Jeder, der mich kennt, weiß, dass es drei Dinge gibt, die ich so überhaupt nicht mag: Rauchen, Alkohol und Partys. Darum versuche ich diese drei Dinge bei jeder sich bietenden Möglichkeit zu umgehen. Hin und wieder lässt es sich allerdings nicht vermeiden, beispielsweise wenn mit Sekt auf das neue Jahr angestoßen wird oder man zu der Party eines guten Freundes eingeladen wird. Und so geschah es auch, dass ich zu Taks Geburtstagsfeier eingeladen wurde, obwohl ich eigentlich gar keine richtige Lust hatte. Während ich anfangs noch versuchte höflich abzulehnen, da ich keinen Alkohol trinke und ohnehin kaum jemanden seiner Freunde kannte, bestand Tak darauf mich als einen seiner besten Freunde an seiner Geburtstagsfeier um sich zu haben und versicherte mir, dass ich keinen Alkohol trinken bräuchte und er darauf aufpassen würde, dass ich nicht einsam herumsitzen würde, weshalb mir nichts anderes übrig blieb als zuzusagen. Und nachdem ich den Dienstag und den Mittwoch meiner nahenden Präsentation gewidmet hatte, war es am Donnerstag Abend schließlich so weit: Um 18.20 Uhr sollte ich mich mit Tak und seinen Freunden am Bahnhof "Matsubara Danchi" in Soka treffen.
Ich kann nicht leugnen, dass ich sehr aufgeregt war, schließlich wußte ich gar nicht genau, was mich erwartete. Tak hatte von einer nomikai gesprochen, was aus den japanischen Schriftzeichen für "Trinken" und "Treffen" zusammengesetzt wird. Folglich erwartete ich eine Zusammenkunft junger Japaner, die sich die Kante gaben, während ich mit einem Glas Mineralwasser daneben sitzen würde. Zwar hatte Tak drei Tage zuvor noch versprochen, dass er sich um mich kümmern würde, doch mittlerweile war mir bewusst geworden, wie utopisch diese Hoffnung wohl wäre, schließlich war ich nur einer von seinen vielen Gästen und er konnte unmöglich nur mir seine Aufmerksamkeit widmen. So lief ich ziemlich nervös und angespannt zum Bahnhof "Matsubara Danchi" und traf auf Tak und rund zehn seiner japanischen Freunde. Zuerst fiel mir auf, dass Tak im Anzug war, was aber weniger am Anlass, als vielmehr daran lag, dass er gerade erst von seinem Arbeit gekommen war. Es war ziemlich ungewöhnlich ihn als einen von jenen Geschäftsmännern zu sehen, die in Japan zu Hauf anzutreffen waren, denn von unseren vorherigen Treffen war ich es gewohnt ihn in Sweatshirt oder T-Shirt zu sehen. Er stellte mich kurz in der kleinen Runde vor und bevor ich etwas sagen konnte, kam hinter mir bereits der nächste Gast an: Es war Cassy, das chinesische Mädchen aus meinem Sprachkurs, das in Kanada lebt. Ich war überrascht noch einen anderen ausländischen Studenten zu sehen und heftete mich sogleich an ihre Fersen. Kurz darauf brachen wir auf und gemeinsam mit Cassy und Tak lief ich zu dem Lokal, in dem der Geburtstag gefeiert werden sollte.
Da ich noch nie zuvor in solch einer Lokalität gewesen war, war alles vollkommen neu und ungewohnt. Gleich im Eingangsbereich zog sich jeder die Schuhe aus und mit Strümpfen lief man zu einem kleinen Spind und schloss seine Schuhe dort ein. Ich kopierte das Verhalten der anderen und folgte dann dem Bediensteten, der uns durch einen wahren Irrgarten von Gängen zu einem größeren Raum führte, der für uns gemietet war. Wenn ich "Raum" sage, stimmt dies allerdings nicht, denn eigentlich gab es nur einen langen Tisch, der im Boden eingelassen war, um den herum sich alle mit Sitzkissen auf Bodenhöhe setzten und ihre Füße in die Vertiefung unter dem Tisch baumeln ließen. Dieser Tisch mit den umliegenden Sitzkissen war auf drei Seiten von Wänden begrenzt und auf der vierten Seite zu jenem Gang offen, über den das Personal mit Speisen und Getränken bediente. Diese vierte Seite konnte je nach Belieben allerdings mit Schiebetüren verschlossen werden, wodurch dann ein privater, abgeschlossener Bereich entstand. Als alle einen Platz suchten, versuchte ich mich unauffällig unter die anderen zu mischen und mich irgendwo hinzusetzen. Doch kaum hatte ich Platz genommen, baute sich Tak vor mir auf, sagte: "Was machst du da? Du sitzt neben mir!" und zog mich am Ärmel einmal um den Tisch direkt auf den Platz neben sich. Ein wenig peinlich berührt war ich schon, als mir so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde und ich so offensichtlich über all die anderen Gäste gehoben wurde, da ich direkt neben dem Geburtstagskind saß. Nachdem auch noch die letzten Gäste eingetroffen waren, stellte Tak alle achtzehn Anwesenden der Reihe nach vor und einige von Ihnen kannte ich auch schon, darunter einen Freund, den ich einige Tage zuvor bei einem Treffen mit Tak kennengelernt hatte (Missionsziel: Ein Treffen mit Tak), die ausländischen Studierenden Cassy aus Kanada und Michael aus Bremen (Die zehn Anderen), Nobukos Freundin Ayano, die auch auf der "Lasst und japanische sprechen"-Party war (Pakete, Partys, Peinlichkeiten) sowie den schmächtigen Erstsemesterstudent, der unter der Verantwortung Taks stand (Missionsziel: Ein Treffen mit Tak). Zu Beginn fühlte ich mich sehr unwohl, da ich kaum jemanden kannte und mich das Mädchen, das mir gegenübersaß, die ganze Zeit über anschaute, weil ich keinen Alkohol trank und nicht sehr gut japanisch sprechen konnte. Und nach einiger Zeit hatten alle irgendeinen Gesprächspartner, nur ich saß relativ alleine da. Ich kann nicht sagen, dass ich mich nicht bemüht hätte immer wieder in ein Gespräch zu kommen, so bat ich ein Mädchen neben mir um Hilfe bei der Auswahl eines alkoholfreien Getränks oder versuchte mit einigen anderen Mädchen ins Gespräch zu kommen, aber die Sprachbarriere unterband jegliche flüssige Konversation, denn mein japanisch war viel zu stockend und fehlerbelastet, als dass ich hätte viel erzählen können, und das Englisch meiner Gesprächspartner war eher schlecht als recht. Zwar saß diagonal vor mir Michael aus meinem Sprachkurs, doch wir wollten beide so wenig deutsch wie nur möglich reden, da wir uns sonst vollends abgekapselt hätten. Vermutlich hätte ich den ganzen Abend alleine dagesessen und im Minutentakt an meinem Getränk genippt, wäre Tak nicht beherzt immer und immer wieder mit mir ins Gespräch gekommen, und hätte mich mit aufmunternde Worte und lustigen Aktionen zum Lachen gebracht. Und wider meiner Erwartungen, hielt er tatsächlich ein, was er versprochen hatte: Er passte darauf auf, dass ich nicht alleine dasaß.
Nach einiger Zeit begann trotz Taks vorangekündigter nomikai, also der Zusammenkunft zum Trinken, das Essen. Als der junge Bedienstete die Bestellung aufnahm, riefen alle mehr oder weniger ihre Bestellungen durcheinander. Da ich enorme Schwierigkeiten hatte die Speisekarte zu lesen und offensichtlich auch niemand Anstalten machte mir dabei zu helfen, saß ich nur stumm mit der Speisekarte in der Hand da und bestellte gar nichts. Und erstaunlicherweise schien es niemandem aufzufallen. So saß ich ein wenig unsicher da und machte mich auf erstaunte Kommentare gefasst, wenn sich herausstellen würde, dass ich gar kein Gericht geordert hatte. Als dann die ersten Bestellungen serviert wurden, staunte ich nicht schlecht, als diese einfach in die Mitte des Tisches gestellt wurden und sich jeder nach Herzenslust bediente. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass nicht jeder wie bei uns ein eigenes Gericht bestellte, sondern die georderten Speisen für jeden zur Verfügung standen. Dies ausnutzend, probierte ich alle Speisen, die auf den Tisch gestellt wurden einmal und erweiterte meinen kulinarischen Horizont um ein Vielfaches. Zu den Speisen, die ich im Verlaufe des Abends probierte gehörten ganz gewöhnlicher Salat, eine Pizza mit Fischbelag und Unmengen an Mayonnaise, Hähnchenspieße, panierte Knorpel, eine Suppe mit Tofu, Grünzeug und Fleisch, sowie ein Fischfilet. Die Hähnchenspieße heißen in Japan toriyaki, was nichts anderes bedeutet als "gebratener Vogel". Glücklicherweise habe ich mir vor Japan antrainiert Geflügel zu essen, weshalb ich von den wirklich köstlichen toriyaki kosten konnte. Ich hatte ein wenig den Eindruck, dass alle Teile des Hühnchens, die nicht für diese Spieße geeignet waren, verkleinert, paniert und frittiert wurden, um sie dann als nächstes Gericht anzubieten. Als der Teller mit kleinen, frittierten Kügelchen vor mir abgesetzt wurde, fragte ich interessiert nach, was dies denn sei und schaute zunächst ziemlich verdutzt, als ich als Antwort "Knochen" erhielt, schließlich konnte man doch nicht allen Ernstes frittierte Knochen als Gericht anbieten. Da sich aber alle begeistert auf die kleinen Kügelchen stürzten, schappte ich mir mit meinen Stäbchen auch eines und schob es mir in den Mund. Doch es war nichts anderes als ein ein großes frittiertes Stück Knorpel, auf dem ich herumbiss. Da ich es unmöglich ausspucken konnte, versuchte ich zu lächeln, schluckte den zähen Knorpel in einem Stück herunter und widmete mich überinteressiert dem ungefährlichen Salat. Kurze Zeit danach wurde vor mir eine Pizza abgestellt, die mit reichlich Mayonnaise bestrichen war. Da eine Pizza recht harmlos wirkte, nahm ich mir ein Stück und war auch sehr zufrieden mit meiner Beute. Sie hatte irgendeinen fischigen Belag, vermutlich Lachs, der aber sehr gut schmeckte. Am anderen Ende des Tisches war ein großes Fischfilet geordert worden, von dem ich mir ein Stück geben ließ. Da man wohl nicht erwartete, dass Ausländer Fisch zu schätzen wüssten, erhielt ich lediglich ein haselnussgroßes Stück von dem vorzüglichen Filet. Als ich Nachschub haben wollte, lag bereits nur noch das Gerippe auf der Platte. Zuletzt probierte ich die Suppe, in der Tofu, diverses Grünzeug und Fleischstreifen brodelten. War zwar die Suppe mit Tofu und Grünzeug ganz erträglich, so sträubte sich alles in mir gegen das Fleisch. Denn auch wenn ich eigentlich nie irgendeine Art von Fleisch esse, weiß ich doch, dass Fleisch nicht die Konsistenz von Gummi haben sollte. Genau diese Konsistenz hatte aber der Brocken, den ich im Mund hatte, und so biss ich für etwa dreißig Sekunden lang immer wieder auf dem gleichen Fleischstück herum, dass sich weder teilen, noch seine Form verändern wollte. Irgendwann wurde es mir dann zu dumm und ich schluckte das Fleischstück kurz vor der Würgegrenze als Ganzes hinunter. Die restlichen Fleischbrocken ließ ich dann in meinem Schälchen zurück.
Nach etwa einer Stunde wurden alle Gäste durchnummeriert und nach dem Zufallsprinzip neu verteilt, damit man neue Leute kennenlernen konnte. Und so kam es, dass ich am Kopfende des Tisches gegenüber von Tak, Michael aus Bremen und neben einer Japanerin namens Yasuko saß. Und da Yasuko eine der wenigen Japanerinnen war, die sehr fließend Englisch sprechen konnte, eröffnete sich für mich endlich die Möglichkeit sich gut zu unterhalten. Gemeinsam mit Tak und Michael kamen wir immer wieder ins Gespräch, wodurch sich meine anfängliche Angespanntheit vollends verflüchtigte und ich den Abend in vollen Zügen genießen konnte. Als Tak befriedigt sah, dass ich endlich Gesprächspartner gefunden hatte und mich amüsierte, folgte er seiner Rolle als Gastgeber und wanderte den Rest des Abends zwischen den verschiedenen Gästen umher und sorgte sich um deren Wohlergehen. Ich unterhielt mich mit Yasuko über ihren Beruf, ihre Erlebnisse im Ausland und über Fremdsprachen, da sie genau wie ich noch ein paar Brocken Französisch aus ihrer Schulzeit beherrschte. Gemeinsam mit Michael erzählte ich allen Interessierten etwas über Deutschland und lehrte wieder den ein oder anderen Satz auf Deutsch. Später am Abend kam ich auch mit dem Erstsemesterstudenten ins Gespräch, der unter Taks Verantwortung stand. Wir hatten zwar eine sehr stockende, aber doch recht amüsante Unterhaltung über die Schwierigkeiten beim Sprechen einer Fremdsprache.
Gegen halb elf begannen sich die ersten Gäste auf den Weg zu machen und die Gemeinschaft löste sich allmählich auf. Wie in Japan typisch wurde die Rechnung geordert und durch die Zahl der Anwesenden geteilt, wodurch jeder 2300 Yen, also etwa 17 Euro zu zahlen hatte. Das war zwar weitaus teurer, als ein gemütlicher Abend zu Hause mit selbstgemachten Okonomiyaki oder einem Teller Spaghetti, dafür aber hatte ich einen unvergesslichen Ausflug in die japanische Esskultur unternommen und nicht nur kulinarisch viel Neues gelernt. Nachdem alle Anwesenden ihre Telefonnummern und Emailadressen ausgetauscht hatten, holte ich meine Schuhe aus dem Spind, zog sie kurz vor dem Eingang an und folgte den anderen in die frische Nachtluft. Auf dem Rückweg erkundigte sich Tak unsicher, wie mir der Abend gefallen habe und er erschien sehr erleichtert, als ich ihm ganz ehrlich mitteilte, dass ich den Abend trotz meiner anfänglichen Angespanntheit, sehr genießen konnte. Wieder am Bahnhof Matsubara Danchi angekommen, verabschiedeten sich alle gemeinsam von Tak und dankten ihm für seine Einladung. Winkend lief er mit zwei Freunden zu seinem Zug und Michael, Cassy, drei Japanerinnen, der Erstsemesterstudent und ich machten uns auf den Weg in Richtung Wohnheim. Nach und nach teilte sich unsere Gruppe immer weiter auf, bis schließlich nur noch Michael, Cassy und ich gemeinsam am Wohnheim ankamen. Mit den besten Wünschen für meine morgige Präsentation verabschiedeten sie sich und ich fiel kurz darauf müde in mein Bett. Und wäre nicht eine Mücke laut summend immer wieder zu meinem Ohr geflogen und hätte mich wach gehalten, wäre ich bestimmt auch sehr schnell und zufrieden eingeschlafen. So lag ich aber noch eine Weile in meinem Bett, starrte an die Decke und hatte Zeit all die neuen Eindrücke des Tages zu verarbeiten.
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