich fühlte mich auch geehrt bereits nach so kurzer Zeit als Freund betrachtet zu werden und betrat mit Freude die Tür, die er geöffnet hatte. Und während ich versuchte Tak auf jede nur erdenkliche Weise aufzuheitern, offenbarte er mir zu allem Überfluss auch noch, dass er am Montag Geburtstag hätte, was in gerade einmal zwei Stunden war. Und da Tak vollkommen am Boden zerstört war und die Welt nur in tristem Grau sah, fühlte ich mich in der Verantwortung ihm seinen Geburtstag so angenehm wie nur möglich zu machen. Darum saß ich die kommenden zwei Stunden am Laptop und tat mein Bestes, um ihm aus dem grauen Tal der Tränen zu ziehen, ihm zu zeigen, dass es viele Menschen gab, denen er am Herzen lag und dass auch der Schlimmste Schmerz einmal vorüber gehen würde. Als es schließlich Mitternacht war, schickte ich ihm einen kleinen verpixelten Kuchen über den Chat und gratulierte ihm zum Geburtstag. Und als er sich für meine Bemühungen und mein offenes Ohr bedankte und schrieb, dass sein Geburtstag nun mit einem Lächeln begonnen hatte und er sich trotz seiner Trauer bereits viel besser fühle, wußte ich, dass ich das Richtige getan hatte.
Nach einer etwas verkürzten Nacht stand ich am Montag, meinem 66 Tag in Japan etwas müder als sonst auf. Doch schon in den ersten Minuten des Tages war ich fiebrig am überlegen, was ich Tak schenken könne, schließlich hatten wir uns nachmittags in der International Communication Zone verabredet. Doch mir wollte kein Geschenk einfallen, das mir nach dem nächtlichen Gespräch angemessen erschien. Zudem hatte ich bis zum vereinbarten Treffen überhaupt keine Möglichkeit irgendetwas zu kaufen, da ich den gesamten Vormittag die Unibank drücken musste. Wie auf heißen Kohlen saß ich somit in den ersten beiden Stunden neben Katharina im Unterricht und überlegte über die Möglichkeiten, die ich hatte, um Tak an seinem Geburtstag nicht zu enttäuschen.
Da Montag war, hatte ich Unterricht bei der langweiligen Frau Ezoe, die zu allem Überfluss auch noch Konversationsübungen mit uns machte, welche ich so gar nicht leiden kann. Ziel in diesem Unterricht ist das Erarbeiten eines Dialogs in Partnerarbeit, wozu ich selbstverständlich immer Katharina zu Rate ziehe. Und selbstverständlich geraten wir beide jedes Mal aneinander, da jeder von uns ganz andere Vorstellungen von einem leicht einprägsamen Dialog hat, mit dem man vor den Lehrern punkten kann. Für gewöhnlich diskutieren wir uns an Sätzen und Wörtern zu Tode und haben als Ergebnis immer einen kurzen, aber dafür sehr ausgefeilten, kompakten Dialog, von dem die Lehrer immer hell begeistert sind. Und um so mehr wir uns in die Haare kriegen, um so besser das Ergebnis. Das wurde vor allem deutlich daran, dass wir uns heute überraschenderweise gut verstanden und unseren Dialog mit Bedacht und Rücksichtnahme auf den anderen schrieben, wodurch wir am Ende der Stunde vor unserem langweiligsten und inspirationslosesten Dialog überhaupt saßen. Ganz alleine unsere Schuld war es aber nicht, denn Frau Ezoes Lehrphilosophie war es den Dialog auf das zu reduzieren, was im Lehrbuch vorgeschrieben war, weshalb jegliche Art von Kreativität zu unterbleiben hatte. Und so wurde von ihr jegliche Art von Ausschweifung, Verschnörkelung, Ironie oder Humor aus unserem Dialog gestrichen, weshalb nur ein trockener, humorloser, gestelzter Lehrbuchdialog zurückblieb. Besonders anschaulich wird ihre Lehrbuchversessenheit, wenn ich ein Beispiel aus unserem Dialog anführe: Zwei Personen, von denen einer einen Projektor trug, trafen aufeinander. Da dieser zu schwer schien, bot die andere Person ihre Hilfe an. Dieses Szenario hört sich nicht sehr verbesserungswürdig an, doch Frau Ezoes scharfem Auge entging nicht die radikale Änderung, die wir vorgenommen hatte: "Im Beispieldialog, der Ihnen als Vorlage dient, geht es um ein schweres Buch, nicht um einem Projektor." Und bevor wir uns wehren konnte, strich sie das Wort Projektor uns schrieb das Schriftzeichen für Buch darüber. Auf meinen Kommentar, dass es doch egal sei, ob man anbieten würde ein schweres Buch, oder einen schweren Projektor zu tragen, schaute sie mich verständnislos an, deutete auf den Beispieltext und wiederholte: "Im Beispieldialog, der Ihnen als Vorlage dient, geht es um ein schweres Buch, nicht um einen Projektor.". Und damit war für sie das Problem gelöst.
Nachdem ich mich zwei Stunden mit Katharina durch den langweiligen Konversationsunterricht gequält hatte, war ich meinem Geschenk für Taks Geburtstag noch keinen Schritt näher gekommen und allmählich lief mir die Zeit davon. Also entschied mich nach ausgiebigem Abwägen dafür nicht in den Nachmittagsunterricht zu gehen, um zwei Stunden Freiraum zu haben. Und ehrlich wie ich bin, lief ich selbstverständlich zu Frau Ezoe, um mich für den Nachmittag abzumelden. Auf ihre Frage, warum ich denn nicht kommen könne, antwortete ich wenig überzeugend, dass ich Vorbereitungen für einen Geburtstag treffen müsse, was sie natürlich mit wenig Begeisterung aufnahm und mir sogleich verkündete, dass sie eine unentschuldigte Fehlstunde eintragen müsse, wenn ich nicht käme, aber das nahm ich in Anbetracht der Umstände in Kauf. Und so verbrachte ich eine Stunde im großen Einkaufsmarkt um die Ecke und überlegte, was ich Tak kaufen sollte, schließlich kannte ich ihn trotz unserer gelegentlichen Gespräche und Treffen doch kaum. Nachdem ich mich für eine Hand voller Kleinigkeiten entschieden hatte, brach ich wieder zur Universität auf und widmete meine restliche Zeit dem Schreiben eines Briefes für meine Großtante. Und nachdem ich den Brief geschrieben, Taks Geburtagskarte beschriftet und seine Geschenke in meinem Rucksack verstaut hatte, war es auch soweit. Tak kam aus seiner Vorlesung und wir trafen in der ICZ aufeinander.
Nachdem Tak in der Nacht seine Maske hatte fallen lassen, war ich überrascht wie lebensfroh er durch die Tür schritt, wie glücklich lachend er auf mich zukam und wie sehr er strahlte, als ich ihm zum Geburtstag gratulierte. Mit keinem Wort erwähnte er unsere nächtliche Konversation und ließ sich nicht anmerken wie schlecht es ihm gehen musste. Als ich ihm gratulierte, kamen auch noch andere Japaner auf ihn zu und gratulierten ihm, was Tak mit einem freudvollen Lächeln erwiderte. Und während Tak von seinen Kommilitonen und Freunden umringt wurde, kam ich mir ein wenig deplatziert vor, stand etwas einsam in einer Ecke und begann mich für meine etwas schäbigen Geschenke zu schämen. Geradezu peinlich berührt musste ich ihn darauf hinweisen, dass ich noch meinem Brief einwerfen wollte, weshalb er schnell das Nötigste zusammenraffte und mit mir aus der Uni lief. Und kaum waren wir aus dem großen Getümmel der Studenten entflohen, blickte Tak zu mir und begann zu reden: "Danke. Ich möchte dir von ganzem Herzen danken für unser Gespräch gestern Abend. Ich weiß nicht, ob ich ohne deine Hilfe den Tag heute hätte überstehen können. Es ist nicht leicht die ganze Zeit zu lachen und zu strahlen, wenn man eigentlich weinen möchte. Danke, dass du so bemüht bist, ich schätze unsere Freundschaft wirklich sehr." Und da war er wieder. Der Tak hinter der Maske, mit dem ich in der Nacht gesprochen hatte. Und ohne Maske und mit einem ernsten Gespräch liefen wir durch Soka, gaben den Brief auf und gingen zurück zur Universität. Im Park setzten wir uns dann an eine Bank und ich packte unsicher meine Geschenke aus: "Hier ein kleiner Kuchen, weil ich dir heute um Mitternacht nur einen Pixelkuchen senden konnte, und wenn du Vanille nicht magst, habe ich hier noch einen Schokokuchen. Damit du etwas zu trinken hast, habe ich dir die Limonade gekauft, die du bei unserem ersten Konversationstreffen getrunken hattest. Und hier eine bunte Geburtstagskarte, die dir helfen soll, aus deinem grauen Tal zu finden. Und einen Gutschein für eine Fertiggerichte-Party mit deutschen Gerichten, darüber haben wir beim Chatten doch einmal gewitzelt. Alles Gute zum Geburtstag, ich hoffe es gefällt dir ein wenig." Etwas unsicher schaute ich zu Tak, dessen Gesicht starr war und ausdruckslos auf meine Geschenke starrte. Und in diesem Moment keimte in mir der Verdacht, dass ich mit meinem Geschenken vollkommen daneben gelegen hatte. Eine kurze Zeit schaute Tak auf die Geschenke, dann griff er seine Tasche, schaute weg und sagte, dass er aufs Klo müsse. Vollkommen verwirrt fragte ich nach, ob ich etwas falsch gemacht hätte und warum er plötzlich auf die Toilette gehen müsse. Da drehte sich Tak um und sagte nur kurz: "Ich möchte nicht vor anderen weinen.". Und schritt davon. Und erst dann wurde mir bewusst, dass er vor Rührung weinen musste.
Als ich abends mit meinem Freund Dominic sprach, tauschten wir uns über unsere Beziehungen zu Japanern aus, schließlich hatte Dominic regelmäßig von japanischen Austauschstudenten Besuch. Und dabei erfuhr ich dass in Japan "Freundschaft" einen ganz anderen Wert hatte. Und dass eine kleine freundschaftliche Geste meinerseits alles übertraf, was Tak aus seinen meisten japanischen Freundschaften gewohnt war. Und als ich am späten Abend mit Tak chattete, bestätigte sich genau das. Ich war nämlich die einzige Person, die Tak ein Geburtstagsgeschenk gemacht hatte und wohl auch die erste Person, die ihm an diesem Tag gratuliert hatte. Und ganz ohne aufgesetzte Höflichkeit, bedankte sich Tak für meine Glückwünsche, meine Geschenke, mein offenes Ohr, meine Offenheit und für meine Freundschaft im Allgemeinen. Und nachdem er sich hatte versichern lassen, dass ich zu seiner Geburtstagsfeier am Donnerstag kommen würde, sagte er die Worte, die all die Mühen Wert gewesen waren und die unsere Freundschaft in Stein meiselten: "Ich wußte, dass ich an meinem Geburtstag weinen würde. Aber ich wußte nicht, dass ich aus Freude weinen würde.".

Dienstag, 25. November 2008

Große und kleine Schätze

Es ist bereits Tag 64 in Japan und man würde annehmen, dass ich in meiner näheren Umgebung bereits alles kenne und gesehen habe. Doch selbst nach über zwei Monaten entdeckt man immer wieder vollkommen Neues, man muss nur die Augen offen halten.
Welcher Tag bietet sich besser an, um ein wenig mit offenen Augen durch die Welt zu wandern, als ein Samstag, an dem man noch nichts Besseres geplant hat, außer in seinem Zimmer zu sitzen? Darum liefen Katharina, Lee und ich heute trotz eines sich stetig verdunkelnden Himmels ein wenig in den unbekannteren Gegenden Sokas umher. Damit sind aber keineswegs weit entfernte Stadtteile gemeint, die nur auf beschwerliche Weise erreichbar wären, ganz im Gegenteil, es ist unsere mittelbare Nachbarschaft gemeint, die bislang kaum von uns erkundet wurde. Da wir unsere Erwartungen auf öde Gewerbegebiete, kleine Geschäfte am Straßenrand und weitläufige Wohngebiete beschränkt hatten, war die Überraschung groß, als wir bereits nach kurzer Zeit inmitten einer Einkaufsstraße standen, die bereits seit Monaten buchstäblich um die Ecke lag. Entlang einer der Hauptverkehrsstraßen liefen wir drei an Kleidergeschäften, Elektronikdiscountern und Supermärkten vorbei und staunten immer wieder von neuem über Jenes, was uns seit Monaten verborgen geblieben war. Endlich fand ich so auch das, wonach ich bereits seit Wochen gesucht hatte: Ein Geschäft, in dem man DVDs und CDs erwerben konnte. Begeistert über unsere Neuentdeckung rannten Katharina und ich sogleich in den Laden, während Lee eher mäßig interessiert hinter uns herlief. Fast zwei Stunden lang stöberten wir zwischen Videospielen, DVDs und CDs ohne ein festes Ziel zu verfolgen. Als wir uns schließlich von den vielen elektronischen Versuchungen losreißen konnten, fielen draußen bereits die ersten Tropfen, weshalb wir uns schon wieder auf den Heimweg machen mussten. So war unser Ausflug ins Unbekannte zwar recht kurz und einseitig, aber doch von großem Erfolg gekrönt.
Nachdem wir vor dem Wolkenbruch wieder im Wohnheim angekommen waren, standen wir eine Weile im Eingangsbereich der Wohnung von Lee und Katarina und unterhielten uns. Und als ich meinen Blick durch das Zimmer schweiften ließ, fiel mir etwas ins Auge: An der Wand hing dekorativ eine rotes Stoffarmband, an welchem metallenen Blätter befestigt waren. Ich musste dieses Armband schon des öfteren hier gesehen haben, aber bisher war es mir niemals ins Auge gefallen. Als ich Lee und Katharina darauf ansprach, zuckten die beiden mit den Schultern und gestanden ein, dass sie das Armband zwar auch gesehen hätten, es ihnen aber auch niemals wirklich aufgefallen wäre, schließlich hätte es bereits vor dem Einzug an der Wand gehangen. Ohne größere Diskussion durfte ich es an mich nehmen und um mein Handgelenk legen. Und seitdem ist sie zu meinem ständigen Begleiter, ja sogar fast zu meinem Markenzeichen hier geworden.
Wenn ich darüber nachdenke ist es schon ein Zufall, dass ich dieses Armband überhaupt gefunden habe, schließlich hatte ich es immerhin schon zwei Monaten lang übersehen. Und immer wenn ich die Kette an meinem Handgelenk betrachte, schüttele ich lächelnd den Kopf und muss daran denken, dass man nur die Augen nach jenen Schätzen offen halten muss, die vielleicht schon seit Jahren in unserer unmittelbaren Nähe schlummern.

Sonntag, 23. November 2008

Echte Männer

In den zwei Monaten, die Yosuke und ich uns nun schon Wohnung 404 teilen, hat sich hier ein richtiger kleiner Männerhaushalt gebildet. Darum stapelt sich manchmal das dreckige Geschirr an der Spüle, das Waschbecken wird nicht so oft gesäubert, wie es sollte, die Zimmer sind meist ein heilloses Durcheinander, der Boden ist nie wirklich sauber und manchmal stehen wir gemeinsam ratlos vor der Waschmaschine. Das heißt natürlich nicht, dass wir wie Vandalen hausen, sondern dass wir nach dem Prinzip handeln: Etwas wird gemacht, wenn es sich nicht länger aufschieben lässt und nicht dann, wenn es sich anbieten würde. So haben wir seit unserem Einzug schon immer ein Problem mit dem Abfluss des Waschbeckens gehabt, denn das Wasser fließt viel zu langsam ab. Ganz unserem bewährten Prinzip folgend haben wir dies hingenommen und die Lösung des Problems bis zu jenem Tag hinausgezögert, als es für einen der Beteiligten nicht mehr tragbar war, in diesem Fall mich. Denn als ich heute Mittag am Waschbecken meine Haare gewaschen habe, musste ich fast drei Minuten warten, bis das benutzte Wasser endlich träge den Abfluss hinuntergeflossen war. Um dies nicht länger hinnehmen zu müssen, nahm ich mir getreu dem Motto "Selbst ist der Mann" die Abflussrohre vor und versuchte sie zu öffnen, um den buchstäblichen Kern des Problems aus dem Rohr zu spülen. Ein wenig orientierte ich mich an dem, was ich bei der Installation der Spüle in meiner Wohnung gesehen hatte und versuchte mit aller Kraft das Gewinde aufzudrehen, doch vergebens. Doch just in diesem Moment kam Yosuke nach Hause und sah mich unter dem Waschbecken knien. Kurze Zeit später saßen wir dort zu zweit und zerrten an dem Rohr. Und als wir das Gewinde endlich offen hatten, hing uns ein Büschel, stinkender, langer, feuchter Haare entgegen. Nachdem wir diese irgendwie mit zwei Holzstäbchen aus dem Rohr gefischt hatten, und das Rohr nochmals ordentlich durchgespült hatten, setzten wir alles wieder ordentlich zusammen. Und als nach einem gelungenen Testlauf alles perfekt lief, schauten wir zufrieden auf unser Ergebnis.
Nach fast einer Stunde Unterbrechung konnte ich nun meine Haare zu Ende waschen, hatte ich mir doch erst vor kurzem ein neues Shampoo und einen passenden Conditioner gekauft. Das mag sich nun sehr professionell anhören, aber in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was eigentlich ein Conditioner ist und zu erklären vermochte es mir auch niemand. Zumindest steht in japanischen Supermärkten neben jedem Haarshampoo stets der passende Conditioner, ganz gleich, ob es sich um Männer- oder Frauenshampoo handelt. Aus Neugierde hatte ich mir darum zu meinem Shampoo noch einen passenden Conditioner gekauft, denn irgendeinen Zweck wird er sicherlich erfüllen, wenn er vielerorts so sehr angepriesen wird. Zumindest scheint er bei japanischen Männern gut anzukommen, was aber wenig überraschend ist, bedenkt man wie viel Wert ein Großteil von ihnen auf ihre Haarpracht legt. Ist man bei deutschen Männern oftmals an die 08/15-Kurzhaarfrisur oder eine wild wuchernde, ungepflegte Haarpracht gewöhnt, so beginnt japanisch Individualität an den eigenen Haaren. Selten habe ich solch eine Menge an verschiedenen Frisuren auf einem Haufen gesehen. Der Eine hat schwarze, kurzgeschorene Haare, während der Nächste platinblonde Haare trägt, die weit über seine Schultern fallen. Der Eine hat braungefärbte, glatte, mittellange Haare, während der Nächste mit einem wilden Wuschelkopf voller Strähnen dahergelaufen kommt. Und auch wenn es eine etwas waghalsige Behauptung ist, so denke ich doch, dass viele der Männer hier mehr Zeit für ihr morgentliches Styling benötigen, als die Frauen. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt auf den Toiletten in der Dokkyo-Universität dutzende von Studenten zu treffen, die vor den Spiegeln stehen und akribisch Strähne um Strähne zurechtlegen, mit angefeuchteten Fingern einzelne Haarpartien nachfahren und sich minutenlang von allen Seiten selbst betrachten. Aus Deutschland bin ich es gewohnt, dass Frauen bei Gelegenheit kurz verschwinden, um sich frisch zu machen, hier in Japan muss ich mich daran gewöhnen, dass es Männer ebenso tuen. Und das sogar mit viel mehr Eitelkeit und Akribie als ihre weiblichen Gegenparts. Spreche ich mit anderen über die Absurditäten, die sich aus der Selbstverliebtheit einiger japanischer Männer ergeben, so erzähle ich stets die folgende Anekdote: Als ich in der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden nach getanem Geschäft von der Toilette kam, stand ich vor dem Spiegel und wusch mir meine Hände mit Seife. Zum gleichen Zeitpunkt kam vom Pissoir her ein junger Japaner, der sich gerade erleichtert hatte, stellte sich neben mir an den Spiegel und begann seine Haarsträhnen zurechtzulegen. Und während ich den Schaum von meinem Händen wusch, schaute er sich noch eine Weile lang von jeder Seite im Spiegel an und verließ die Toilette, ohne die Hände auch nur anzufeuchten. Möglicherweise habe ich in Deutschland noch nicht genug Zeit in Feldstudien auf öffentlichen Toiletten investiert, aber Vergleichbares habe ich in meiner Heimat fast noch nie erlebt. Und so stehe ich gelegentlich etwas deplatziert neben all den aufgestylten jungen Japanern vor dem Spiegel und wasche meine Hände, während alle um mich herum in den Spiegel schauen und sich hübsch machen. Aber so sind echte Männer eben, zumindest in Japan.

Pakete, Partys, Peinlichkeiten

Das international center der Dokkyo-Universität ist stets darum bemüht einen regen Austausch zwischen den ausländischen Studierenden und den japanischen Studierenden herzustellen. In enger Zusammenarbeit mit den Studierenden, die Mitglied im Club für Internationale Angelegenheiten sind, werden somit des Öfteren kleinere Zusammentreffen, Partys oder Ausflüge veranstaltet. Früchte dieser Zusammenarbeit waren beispielsweise die Willkommensfeier zu Beginn des Semesters (Mein erster Schultag), der Wandertag (A day in the woods) oder eine Halloweenparty, an der ich wegen des Deutschen Filmfestivals in Tokyo nicht teilnahm. Obwohl mir der Wandertag zwar viel Spass gemacht hat und ich ein paar nette Kontakte knüpfen konnte, sind die restlichen Veranstaltungen doch nicht wirklich ergiebig. So haben die Zusammentreffen und Partys theoretisch zwar das löbliche Konzept japanische und ausländische Studierenden miteinander bekannt zum machen, damit man Konversationspartner und vielleicht auch Freunde findet, in der Praxis sind dies allerdings hauptsächlich Verkupplungspartys, zu denen Japanerinnen gehen, die sich mit einem ausländischen Freund schmücken wollen, oder Ausländer, die eine Liaison mit einer jungen Japanerin oder einem jungen Japaner suchen. Da ich keinen Wert darauf lege als Hahn in einen Stall voller gieriger Hennen gesteckt zu werden, halte ich mich von diesen gut gemeinten, aber doch allzu schnell ins Ordinäre umschlagenden Veranstaltungen fern.
Als ich vor einigen Tagen durch die Universität lief, traf ich auf Tomomi und Hiro, die beiden Japanerinnen, die mir beim Eröffnen meines eigenen Kontos geholfen hatten. Und während wir uns kurz unterhielten, warf Tomomi die Frage in den Raum, ob ich denn zur nächsten Veranstaltung des international center und des Clubs für Internationale Angelegenheiten kommen würde. Dabei deutete sie auf ein Plakat am Schwarzen Brett direkt hinter mir, das ausländische und japanische Studierende dazu einlud an einer sogenannten "Lasst uns japanisch sprechen"-Party teilzunehmen. Da Tomomi und Hiro Mitglieder des Clubs für Internationale Angelegenheiten waren, konnte ich natürlich nicht einfach ablehnen, wollte aber auch nicht zusagen, weshalb ich wie ein Politiker jede Menge Worte machte, aber doch eigentlich nichts sagte. Und damit war für mich die peinliche Party fürs Erste aus der Sicht und aus dem Sinn. Zumindest bis gestern zwischen den Unterrichtsstunden eine Mitarbeiterin des International Center in den Unterrichtssaal kam und Katharina, mich und zwei Chinesen auf frischer Tat ertappte. Vollkommen überraschend kam sie in den Unterrichtssaal, berichtete kurz über die "Lasst uns japanisch sprechen"-Party und hielt uns eine Liste samt Stift entgegen, damit wir uns sofort eintragen könnten. Zunächst versuchte ich möglichst höflich abzulehnen, indem ich mitteilte, dass ich noch gar nicht wusste, ob ich denn Zeit hätte, ebenso Katharina. Doch die Mitarbeiterin ließ nicht locker, hielt uns Liste und Stift entgegen und versicherte uns, mehrfach dass es auch umsonst Essen gäbe. Da dies nicht wirklich ein schlagkräftiges Argument war, versuchten Katharina und ich uns irgendwie aus dieser Situation zu befreien, bis die Mitarbeiterin dann irgendwann aufgab und ganz verzweifelt sagte, dass nur die Unterschrift wichtig sei und wir auch nicht kommen müssten, wenn wir nicht wollten. Und da Katharina und ich die arme Frau nicht zum Weinen bringen wollten, trugen wir uns in die Liste ein, nachdem wir uns mehrfach hatten versichern lassen, dass es auch wirklich in Ordnung sei, wenn wir nicht kommen würden. Zufrieden nahm die Mitarbeiterin ihre Liste, ging strahlend zum Ausgang und verabschiedete sich mit einem hämisch grinsenden "Dann bis Morgen". Und da saßen Katharina und ich und hatten das Gefühl einen dummen Fehler gemacht zu haben.
Als der Unterricht dann vorbei war, fiel mir auf, dass auf meinem Tisch noch immer der Stift der Mitarbeiterin lag. Und ehrlich wie ich bin, steckte ich ihn nicht einfach ein, sondern brachte ihn nach dem Unterricht ins international center zurück, wo ich ihn einer Mitarbeiterin übergab, die mich bereits kannte. Und dann geschah natürlich das Unvermeidbare: Als ich bereits gehen wollte, fragte mich die Mitarbeiterin, ob ich denn auch zu der "Lasst uns japanisch sprechen"-Party ginge. Hinter ihr standen andere Mitarbeiter und der Chef der Abteilung, die alle meine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit erlebt hatten und Zeuge geworden waren, wie ich laut mit meinem Namen angesprochen worden war. Alle schauten mich nun erwartungsvoll an und so lächelte ich nur aufgesetzt, lies eine kurze Zeit verstreichen, bis ich vollkommen überzeugt "Aber natürlich, ich freue mich schon." log. Der Abteilungschef nickte zufrieden und die Mitarbeiter widmeten sich wieder ihren Arbeiten, während ich geknickt aus dem international center schlurfte und mich ärgerte, dass ich einfach nicht "Nein" sagen konnte.
Heute war mir diese Party dann den ganzen Tag ein Dorn im Auge. Und als ich in einer freien Minute missmutig mit Katharina in die English Communication Zone ging, trafen wir auf Nobuko, eine Freudin von Tak, und ihre Freundin Ayano (eine andere Ayano, als jene, die ich bisher kannte) und schilderten ihnen unser Leid. Auch wenn wir wegen der Party ein wenig schlecht gelaunt waren, so mussten wir doch alle gemeinsam über unser absurdes Pech und die Peinlichkeiten bei diesen Partys lachen. Nobuko und Ayano wollten gar nicht wahrhaben, dass diese Veranstaltungen eigentlich nur Verkupplungspartys waren, zu denen bevorzugt willige Japanerinnen und ausländische Studierende gingen. Und um so mehr absurde Anekdoten ich von meinen Erfahrungen mit diesen peinlichen Treffen von mir gab, um so lauter mussten Nobuko und Ayano lachen, bis sie sich letztlich ansahen und übereinkamen, dass sie sich solch ein Spektakel selbst einmal aus nächster Nähe anschauen mussten. Also verabredeten wir uns kurz vor Beginn der zweistündigen "Lasst und japanisch sprechen"-Party auf dem Campus, um das Beste aus der Situation zu machen und gemeinsam über die peinliche Party lachen zu können.
Als ich vor der Party noch ins Wohnheim ging, lag in meinem Postfach ein großes Paket. Nach eineinhalb Wochen war endlich das Express-Paket meiner Mutter angekommen und nachdem ich es ausgiebig fotografiert hatte, packte ich es glücklich aus. Seitdem stapeln sich auf meinem Schreibtisch Fertigsuppen, Fertigsoßen, Fertigpudding, Konservendosen, Brause und andere Aufgießgetränke.


Bild1: Das Paket meiner Mutter ist endlich angekommen.

Am Nachmittag ging ich mit Katharina schließlich zurück zur Dokkyo-Universität und traf dort wie geplant Nobuko und Ayano. Gemeinsam gingen wir zu der "Lasst uns japanisch sprechen"-Party, wo bereits Tomomi und Hiro saßen und glücklich unsere Namen auf der Liste abhakten. Dann betraten wir einen größeren Raum, in dem bereits ein paar Japaner und viele Japanerinnen in Grüppchen standen und saßen. Während wir selbstsicher einmal quer durch den Raum liefen, schaute sich Nobuko um, stieß mich hastig an und flüsterte lachend: "Die Mädchen schauen dich ja echt alle an!". "Ja, das habe ich doch die ganze Zeit gesagt!", erwiderte ich und versuchte jeglichem Blickkontakt mit Japanerinnen zu entgehen. Als wir dann in Gruppen zur Konversation eingeteilt wurden, musste jeder einen Zettel aus einer Tüte ziehen und an den entsprechenden Tisch gehen. Wir alle fanden dies recht lächerlich und kamen uns ein wenig wie bei einem Speed-Dating vor. Nichtsdestotrotz zog ich brav einen Zettel mit der Nummer 1 aus der Tüte, zeigte ihn Nobuko, die daraufhin so lange in der Tüte herumwühlte, bis auch sie eine 1 gezogen hatte. Ebenso Ayano und Katharina. Und dann standen wir mit einem bunten Haufen anderer Studierender an Tisch Nummer 1 und schwiegen uns zu Tode. Um irgendwie eine Konversation zustande zu bringen, wurde das gemacht, was man in Japan nur allzu oft macht und auch schon des Öfteren in meinem Einträgen erwähnt wurde: Reihum musste sich jeder auf Japanisch vorstellen und ein paar Sätze über sich verlieren. Und kaum hatten wir das gemacht, wurden auch alle ausländisch Studierenden nach vorne geholt und mussten, man ahnt es schon, sich noch einmal vor allen Anwesenden vorstellen. Also stand ich wieder vorne, wartete bis mir das Mikrofon in die Hand gedrückt wurde und spulte meine Standardsätze ab. Kaum war ich fertig, sah ich schon eine Unzahl von glitzernden Mädchenaugen auf mich gerichtet, deren junge Besitzerinnen frenetisch applaudierten und sich wohl am liebsten auf mich gestürzt und zerfleischt hätten.
Nachdem sich jeder ausländische Studierende vorgestellt hatte, durften wir zurück an unseren Tisch schlurfen und das Essen wurde eröffnet. Und irgendwie kam ich mit einem jungen Japaner ins Gespräch. Seinen Namen habe ich längst vergessen, ich weiß nicht einmal mehr, ob ich ihn je wusste. Ich weiß aber noch, dass es das schlechteste Gespräch war, dass ich jemals geführt hatte. Denn der Japaner verstand zwar einigermaßen mein Japanisch, doch ich hatte keinerlei Ahnung, was er mir mitteilen wollte. Und so bat ich ihn stets seinen Satz nochmals zu wiederholen. Und ein zweites Mal. Und ein drittes Mal. Und ich entschuldigte mich, dass ich ihn so schlecht verstand und bat ihn ein viertes Mal. Und ein fünftes Mal. Und dann bat ich ihn den Satz doch auf Englisch zu wiederholen. Und auch dies ein zweites und ein drittes Mal. Und dann lächelte ich einfach nur noch nervös und zuckte die Schultern. Und irgendwann verstand ich, dass er mich versuchte auf deutsch zu fragen, ob ich aus Mitteldeutschland käme. Er schien sich aber weder von seiner grottenschlechten Aussprache noch von dem offensichtlich anders lautendem Titel der Party, nämlich "Lasst uns japanisch sprechen", davon abbringen weiterhin mit "Deutsch" auf mich einzureden. Anfangs konzentrierte ich mich noch auf seinen Redefluss und nahm hin und wieder etwas vom Buffet, um nicht zu desinteressiert zu wirken, doch schon nach fünf Minuten konzentrierte ich mich nur noch auf das Buffet und warf gelegentlich gelangweilte Ähs und Ahs ein, um so desinteressiert wie nur möglich zu wirken. Aber bedauerlicherweise kamen wir nicht aus dem Gespräch heraus und so stopfte ich mich mit Kartoffeln, Bohnen und Chips voll, während er mit zittrigen Händen jeden Satz fünfmal wiederholte und hoffte, dass ich diesmal vielleicht nicht auf japanisch sagen würde "Habe ich nicht verstande. Bitte noch einmal.". Irgendwann zog mich glücklicherweise Nobuko weg, die ich sofort anflehte mich in irgendein Gespräch zu verwickeln, damit ich nicht wieder mit dem Japaner sprechen musste, welcher übrigens ebenso schnell wie ich weggegangen war, sich zu einer Gruppe von Chinesen gestellt hatte und versuchte sich irgendwie in das Gespräch einzuklinken. Kaum hatte ich mit Nobuko vereinbart den Rest der Party ein scheinbar interessiertes Gespräch vorzutäuschen, wurden alle Anwesenden wieder gemischt und neu verteilt, weshalb ich nun ganz alleine an Tisch 2 stand. Um ein Gespräch in Gang zu bringen, musste sich wieder einmal jeder kurz auf japanisch vorstellen. Ich war froh Ryou, den Chinesen aus meinem Sprachkurs, an meinem Tisch zu haben und verwickelte ihn gleich in ein kurzes Gespräch, um nicht Gefahr zu laufen, wieder in eine vollkommen ungewollte Konversation hineingezogen zu werden. Doch gerade als unser Gespräch in Gang kam, geschah das, was ich bereits den ganzen Tag befürchtet hatte, hinter mir standen zwei kleine Japanerinnen, die unbedingt mit mir, dem hochgewachsenen Ausländer, sprechen wollten. Und ehe ich sie abwimmeln konnte, war Ryou auch schon davon gelaufen und mir blieb nichts anderes übrig, als ein Gespräch mit den beiden kichernden, kleinen Japanerinnen zu beginnen.
Über eine halbe Stunde dauerte das Gespräch mit den beiden Japanerinnen, das zu achtzig Prozent eigentlich ein Monolog meinerseits war, da die beiden Mädchen meist meine Fragen nur mit einem Kichern oder einem "Oh, wie süß." kommentierten. Und so stand ich dreißig geschlagene Minuten unter dem Druck mir ständig neue Fragen auszudenken, da von den beiden Mädchen fast nie irgendeine Form von Gegenfrage kam. Und so erzählte ich ein wenig von mir und zog den quietschenden Mädchen jede Antwort einzeln aus der Nase. In der Hoffnung irgendwo Katharina, Nobuko oder Ayano zu erblicken, blickte ich mich immer wieder hilflos um, doch leider vergebens. Und so quälte ich mich durch ein gezwungenes Gespräch, das so gar kein Ende finden wollte. Nachdem ich dann irgendwann einfach nicht mehr wußte, was ich nun noch fragen sollte und bereits wieder begann Chips in mich hinein zu schaufeln, verabschiedeten sich die beiden Mädchen endlich und zogen kichernd davon. Doch nach nicht einmal 20 Sekunden, stand bereits die nächste Zweiergruppe von Mädchen vor mir. Sie reichten mir die Hand und begannen mich mit glitzernden Augen anzustarren. Nachdem sie mir höflichkeitshalber drei Fragen gestellt hatten, holte das eine Mädchen ihr Mobiltelephon aus ihrem Handtäschchen und drückte es ihrer Freundin in die Hand. "Können wir ein Foto mit dir machen?", sagte sie und drückte sich bereits, in die Kamera lächelnd, an meine Seite. Da blieb mir gar nichts anderes übrig als einfach zu nicken und auch in die Kamera zu lächeln. Kichernd und tuschelnd blickten die beiden Mädchen auf ihr erbeutetes Foto und zogen lachend davon. Und schon kam kam das nächste Mädchen angelaufen, diesmal aber glücklicherweise Nobuko, die mit weit aufgerissenen Augen auf mich zugeeilt kam und sofort panisch flüsterte: "Hilf mir! Hilf mir! Ich will nicht mehr mit dem aufdringlichen Ausländer sprechen!". Und recht schnell stellte sich heraus, dass auch sie die letzte halbe Stunde in ein peinliches Gespräch verwickelt gewesen war, aus dem es keinen Ausweg gegeben hatte. Nobuko konnte sich gar nicht mehr einkriegen und regte sich unentwegt darüber auf, wie unverblümt ihr Gesprächspartner ihr auf die Pelle gerückt war. "Warum stehen all diese dummen Mädchen um ihn rum und himmeln ihn so an?", regte sich Nobuko auf und ich tat mein Bestes, um sie ein wenig zu beruhigen. Ich habe einmal gehört, dass viele Ausländer viel direkter flirteten als ihre gleichaltrigen, japanischen Landsmänner, was auf einige Japanerinnen einen unwiderstehlichen Charme ausübt, während es anderen vollkommen verschreckt. Und so musste ich ein wenig nachdenken, ob Nobukos Gesprächspartner wirklich so aufdringlich gewesen war, wie sie mir panisch schilderte, oder ob es doch nur ein Schock über die ungewohnte Direktheit gewesen war. Wie dem auch sei, wir beide hatten erst einmal genug von der gut gemeinten Party, sammelten Katharina und Ayano wieder ein und verließen mit einigen anderen den Raum.
Kurze Zeit später standen wir auf dem Campus noch in eine ruhige Ecke und ließen die "Lasst und japanisch sprechen"-Party nochmals Revue passieren. Dabei waren wir uns alle darin einig, dass dies wohl für jeden von uns eine der peinlichsten Veranstaltungen gewesen war, die wir je besucht hatten. Aber auch wenn die vergangenen zwei Stunden noch so träge und nervenaufreibend gewesen waren, so boten sie doch ein unerschöpfliches Gesprächspotential und jede Menge Denkanstöße, über das Verhältnis zwischen Japanern und Nicht-Japanern. Gemeinsam zerpflückten wir die Veranstaltung und kamen uns überein, dass dies wirklich nicht mehr als eine gigantische Partnerbörse war. "Aber immerhin", sagte ich zum Abschluss, "Ich hatte dort ein reichhaltiges Buffet zu Abendessen und habe sehr viel Japanisch gesprochen. Und vielleicht muss man so eine Veranstaltung auch einmal besucht haben.". Lachend verabschiedeten wir uns und während Nobuko mit Ayano zum Bahnhof ging, um nach Hause zu fahren, lief ich mit Katharina zum Wohnheim. Auf dem Rückweg unterhielten wir uns noch einmal ausgiebig über die vergangenen zwei Stunden, die so peinlich und doch so ergiebig gewesen waren.

Freitag, 21. November 2008

Über innere Hürden springen

Es kommt des Öfteren vor, dass Katharina zu spät ins Bett geht oder nicht schlafen kann und dann den gesamten kommenden Tag müde ist. Das könnte mich eigentlich herzlich wenig kümmern, wenn ihre Müdigkeit nicht verheerende Folgen auf ihre Stimmung und ihren Umgang mit anderen Menschen, insbesondere mir, haben würde. So grault es mir immer vor den Tagen, an denen sie morgens mit einem finsteren Blick aus dem Wohnheim kommt, mit aufgesetztem Lächeln "Morgen." sagt und sich in ihrer eigenen kleinen Welt verschanzt, indem sie ihrem MP3-Player einschaltet. Dann läuft sie nämlich mit eisernem Gesicht neben Lee und mir her und sagt kaum ein Wort. Im Unterricht kritzelt sie meist lustlos in ihrem Block herum und folgt dem Unterricht nicht, was dazu führt, dass ich ihr alle paar Minuten von Neuem sagen muss auf welcher Seite wir gerade arbeiten, welche Übungen wir machen sollen, was der Lehrer gerade erklärt hat oder wie die neue Grammatik funktioniert. All zu oft kommt es zu jenen Situationen, in denen ich Katharina einen guten Rat, eine einfache Antwort oder eine Hilfestellung gebe, es bei ihr aber vollkommen falsch und provokativ ankommt und man am Ende immer als der Dümmere dasteht.
Heute hatte Katharina einmal mehr einen ihrer müden Tage, was dazu führte, dass wir seit dem Morgen auf Kriegsfuss standen. Also versuchte ich mögliche Reizquellen zu umgehen und die gelegentlichen Sticheleien möglichst souverän zu überhören. Irgendwann war das Fass dann aber am Überlaufen und ich sagte ihr zwischen der ersten und der zweiten Unterrichtsstunde recht direkt, wie unangemessen ich ihr Verhalten fand und wie viel Spass wir doch haben könnten, wenn es nicht hin und wieder ihre "müden Tage" gäbe. Wie erwartet war sie zunächst ziemlich beleidigt und konterte nur mit Sticheleien. Doch im Verlauf des Tages merkte ich wie sie sich bemühte ihre schlechte Laune zu unterdrücken und ihre schnippischen Bemerkungen möglichst schnell wieder zu entschärfen. Natürlich sagte sie nie auch nur ein einziges Mal eine Entschuldigung, dafür ist sie zu stolz, aber ich kenne sie doch gut genug, um zu wissen, dass sie sich meine Kritik sehr zu Herzen genommen hat und seitdem stetig bemüht ist an den Folgen ihrer müden Tage zu arbeiten.
Zum Mittagessen war ich wie gewohnt mit Lee und Katharina in der Mensa. Normalerweise bestelle ich einen Teller Curryreis, doch hin und wieder, wenn es etwas Leckeres im Angebot gibt und ich einen spendablen Tag habe, kaufe ich mir ein anderes Gericht, um ein wenig Abwechslung zu haben. So esse ich gelegentlich Reis mit Salat und Geflügelbällchen, Spaghetti Bolognese, Kartoffeltaschen mit Reis und Salat, Pilaf oder andere Gerichte. Bislang waren die Speisen in keiner Weise besonders, weshalb ich sie noch nie erwähnt habe. Heute war dies allerdings anders: Im Schaukasten der angebotenen Speisen fand ich heute nämlich Curryreis mit Gemüsebeilage und einem pochierten Ei, was ich mir sogleich orderte. Als ich meinen Teller allerdings in die Hand gedrückt bekam, war das Ei weitaus flüssiger, als ich gedacht hatte, es war nämlich fast roh. Mit dem glibberigen Ei, das sich langsam von der einen Seite des Tellers auf die andere Seite hinüberwälzte, suchte ich mir einen Platz und blickte missmutig auf meine Mahlzeit. Ich wollte weder die japanische Küche beleidigen, noch unaufgeschlossen wirken, aber das Ei, so friedlich es auch auf dem restlichen Essen umherschwamm, war doch ein sehr befremdlicher Anblick, der mich nicht dazu verführte voller Freude meine Mahlzeit hinunterzuschlingen. Aber dann fasste ich mir doch ein Herz und aß einen Löffel voller glibberigem Ei mit Curryreis. Und überraschenderweise schmeckte es gar nicht schlecht. Es war wohl mehr der Gedanke ein kaltes, halbrohes Ei im Mund zu haben, als der tatsächliche Geschmack, der mir anfangs die Freude am Essen verdarb. Aber schon nach wenigen Happen sah ich ein, dass das Gericht recht gut schmeckte und schaufelte in gewohntem Tempo mein Essen in mich hinein. Auch wenn dies sicher nicht meine Lieblingsspeise werden wird, so spiele ich doch mit dem Gedanken es bei Gelegenheit noch einmal zu bestellen.
Schon seit einigen Wochen haben Lee und ich ein schlechtes Gewissen, weil wir das Gefühl haben zu oft tatenlos in der Wohnung zu sitzen, ohne uns richtig bewegen zu können. Darum haben wir uns beide gegenseitig dazu ermuntert ein wenig sportlich aktiver zu werden und sind heute das erste Mal gemeinsam Joggen gegangen. Es war anstrengend und ich war bereits nach kürzester Zeit vollkommen außer Atem, aber es fühlte sich gut an. Und ganz nebenbei haben wir auch ein wenig von den vielen kleinen verwinkelten Gässchen Sokas gesehen. Schwer atmend, aber mit gutem Gewissen, standen wir dann noch fast eine halbe Stunde im vierten Stock des Wohnheims und ließen unseren Blick über Soka schweifen. Und während wir uns unterhielten wurde mir erst richtig bewusst, dass Lee in den knapp zwei Monaten hier in Japan bereits zu einer richtigen Freundin geworden war. Und so standen wir mit müden Körpern an der frischen Luft, sahen uns den Sonnenuntergang an und philosophierten über unsere Heimat, was wir bereits in Japan erlebt hatten und was wir noch erleben wollten.

Montag, 17. November 2008

Missionsziel: Ein Treffen mit Tak

Sich mit Tak zu treffen ist immer ein kleines Abenteuer. Dabei meine ich sowohl das Treffen an sich, als auch den Weg dorthin. Denn auch wenn Tak ein guter und aufgeschlossener Freund ist, so ist er zugegebenermaßen doch ziemlich chaotisch. Da hilft es dann auch nicht, dass er sich einige japanische Angewohnheiten einfach nicht abgewöhnen kann, die alles nur noch chaotischer werden lassen. Ein gutes Beispiel ist dieser Montag, Tag 59 in Japan, an dem ich mich wieder einmal mit Tak treffen wollte. 
Anfangs deutete noch nichts auf eines der chaotischen Abenteuer hin, als wir nur ein schlichtes Datum mit Uhrzeit und Ort vereinbart hatten, nämlich Montag um 15 Uhr vor dem International Center. Doch da diese mündliche Vereinbarung schon fast eine Woche zurücklag begann ich ein wenig unruhig zu werden. Möglicherweise ist es nur eine Macke von mir, aber eine kleine Rückmeldung oder Bestätigung des Termins erscheint mir nach größeren Zeitspannen angemessen. Aus weiser Voraussicht hatte ich deshalb bereits am Samstag vor dem Treffen eine kurze Nachricht auf Taks Mobiltelefon geschickt, um mir den Termin bestätigen zu lassen. Allerdings vergeblich, denn auch am Montagmorgen, als ich in die Universität ging, war noch immer keine Antwort angekommen und so blieb mir scheinbar nichts anderes übrig als auf gut Glück vor dem International Center zu warten. Da ich Tak nach einigen Wochen nun aber schon ein wenig kannte, eilte ich in der Mittagspause in die Bibliothek und überprüfte 90 Minuten vor dem Treffen nochmals mein eMailkonto und war nicht wenig überrascht auch tatsächlich eine Nachricht von Tak zu finden. In dieser Mail verlegte er das Treffen in die ICZ (International Communication Zone) und beschränkte es auf eine Stunde, da er danach noch eine Präsentation vorbereiten musste. Einerseits war ich stolz auf mich selbst, da ich die eMail durch meine scharfsinnige Kombinationsgabe noch rechtzeitig gelesen hatte, andererseits schüttelte ich ein wenig den Kopf über Taks etwas verspätete Planänderungen. Schließlich hätte er auch schon vor Tagen eine eMail schreiben können.
Nach dem Unterricht kam ich dann pünktlich in die ICZ, wo Tak auch eifrig arbeitend mit einem anderen Japaner an einem Tisch saß. Sobald er mich sah, winkte er mich lächelnd herbei und stellte mich seinem Freund vor. Und wenn man vorgestellt wird, beginnt man natürlich erst einmal sich nett zu unterhalten, tauscht ein paar Floskeln aus und spult das Standardrepertoire an Fragen ab. Aber hier trat schon das nächste Problem auf: Wie kam ich aus dem Gespräch mit Taks Freund wieder heraus, ohne es unhöflich zu unterbrechen? Schließlich konnte ich ja schlecht sagen: "Also ich habe mich eigentlich mit Tak zur Konversation verabredet, könntest du also...naja...gehen?". Und so kam es, dass ich mich mit Taks Freund unterhielt, während Tak aufmerksam unserem Gespräch folgte und hier und da einen kurzen Kommentar einwarf. Nach einiger Zeit kam dann plötzlich ein weiterer Japaner an, der sich etwas unsicher auf Englisch vorstellte und nervös zu uns setzte. Wußte ich erst gar nicht wie mir geschah, stellte sich bald heraus, dass dies Kenji war, ein weiterer Freund Taks, der gekommen war, um sich mit mir zu unterhalten. Allmählich verlor ich die Übersicht über das Treffen und fragte mich innerlich: "Hatte ich mich nicht eigentlich nur mit Tak verabredet?". Doch der war längst auf der Toilette verschwunden, weshalb ich alleine mit Kenji und Taks anderem Freund dasaß und mich ein wenig gezwungen unterhielt. Natürlich lernte ich auf diese Weise auch Japanisch, aber ein wenig auf den Arm genommen, kam ich mir doch vor. Und als Tak dann wiederkam, setzte er sich zwar zu uns, packte aber ein Blatt aus und begann zu lesen, statt sich in unsere Konversation einzumischen. Nach knapp einer Stunde begannen dann alle ihre Sachen zusammenzupacken und sich zu verteilen, da der Unterricht wieder begann. Tak schaute ein wenig unsicher in meine Richtung und fragte, ob ich denn später noch Zeit zum Treffen hatte, woraufhin ich ihn dann vollends verwirrt anschaute und fragte, ob er da denn nicht sein Präsentation vorbereiten müsse, die er in seiner eMail erwähnt hatte. Und erst dann stellte sich heraus, dass Tak genau in diesem Moment seine Präsentation halten musste und wegen mir keine Zeit zum Vorbereiten gefunden hatte. Vermutlich hatte er deswegen seine Freunde eingeladen, damit ich trotz seiner Beschäftigung Japanisch sprechen konnte. Natürlich hatte er es gut gemeint, aber aus meiner Sicht wäre eine einfach Absage schlichtweg einfacher gewesen und hätte einiges an Verwirrungen erspart. Und so versprach ich trotz des vorangehenden Chaos zu warten, um Tak nach seiner Präsentation zu treffen.
So setzte ich mich in die English Communication Zone, packte meine Lernmaterialien aus und bereitete mich auf neunzig Minuten Lernen vor. Doch kaum hatte ich mein Buch aufgeschlagen, kam ein schmächtiger Japaner an meinen Tisch gewackelt und blieb erwartungsvoll stehen. "Du kennst Nemoto? Äh...Takeru? Tak?" Ein wenig verwirrt war ich schon, dass der junge Japaner so zielstrebig nachfragte und beschloss auf seine Fragen mit Bedacht zu antworten. Nachdem er zunächst eine ganze Reihe von Fragen losgeworden war, stellte er sich als Erstsemesterstudent vor, der unter der Verantwortung Taks stand. Da er ebenso wie Tak englische Sprache studierte, begann er sofort mit mir ein Gespräch auf Englisch, obwohl ich eigentlich Lernen wollte. Einmal mehr wußte ich nicht, wie man möglichst galant aus einem Gespräch entkommen könnte und lies mich darum von seinen Worten einlullen. Irgendwann begannen dann mehr und mehr Studenten in den Raum zu strömen, bis schließlich ein großgewachsener Ausländer hereinschritt, der offensichtlich Dozent an der Dokkyo-Universität war. Als ich meinen neuen Gesprächspartner darauf hinwies, stutzte dieser, schaute mich verwirrt an und fragte irritiert: "Du bist doch wegen des Englisch Konversationskurses hier, oder?". Nein, war ich eigentlich nicht, dachte ich mir, saß aber bereits mittendrin. Und so unterhielt ich mich dann einfach die restlichen 90 Minuten mit Taks Zögling auf Englisch, bis dieser zu seinem Fußballtraining eilte und ich wieder alleine an meinem Tisch saß. Kurz darauf verschwanden auch die anderen Kursteilnehmer inklusive ihres Lehrer und so saß ich schließlich ganz alleine in der English Communication Zone.
Etwas verspätet traf Tak dann ein und endlich konnte unser eigentliches Treffen beginnen. Doch ich merkte recht schnell, dass Tak nach seinem harten Unitag schon fast im Stehen einschlief, weshalb letztlich nicht mehr viel Produktives entstand. Ein wenig ärgerte ich mich nun meinen ganzen Tag vertrödelt zu haben und stellte Tak zur Rede. Zwar brachte ich meinen Missmut sehr blumig und freundlich vor, aber Tak verstand dennoch worauf ich hinauswollte und entschuldigte sich schuldbewusst. Typisch japanisch hatte er nicht unhöflich sein wollen, indem er mir einfach abgesagt hätte, weshalb er sich trotz des Drucks seiner Präsentation und seiner Müdigkeit mit mir getroffen hatte. Ich bedankte mich für seine Höflichkeit, erklärte ihm aber auch recht deutlich, dass seine Höflichkeit aus westlicher Sicht eher unhöflich war und es für mich kein Problem gewesen wäre, wenn er unser Treffen um einen Tag verschoben hätte. Das sah er ein und bot mir lächelnd an "unhöflicher" zu werden, was ich lachend annahm. Und so hatten wir eine kulturelle Barriere nach einem chaotischen Tag fürs Erste aus dem Weg geräumt. Da es mittlerweile auch schon recht spät war, trennten sich unsere Wege vor der Universität und mit dem Versprechen abends noch einmal übers Internet ein nächstes Treffen zu vereinbaren, ging ich in Richtung Wohnheim.
Und so wartete ich am Abend darauf, dass Tak sich schließlich meldete. Und als er dies schließlich spät abends tat, vereinbarten wir ein Treffen für den kommenden Montag, an dem er diesmal auch tatsächlich Zeit hatte.

Samstag, 15. November 2008

Herbstanfang

Ich habe noch nie viel von jenen Tagen gehalten, die den symbolischen Beginn einer Jahreszeit markieren sollen. Denn wozu braucht man symbolische Anfänge, wenn in der Realität jeder komplett subjektiv entscheidet, wann der Winter in den Frühling, oder der Sommer in den Herbst umschlägt. Obwohl ich mich laut offizieller Festlegung schon seit September im Herbst befand, war für mich die Zeit in Japan größtenteils Sommerzeit gewesen, schließlich schien die Sonne, man konnte im T-Shirt durch die Straßen laufen und gelegentlich musste man sogar die Klimaanlage auf Kühlen einstellen. Auch wenn es in den letzten Woche des öfteren zu Regenschauern und Gewittern kam, hatte ich doch nie das Gefühl verloren mich im Sommer zu befinden. Zumindest bis heute, denn eine einfache Handlung läutete für mich heute ganz persönlich den Beginn der Herbstzeit ein: Das Einschalten der Heizung.
Wer nun aber denkt, dass das Einschalten der Heizung dem einfachen Aufdrehen einer Leitung gleichkommt, irrt sich. Denn obwohl ich schon seit meinem ersten Tag in Japan immer wieder an der Fernbedienung der Klimaanlage herumgespielt habe, muss ich eingestehen nie wirklich verstanden zu haben, was ich eigentlich mache. Irgendwann habe ich mich dann damit zufrieden gegeben, dass meine Klimaanlage auf Knopfdruck mein Zimmer auf 22° kühlen konnte und habe mich seitdem davor gehütet die Einstellungen zu ändern. Da kam es mir heute gerade recht, dass heute Yosuke nach dem Aufstehe, erst einmal laut fluchend über die Kälte in unserer Wohnung duschte und sich daraufhin sogleich in sein Zimmer verzog, um so lange an seiner eigenen Klimaanlage herumwerkelte, bis sie begann sein Zimmer zu heizen. Nur leider war das Heizen weniger Ergebnis eines grundsätzlichen Verständnisses der Funktionsweise, als vielmehr ein Glückstreffer, weshalb Yosuke kurz darauf mit mir gemeinsam vor der Fernbedienung meiner Klimaanlage saß und versuchte zu rekonstruieren, wie er es geschafft hatte auf Heizen umzustellen. Mit Bedacht auf verschiedene Tasten der Fernbedienung drückend, standen Yosuke und ich vor meiner Klimaanlage, bis uns endlich ein Schwall warmer, stinkender Luft ins Gesicht blies. Seitdem kann ich mein Zimmer bei jeder Gelegenheit binnen weniger Minuten auf die Temperatur eine Sauna aufheizen.
Um die kalte Jahreszeit angemessen zu begrüßen, habe ich mir mittags "Zenzai" gekocht. Zenzai ist eigentlich nichts anderes als Bohnen mit Wasser, Zucker und Mochi. Wobei Mochi wiederum nichts anderes ist, als klebrige Reismasse, die man wieder getrocknet hat. Die Zubereitung erforderte nur minimalen Aufwand und so saß ich mittags glücklich vor einer dampfenden Schüssel Zenzai und zelebrierte den Herbstanfang. Da Zenzai eientlich eine Nachspeise ist, war mein Mittagessen zwar sehr lecker, aber auch ziemlich süß. Deshalb bereitete ich mir abends dann ganz unspektakulär eine Schüssel Spaghetti mit Tomatensoße zu. Die waren zwar nicht kulinarisch ausgefeilt oder dem Beginn des Herbstes besonders nahestehend, dafür aber simpel in der Zubereitung, zeitsparend und magenfüllend. Und irgendwie hatte es dann auch etwas Nostalgisches nach zwei Monaten wieder einmal einfach nur gute, alte Spaghetti zu essen.


Bild1: Eine Süßspeise aus Bohnen, Wasser, Unmengen an Zucker und Mochi: Zenzai.

Lebensfrohe Menschen

Frau Takeda muss man einfach lieb haben, denn wenn sie freitags in den Unterricht kommt, geht die Sonne auf. Jede Woche kommt sie mit unerschöpflicher Lebensfreude und ansteckendem Optimismus in den Lehrsaal und überrascht mich stets mit etwas Neuem. Als sie heute durch die Tür kam, zog sie schnaufend eine Tüte hinter sich her, die sie mit großer Anstrengung auf den Tisch knallte. Während sich alle Anwesenden verwirrt anschauten, begann Frau Takeda aus der Tüte eine Packung Süßigkeiten nach der anderen zu ziehen. Ohne irgendeine Begründung lief sie dann mit jeder Packung lächelnd zwischen den Tischreihen umher und legte jedem eine Süßigkeit nach der anderen auf den Tisch, einfach so. Und so ist es für mich immer wieder ein Erlebnis in ihren Unterricht zu gehen und mich überraschen zu lassen, ob sie Süßigkeiten verteilt, lustige Anekdoten erzählt, das Unterrichtsbuch beiseite legt und mit uns über einen aktuellen Zeitungsartikel spricht oder uns japanische Kinderspiele beibringen will.


Bild1: Meine Sprachlehrerin vom Freitag: Die lebensfrohe Frau Takeda.


Bild2: Das Foto ist leider unscharf, aber man erkennt dennoch die Süßigkeiten, die sich vor meinem Lehrbuch auftürmen.


Lee hat heute erzählt, dass sie eine Kirche in Soka gefunden hat, in der einmal wöchentlich englischsprachige Gottesdienste gehalten werden. Da sie sehr christlich ist und ein wenig den Kontakt zu ihrer Gemeinde vermisst, hat sie beschlossen regelmäßig an den besagten Gottesdiensten teilzunehmen. Als sie dort war, war sie dann ziemlich überrascht, dass der Gottesdienst doch ganz anders verlief, als sie es aus den U.S.A. gewohnt war. Im Vorhinein rechnete sie mit einer halbleeren Kirche, in welcher der Pfarrer wie gewohnt seine Predigt vor der aufmerksam lauschenden Gemeinde hält. In Realität war die Kirche aber zu neunzig Prozent mit Afrikanern gefüllt, die die Kirche mit ihrer Lebensfreude füllten und während des gesamten Gottesdienstes sprachen, lachten und ziemlich lautstark ihren Glauben auslebten. Obwohl Lee zugab anfangs ein wenig irritiert gewesen zu sein, schien sie sich an dem zwar ungewöhnlichen, aber doch sehr lebensfrohen Gottesdienst erfreut zu haben. Vermutlich wird sie nun sogar regelmäßig in die Kirche gehen. Obwohl ich kein sehr gläubiger Mensch bin, hat mich Lees Schilderung doch fasziniert und ein wenig neuierig gemacht. Vielleicht werde ich bei Gelegenheit auch einmal mit in einen englischsprachigen Gottesdienst hier in Japan gehen.

Freitag, 14. November 2008

Wahlen und Entscheidungen

Obwohl ich den ganzen Dienstag zu meiner freien Verfügung hatte, war ich gezwungen mich einmal mehr meiner Präsentation zu widmen, diesmal aber bereits der Zweiten. Bereits am Freitag hatte ich mein Skript abzugeben, weshalb ich mich endlich für ein Thema entscheiden und mit dem Niederschreiben beginnen sollte. Nach einigem Überlegen fiel meine Wahl auf die Sage von Herakles aus der griechischen Mythologie, weshalb ich mich den gesamten Dienstag in meinem Zimmer verschanzte, Daten sammelte, eine Gliederung entwarf und schließlich mein gedankliches Gerüst mit Inhalt füllte. Obwohl ich den ganzen Tag an meiner Präsentation gesessen hatte, war ich am Abend doch nur zur Hälfte fertig geworden, weshalb ich am Abend ein wenig missmutig schlafen ging.
Der folgende Tag war geprägt durch die Präsidentschaftswahl in den U.S.A.: Bereits gleich nach dem Aufstehen, suchte ich im Internet nach ersten Hochrechnungen, die ich aber nicht finden konnte. Eigentlich bin ich nicht sehr politisch, aber als ich mich auf dem Weg zur Universität mit Lee und Katharina unterhielt, war ich doch sehr verwundert, dass Katharina und ich offensichtlich weitaus mehr Interesse an der Präsidentschaftswahl in den U.S.A. hatten als Lee. Und das obwohl sie gebürtige US-Amerikanerin war und Katharina und ich nur recht unpolitische Deutsche. Die Wahlen waren für den Rest des Tages auch das Gesprächsthema in unserer kleinen Runde und immer wenn sich die Gelegenheit bot, brachten sich Katharina und ich auf den neusten Stand der Dinge. So eilten wir in der kurzen Pause zwischen der ersten und zweiten Stunde in die ICZ, verfolgten eine Zeit lang die Nachrichten im Fernsehen und liefen wieder zum Unterricht.
ICZ ist die Abkürzung für International Communication Zone und bezeichnet einen Bereich in der Universität, der speziell für den interkulturellen und sprachlichen Austausch zwischen Ausländern und Japanern gedacht ist. Angrenzend an einen großen Raum, der mit vielen Tische bestückt ist, an denen sich Ausländer und Japaner treffen können, um gemeinsam zu sprechen, Hausaufgaben zu machen oder einfach nur zusammen zu essen, finden sich rund ein halbes dutzend Clubräume, die jeweils bestimmten Sprachen gewidmet sind. So findet man die German Communication Zone für alle, die sich in deutsch über Deutschland austauschen wollen, die English Communication Zone, für alle Interessierten an den U.S.A., Großbritannien, Australien und Kanada oder beispielsweise die French Communication Zone für alle, die Französisch lernen. Diese Räume sind voller Bücher, Hefte und Poster, die zum Lesen und Informieren anregen. Zudem laufen auf großen Bildschirmen ununterbrochen Nachrichten in der Landessprache. Oftmals findet man Studenten, die Deutsch lernen in der German Communication Zone und kann sich mit Ihnen austauschen, was sehr praktisch ist, um Freunde kennen zu lernen. Und in eben jenen Räumlichkeiten fanden sich Katharina und ich in jeder freien Minute in der English Communication Zone ein, um die Zwischenergebnisse der Stimmenauszählung vor dem Fernseher zu prüfen. Und so oft wie ich an diesem Tag in die ICZ lief, war es auch nicht verwunderlich, dass ich irgendwann in Tak rannte, der dort in aller Ruhe lernte und so verabredeten wir uns für den späten Nachmittag.
Als ich gegen 17 Uhr wieder in die ICZ ging, war Tak fertig mit lernen und gemeinsam mit seiner Freundin Nobuko verbrachten wir einen amüsanten Abend. Da Tak genau wie ich eine fremde Sprache studierte, kamen wir immer wieder auf dieses Thema zu sprechen und philosophierten über mögliche Beschäftigungsmöglichkeiten nach dem Abschluss. Da ich noch gar keine Ahnung hatte, was ich später einmal werden wollte, hörte ich mir interessiert Taks Planungen für die nächsten Jahre an und überlegte, inwiefern ich sie auf mich übertragen könnte. Tak hatte sich entschieden nach seinem Abschluss am Ende dieses Semsters nach Großbritannien zu gehen, um dort über ein Praktikum einen Beruf zu erlangen, in dem er Englisch sprechen könnte. Fasziniert davon wie sicher sich Tak in seiner Entscheidung für einen Beruf im Ausland war, kam ich ins Grübeln, ob auch ich mir vorstellen könnte später einmal dauerhaft im Ausland zu leben.
Zu einer Entscheidung über meine Zukunft kam ich an diesem Abend natürlich nicht, aber immerhin eröffneten sich für mich im Gespräch mit Tak und Nobuko eine Auswahl an Möglichkeiten darüber, wie ich mein zukünftiges Leben einmal gestalten könnte. Und auch, wenn mir niemand diese Entscheidung abnehmen konnte, war ich doch glücklich zu wissen, dass andere Menschen vor den gleichen Auswahlmöglichkeiten wie ich standen und trotz ihrer scheinbaren Selbstsicherheit doch auch an den gleichen Fragen ins Nachdenken gerieten. So lernte ich an diesem Abend mit Tak kein Japanisch, sondern tauschte mich mit ihm über das aus, was uns beide bewegte: Die Entscheidung über das Leben nach der Universität. Und als ich an diesem Abend schließlich nach Hause ging, hatte ich nicht das Gefühl mich von einem Sprachpartner, sondern von einem Freund zu verabschieden.

Mittwoch, 12. November 2008

Durch die Augen eines Kindes

Mein langes kulturelles Wochenende fand am Montag mit dem Besuch des Stadtfestes seinen Abschluss. Wegen des Dokkyo-Festivals hatte ich sowohl am Montag, als auch am folgenden Dienstag keinen Unterricht und so konnte ich das Stadtfest am Montag Abend in vollen Zügen genießen.
Gegen Nachmittag brach ich mit Lee zur Flusspromenade auf, die wir erst zwei Tage zuvor besucht hatten, und schon von weitem sah man die Menschen aus allen Richtungen zusammenströmen. Die angrenzenden Straßen waren abgesperrt, dennoch liefen wir pflichtbewusst mit den anderen Japanern auf dem Bürgersteig. Neben unserer Straße waren entlang der langen Flusspromenade unzähligen kleinen Buden aneinander gereiht, zwischen denen sich jung und alt tummelten. Umringt war all dies von den zahlreichen roten Lampions, die uns bereits zwei Tage zuvor aufgefallen waren. Eine Weile schauten ich auf das rege Treiben hinüber, bis ich mit Lee schließlich selbst in die Menschenmasse eintauchte. Zwischen Familien mit Kindern, jungen Pärchen, Alten und glücklichen Ehepaaren schoben wir uns von Stand zu Stand und sogen alles auf, was um uns herum geschah: Kinder, die mit großen Augen vor Bergen von Zuckerwatte standen, ältere Paare, die gemächlich mit vollen Tüten durch die Menge schritten, junge Mütter, die ihre Babys in den Armen schaukelnd die Preisliste für eine warme Mahlzeit durchlasen und frischverliebte Jugendliche, die dicht aneinander gedrängt in ruhigen Ecken standen, in ihren Händen eine Tüte voller gerösteter Nüsse hielten und die Wellen des Flusses betrachteten. Doch trotz der scheinbaren Hektik und des Gedrängels war es sehr friedlich. In der Luft hing der Geruch all der Speisen, die in den verschiedenen Buden frisch zubereitet und verkauft wurden. Mal wehte der Duft von Zuckerwatte und Süßigkeiten vorbei, dann wiederum stieg einem der Geruch von Frischgebratenem in die Nase. Und schon einige Schritte später duftete es nach exotischen Gewürzen, nach erlesenen Teesorten oder nach gebackenen Kartoffeln. Um uns herum wurden von unzähligen Ständen frische Okonomiyaki, Tintenfischbällchen, Würstchen und vielerlei Kuriositäten angeboten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, aber auch Stände mit Spielzeugen, Luftballons oder Schmuck und Accessoires waren häufig anzutreffen.


Bild1: Mein erster Blick auf die Flusspromenade, die durch die zahlreichen Lampions umrahmt wird.


Bild2: Die lange Flusspromenade ist mit den vielen Ständen und Menschen kaum wieder zu erkennen.


Bild3: Die Flusspromenade ist gefüllt mit den verschiedensten Menschen. 


Bild4: Einer der vielen Stände, an denen Leckereien angeboten wurden. 


Bild5: Ein Stand mit Banane, die mit Schokoguss überzogen wurden.


Bild6: Ein Blick auf die Flusspromenade.


Nach einiger Zeit verließ ich mit Lee die Flusspromenade und wir gingen zum Kern des Stadtfestes, wo auf einer weitläufigen Wiese eine große Bühne aufgebaut war, um die sich eine große Anzahl von Ständen und Buden angesammelt hatte. Es dämmerte bereits und viele der Verkäufer waren bereits mit dem Abbau beschäftigt. So liefen Lee und ich entlang der Stände und Buden, die sich langsam auflösten und blieben letztlich an der großen Hauptbühne stehen, vor der sich eine ganze Schar von Menschen versammelt hatten. Und offensichtlich war dies die richtige Entscheidung gewesen, denn kaum waren wir angekommen und warfen einen Blick auf die Bühne, startete dort eine Aufführung. Zu lauter Musik tanzten viele Kinder, einige Jugendliche und eine Hand voller Erwachsener und sangen gemeinsam ein Lied, das ihrer Heimatstadt Soka gewidmet war. Obwohl ich nicht alles verstand, war doch unüberhörbar, dass man in Soka vor allem auf die Produktion des Soka-Senbei, also den ureigenen Reiscracker aus Soka, stolz war. Als die Festveranstaltung nach einigen Minuten vorüber war und die Akteure dankend von der Bühne verschwanden, machten auch Lee und ich uns wieder auf den Weg zur Flusspromenade, um wieder in das bunte Treiben einzutauchen.


Bild7: Ein Blick auf die weitläufige Wiese mit den vielen Buden und Ständen.


Bild8: Auf diesem Bild ist besser zu sehen wie viele Menschen sich noch auf der Rasenfläche herumtrieben, trotz der einsetzenden Dämmerung.


Bild9: In einem Zelt gab es eine kleine Vorführung von einem Roboter-Teddy, der umherlief, Kunststücke vollführte und sich verneigte. Das Publikum (inklusive Lee und mir) war sehr angetan.


Bild10: Die Bühnenshow ist in vollem Gange.



Video1: Der komplette Auftritt auf der Bühne des Soka-Festivals. Als die Reiscracker erwähnt wurden, musste ich lachen und das Bild verwackelte für kurze Zeit.


Mittlerweile war es ganz dunkel geworden und die Promenade war in das warme Licht der vielen Stände und der zahlreichen Lampions getaucht. Fast schon andächtig lief ich zwischen all den anderen Menschen über die Promenade und kam mir wie ein kleines Kind vor, dass das erste Mal einen Weihnachtsmarkt besucht und all die vielen wundersamen Dinge bestaunt. Und irgendwann gehörten Lee und ich einfach dazu. Wir waren nicht länger zwei Ausländer, die sich ein Stadtfest ansahen, sondern zwei von vielen, die sich mit kindlicher Freude zwischen Zuckerwatte und Backkartoffeln ihren Weg bahnten. Mit einer überbackenen Banane in der Hand liefen wir überglücklich umher, bis wir am Ende der Promenade angekommen waren. Doch wir liefen weiter, über die Brücke und auf der anderen Seite des Flusses entlang. Scherzend und lachend kamen wir wieder auf der großen Wiese an, in deren Mitte sich, wie in einem Märchen, ein großer erleuchteter Baum erhob. Und plötzlich fühlte ich etwas, das ich in Deutschland schon lange nicht mehr in dieser Intensität gespürt hatte: Weihnachtsstimmung. Und obwohl es November war und ich bei kühlem Wind auf einer weiten Wiese mitten in Japan stand, schaute ich den Baum durch die Augen eines Vierjährigen an, der am Heiligabend mit seinem Bruder endlich in das Zimmer darf, in dem die Eltern gerade erst die Geschenke unter den Baum gelegt hatten. Und so stand ich eine Weile vor dem Baum, bevor ich mit Lee glücklich ein letztes Mal über die Flusspromenade lief. Vorbei an Kindern, die mit großen Augen vor Bergen von Zuckerwatte standen, an älteren Paaren, die gemächlich mit vollen Tüten durch die Menge schritten, an jungen Müttern, die ihre Babys in den Armen schaukelnd die Preisliste für eine warme Mahlzeit durchlasen und an frischverliebten Jugendlichen, die dicht aneinander gedrängt in ruhigen Ecken standen, in ihren Händen eine Tüte voller gerösteter Nüsse hielten und die tanzenden Lichter auf dem Fluss betrachteten.


Bild11: Die Flusspromenade am Abend.


Bild12: Eine der Bananen, die ich mit Lee gekauft habe.


Bild13: Als auf der anderen Seite des Flusses ein Gruppenfoto von einigen Mitwirkenden geschossen wurde, habe ich mich einfach dazugestellt und auch abgedrückt.


Bild14: Ein Foto von der anderen Seite des Flusses.



Video2: Ein abendlicher Blick auf die Flusspromenade von der anderen Seite des Flusses.


Bild15: Wie in einem Märchen erhob sich in der Dunkelheit ein riesiger, erleuchteter Baum.