Dienstag, 31. März 2009

Traumreise

Nach wochenlanger Planung war es endlich soweit: Heute Abend sollte ich mit dem Nachtbus endlich nach Kyoto fahren. Und darum verbrachte ich den Nachmittag damit die Wäsche zu machen, zu kochen und abspülen, den Akku der Kamera aufzuladen, zu duschen, meinen Rucksack gemäß der Wettervorhersage zu packen und natürlich damit Proviant für die Reise zu kaufen. Aber obwohl Dominic und ich bereits den ganzen Tag über mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen waren und wir uns entspannt hätten zurücklehnen können, war die letzte halbe Stunde vor dem Verlassen der Wohnung doch sehr chaotisch: Der Eine räumte schnell noch einmal alles von der Tüte in den Rucksack, während der Andere fünfmal überprüfte, ob Geld, Ausweis und Überweisungsbestätigung auch wirklich griffbereit verstaut waren. Und als wir dann endlich aus der Tür traten und eine Weile gelaufen waren, fiel mir doch tatsächlich auf, dass wir die Tüte mit unserem Proviant vergessen hatten. Also rannte ich noch einmal zurück und schnappte mir die Tasche, ehe wir zum Bahnhof von Soka hetzten.
Da die überfüllten Bahnen zur Abendzeit nicht für Reisende mit Gepäck geeignet sind, entpuppte sich unsere Fahrt zum Bahnhof von Shinjuku, an dem wir mit dem Nachtbus abfahren sollten, als Tortur. Eingequetscht zwischen Geschäftsmännern und Japanern, die nach Hause oder zu einer Abendvergnügung fuhren, versuchten wir die ganze Fahrt über niemanden mit unseren prall gefüllten Rucksäcken umzuhauen. Fast eine Stunde fuhren wir so, bis wir endlich im großen Bahnhof von Shinjuku ankamen, wo wir uns mit Ninja am Ostausgang verabredet hatten. Doch wo sollte der sein? Über mehrere Stockwerke eilten wir mit unserem Gepäck durch die Menschenmassen und konnten letztlich doch keinen Ostausgang finden. Doch glücklicherweise war dies auch gar nicht nötig, da wir zufälligerweise über Ninja stolperten, als wir auf der Suche nach einer Übersichtskarte vor dem Bahnhof umherirrten. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach dem Abfahrtsplatz, den wir nach einer weiteren halben Stunde schließlich einer unauffällige Straßenecke zuordneten, an der weder ein Schild stand, noch eine Person wartete. Nun, dies war auch nicht verwunderlich, schließlich hatten wir noch knapp eine Stunde Zeit, bis wir uns dort versammeln sollten, und so überlegten wir, wie wir diese Zeit füllen könnten. Da Ninja noch etwas Essen wollte, liefen wir eine Weile durch das nächtliche Shinjuku, ehe wir einen traditionell japanischen Schnellimbiss fanden, in dem wir uns niederließen. Zugegebenermaßen fühlte ich mich ziemlich unwohl, da ich noch nie zuvor dermaßen auffällig angestarrt wurde, was maßgeblich daran lag, dass drei Ausländer, die mit Gepäck beladen durch ein enges Geschäft trampelten und offensichtlich so gar keine Ahnung davon hatten, wie alles funktioniert, zum Anstarren einluden. Ich verkniff mir anzumerken, dass sich Ninja und Dominic an einen Tresen gesetzt hatten, der offensichtlich nicht besetzt war, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, und setzte mich mit roten Kopf dazu. Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger. Da es mir aber peinlich gewesen wäre, wenn nach unserer Aufsehen erregenden Ankunft von den drei Personen nur eine etwas gegessen hätte, bestellte ich für Dominic und mich einen Salat, um die Zeit zu überbrücken. Nach dem Salat und ein wenig Smalltalk war schließlich die Zeit zum Aufbruch gekommen und so bezahlten wir, schnappten uns unser Gepäck und trampelten unter den Blicken der Anwesenden zum Ausgang. Ein wenig erleichtert war ich schon, als ich endlich den forschen Blicken der anderen Gäste entkommen war und mich auf den Weg zum Nachtbus machen konnte.
An der Sammelstelle hatte sich mittlerweile eine größere Gruppe von Japanern eingefunden, die offensichtlich alle mit dem Nachtbus fahren wollten. Im Zentrum der Menge stand ein Mann mit einer Liste und rief laut in die Menge sich doch bitte anzustellen, damit er die Daten abgleichen könne. Also stellte ich mich für uns in die Schlange. Ich stand noch keine zwei Minuten an, da begann Ninja in ihrer Aufregung ins Zweifeln zu kommen, ob wir hier richtig wären.

Ninja: Glaubst du wir stehen hier richtig an?
David: Ja, der Mann hat doch eben gerufen, dass man sich hier anstellen soll.
Ninja: Vielleicht ist das für einen anderen Bus?
David: Ach, das wird er mir dann schon sagen. Außerdem sehe ich niemand anderen.
Ninja: Da vorne steht eine Frau mit einem Schild auf dem unsere Busgesellschaft steht. Frag da doch nach.
David: Ich steh doch bereits hier an. Und außerdem sieht es so aus als hält die Frau nur das Schild hoch, damit alle wissen, wo der Sammelpunkt ist.
Ninja: Frag trotzdem nach.

Und da sich Ninja nicht davon abbringen ließ, dass man bei der Frau nachfragen sollte, selbst aber auch nicht hingehen wollte, verließ ich die Schlange und fragte bei der Frau wegen unseres Nachbusses nach Kyoto nach. Da nickte sie kurz, deutete zur Warteschlange und bat mich darum, mich dort anzustellen. Also lief ich wieder zurück und wartete in der Schlange bis ich endlich vor dem Mann mit der Liste stand. So gut ich konnte, antwortete ich auf seine Fragen, während sich die anderen beiden aus dem Staub gemacht hatten. Nach einem kurzen und erstaunlich einfachen Gespräch wurde ich zu einem Bus in der Nähe gewiesen, an dem ich mich melden sollte. Also machte ich mich auf den Weg, gabelte unterwegs Ninja und Dominic wieder auf und sprach den Busfahrer an, der freundlich unser Gepäck annahm und verstaute und uns auf einem Plan unsere Sitzplätze in der letzten Reihe des Buses zeigte. Ich bedankte mich und stieg mit den anderen beiden in den Bus. Rund die Hälfte der Fahrgäste, fast ausschließlich junge Japaner, waren bereits da, als wir durch den Mittelgang bis zum Ende durchliefen und uns auf unsere Plätze setzten. Im Bus hatten Dominic und ich nur unsere Tüte mit Proviant und Dominics kleinen Rucksack bei uns, in denen wir alles verstaut hatten, was man für die Fahrt brauchen könnte: MP3-Player, Nintendo DS, Batterien zum Austauschen, Essen, Trinken, Taschentücher, einen Block zum Schreiben und ein Kissen. Eine Weile unterhielten wir uns noch, ehe der Bus schließlich losfuhr. Die ersten Minuten gab es noch eine Erläuterung zur Reiseroute und dem Verhalten im Bus, von der ich trotz angestrengtem Zuhören nur einige Fetzen verstehen konnte. Dann wurde das Licht ausgeschaltet und es wurde merklich ruhiger im Bus. Und so fuhren wir schließlich in die Nacht hinaus.
Etwa sieben Stunden dauerte unsere Fahrt, zudem machten wir knapp alle zwei Stunden Pause an Autobahnraststätte, damit man die Möglichkeit hatte sich die Beine zu vertreten und aufs Klo zu gehen. Schlafen konnte ich nicht, nicht weil die Sitze unbequem gewesen wären, nein, weil ich zu verspannt war, nachdem ich den ganzen Abend über meinen Rucksack getragen hatte. Zudem war es im Bus unheimlich stickig und heiß, weshalb ich mir nach einiger Zeit auch meinen Pullover auszog. Und so wälzte ich mich hin und her, damit ich halbwegs bequem mit meinem Kissen, meinem Pullover und dem zur Verfügung gestellten Deckchen dösen konnte. Bis morgens um vier Uhr versuchte ich zu schlafen und konnte es doch nicht, darum gab ich letzten Endes auf und akzeptierte es wach zu sein. Und von da an war die Fahrt wunderbar. Ich hörte Musik mit meinem MP3-Player und schaute von meinem Platz aus nach vorne in den Bus. Und dann begann ich meine Fantasie spielen zu lassen: Da ich in der Mitte der letzten Reihe saß, konnte ich als Einziger den gesamten Bus überblicken und kam mir wie ein König in seiner kleinen Welt vor. Trotz der zugezogenen Vorhänge, drang in regelmäßigen Abständen das Licht der Autobahn in den Bus und so stellte ich mir vor, wie ich auf einer nächtlichen Flugzeuglandebahn stand und im immer gleichen Rhythmus die Lichter um mich herum blinkten. Ein vorbeifahrender Lastwagen war plötzlich ein riesiger Flieger, der direkt neben mir landete. Die stickige Luft wurde zu einer warmen Sommernacht. Und irgendwann flog ich gedanklich durch den Weltraum, das gelegentliche Lichtblinken waren die Sterne an denen ich vorbeizog. Irgendwann stand ich an tropischen Stränden und der Autolärm wurde zum Wellenrauschen direkt vor mir. Dann wieder stand ich als Held auf einem Schlachtfeld, vor mir zwei Heere von Widersachern, eines links, eines rechts. Und in der Mitte, am Ende eines langen Ganges, sah ich die Fratze eines furchterregenden Monster, das acht Augen hatte, die ständig pulsierten, und in unregelmäßigen Abständen langgezogene Fauch- und Brummgeräusche von sich gab, um mich einzuschüchtern. Und so erkundete ich fremde Welten und erlebte Abenteuer, bis ich schließlich in Kyoto ankam und die Sonne aufging. Murrend puhlten sich Ninja und Dominic aus ihren Sitzen und packten ihre Sachen zusammen. Ich hingegen konnte es kaum abwarten endlich ins Freie zu treten und einfach in der Sonne zu stehen. Und so lief ich freudig mit meiner Tüte durch den Gang, um mich herum noch viele schlafende Japaner, die Vorhänge noch zugezogen. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bus und stand in Kyoto. Keine Spur von Müdigkeit, keine Spur von Erschöpfung, keinerlei Schmerzen mehr. Nur ein freudiges Herz, das sich an den Sonnenstrahlen eines neuen Tages erfreute.

Sonntag, 29. März 2009

Der Zoo im Hochhaus

Es ist Tag 177 in Japan und heute war ich das erste Mal mit Dominic in Tokyo, genauer gesagt im Stadtteil Ikebukuro, der optisch und inhaltlich ein wenig an Shibuya, Akihabara oder Shinjuku erinnert. Mit anderen Worten: Es ist ziemlich überfüllt, laut und auf Kommerz ausgerichtet. Begleitet hat uns Katharina, zudem haben wir meine Freundin Ninja dort getroffen, die in wenigen Tagen mit Dominic und mir nach Kyoto reisen wird. Auf Wunsch von Katharina war geplant, dass wir uns ein Sunshine International Aquarium und ein Museum für Videospiele anschauen würden, doch da wir anfangs viel zu lange durch die überfüllten Straßen Ikebukuros bummelten und zu viel Zeit im Aquarium und dem angrenzenden Zoo verbrachten, hatten Katharina und Ninja keine Lust mehr sich am späten Nachmittag noch ein Museum anzuschauen. Also trennte sich unsere Gruppe nach dem Besuch des Aquariums und ich lief alleine mit Dominic zu dem Museum, von dem Katharina den ganzen Tag über geschwärmt hatte. Doch wie sich herausstellte, war es kein Museum, sondern ein vollkommen überteuerter, kleiner Vergnügungspark. Ein wenig erstaunt darüber, dass uns Katharina einen Vergnügungspark als Museum hatte verkaufen wollen, machten wir kehrt und liefen stattdessen zu einer nahliegenden Ausstellungen über altägyptische Kunst. Bedauerlicherweise hatte diese bereits geschlossen und so spazierten wir nur noch durch die abendlichen Straßen Ikebukuros, bevor wir erschöpft nach Hause fuhren.


Bild1: Irgendwo in Ikebukuro. Kaum kamen wir aus der Bahnstation heraus, standen wir mitten im Menschengedränge und mussten uns erst bis zu diesem Platz durchkämpfen, um in Ruhe ein paar Fotos zu machen.


Bild2: Ein Blick in die vollen Straßen Ikebukuros. Die Straßen sind mit Vergnügungsgeschäften gesäumt, größtenteils mehrstöckigen Spielhallen. Immer wenn ich dieses Foto betrachte, fällt mir auf wie aktuell die Farbe rosa zur Zeit in der japanischen Mode ist, nicht nur bei Mädchen.


Bild3: Begeistert erkundete Dominic eine der unzähligen Spielhallen, die alle ähnlich aufgebaut sind. Im Erdgeschoss befinden sich meist dutzende von den Greifarm-Automaten, die man auch von Jahrmärkten bei uns kennt. Mit großen Augen liefen Dominic und Katharina zwischen den Vitrinen mit Plüschtieren und Spielfiguren umher, während ich eher ein wenig gelangweilt hinterher trottete.


Bild4: In den oberen Stockwerken der Spielhallen wurde die Luft dann kontinuierlich stickiger. Kein Wunder, schließlich wurde geraucht und geschwitzt. Hier ist beispielsweise ein Trommelspiel, bei dem man im Takt zur Musik mittrommeln muss. Mitunter traf man hier wahre Artisten, die ohne Blick auf den Monitor und mit einstudierter Bewegungschoreographie trommelten. Ich fragte mich wie viele Wochen, vielleicht Monate, diese Leute zu diesem Zwecke in diesen stickigen Räumen verbracht hatten, um eine Münze nach der anderen in den Münzslot zu werfen, denn nichts ist hier umsonst.


Bild5: Auf dem Bild sieht man irgendeine Art riesige Murmelmaschine. Ich bin mir nicht ganz sicher was man genau zu machen hat, aber es saßen immer einige Leute an den Plätzen davor, tranken, rauchten und warfen Murmeln in irgendwelche Löcher im Pult vor sich, während sie aufmerksam die Laufbahnen von rollenden Kugeln vor sich beobachten. Anfangs konnte Dominic gar nicht verstehen, wie man von so etwas nicht fasziniert sein konnte. Doch als wir dann schon durch die zweite mehrstöckige Spielhalle hasteten und sich die ewig gleichen Automaten und Spiele wiederholten, verlor auch Dominic das Interesse.


Bild6: "Sunshine City" nennt sich der graue Wolkenkratzer, der inmitten Ikebukuros in den Himmel ragt, ironischerweise. Wer würde denken, dass sich hinter dieser Fassade ein weitläufiges Einkaufszentrum, Kunstgalerien, ein riesiges Aquarium und sogar ein Planetarium verbergen?


Bild7: Ein Blick auf Ikebukuro. Links neben mir erhebt sich der riesige Wolkenkratzer "Sunshine City". Ich stehe auf einer großen Treppe im Freien, die sich direkt neben dem Gebäude befindet und die unteren Stockwerke miteinander verbindet.


Bild8: Mitten im Einkaufszentrum spielte eine scheinbar bekannte japanische Popband für die Passanten auf einer Bühne, die man von mehreren Stockwerken aus sehen konnte. Gemessen an der Anzahl der Zuschauer und -hörer, sowie den zahlreichen Fans, die für ein Autogramm anstanden, war die Band sehr populär.


Bild9: Nachdem wir eine Weile durch das weitläufige Einkaufszentrum gelaufen waren, trafen wir schließlich Ninja vor dem Sunshine International Aquarium im zehnten Stockwerk, dem höchstgelegenen Aquarium der Welt. Und wie der Zufall es wollte, kamen wir gerade rechtzeitig zu einer Freiluftvorführung mit Seelöwen. Also nahmen wir vier Platz und schauten zu, wie die Seelöwen Bälle und Stangen balancierten oder Ringe fingen. Vor allem die Kinder hatten Spass, da sie den Seelöwen Bälle zuwerfen durften, die diese dann fingen und eine Weile lang balancierten, bevor sie sie dem Trainer zurückwarfen.


Bild10: Ein kleines Aussengehege mit einer Kolonie von Pinguinen war die Attraktion schlechthin. Unzählige Menschen standen dort und fotografierten wie verrückt. Es war für mich das erste Mal Pinguine aus solch unmittelbarer Entfernung zu sehen.


Bild11: Früher hatte ich mir nie so viel aus Pinguinen gemacht, aber ich muss nach diesem Besuch eingestehen, dass sie wirklich schön anzusehen sind. Man kann auf dem Foto erahnen wie nah man an die Pinguine herankam.



Film1: Für eine Vorführung der Pinguin wurden diese einmal durch den Park geführt und dabei gefüttert. Die Kinder waren ganz begeistert und die Aufsichtsleute mussten mehrmals die Kinder auffordern ihre Hände nicht über die Absperrung zu strecken, um die Pingine zu streicheln. Die Vorführung sahen wir uns nicht an, zu viele Leute waren bereits da und es war draußen doch ziemlich frisch.


Bild12: In einem angrenzenden Tropenhaus gab es noch einige exotische Tiere zu bestaunen. Dazu musste man in kleinen Gruppen durch eine Luftschleuse, damit kein kalter Zug durch das Haus zog. Auf diesem Bild sieht man einen Nasenbären, denke ich.



Film2: Was ist das für ein Tier? Ein Problem war, dass ich viele japanische Tiernamen nicht lesen kontte. Und auch wenn ich sie entziffert hatte, waren es oft nur Umschriften für die lateinischen Bezeichnungen, mit denen ich dann ebenso wenig anfangen konnte.


Bild13: Ein Fennek und zwei Gürteltiere schlummerten in ihrem Gehege. Es gab noch viel mehr Tiere, wie beispielsweise verschiedene Aras oder Affen. Sogar Meerschweinchen konnte man sich anschauen, die ja in Japan nicht als Haustiere gehalten werden und somit ein sehr exotisches Tier darstellen.


Bild14: Nachdem man endlich den Hauptteil des Aquariums betreten hatte, wurde man zunächst mit einem großen Becken begrüßt, in dem ein großer Fischschwarm umher schwamm. Ich glaube ich starrte fast eine Minute lang hypnotisiert auf die Fische, die immer und immer wieder im Kreis schwammen, ehe ich mich endlich von dem Anblick lösen konnte. Auf eine unbeschreibliche Weise, war es sehr faszinierend, genauso wie das Betrachten einer Flamme.


Bild15: In den großen Becken fand man allerlei Tiere, beispielsweise diese Riesenkrabben, vor denen ich allerdings ein wenig Angst hatte. Sie wirken auf dem Foto gar nicht so groß, aber allein der Rückenpanzer war so groß wie zwei gespreizte Handflächen.


Bild16: Kalmare und, wer hätte ihn ohne diesen Hinweis entdeckt, ein Seestern.



Film3: Überaus begeistert war ich von den Quallen, denen ein eigener abgedunkelter Bereich gewidmet war. Einige Arten wurden ein wenig angestrahlt, damit man sie gut erkennen konnte, aber andere leuchteten auch von sich aus, nicht nur in einem schwachen Grün, nein, in ständig pulsierenden Regenbogenfarben, so wie eine blinkende Lichterkette. Übrigens sind alle hellen Bereiche in dem Video Quallen, auch die winzig kleinen Punkte, die man für Verunreinigungen halten könnte.


Bild17: Auf dem Bild sieht man einen Axolotl, der bewegungslos in seinem Becken verharrte. (Vielen Dank an Phil für die Information.)



Film4: Meine Mutter sagte früher immer: "In ein Aquarium zu schauen, ist wie Fernsehen.". Und so saß ich mit Dominic mitunter minutenlang vor den Glasscheiben und entdeckte immer wieder etwas Neues. Genauso ist es mit den Videos, die ich gemacht habe, ich schaue sie mir immer und immer wieder an, da man stets Neues entdecken kann.



Film5: Die Vielfalt an Farben und Formen von Fischen ist beeindruckend. Wer den Film "Findet Nemo" gesehen hat, wird in diesem Video "Dori" wieder sehen können.



Film6: Eine Garnele und einige Seeanemonen.



Film7: Sind das Seeschlangen? Ich weiß es nicht genau. Zumindest kann man ein ganzes Nest von ihnen sehen.



Film8: Immer wieder schön anzusehen: Der Fisch, der im Boden wohnt.


Bild18: Nachdem wir das Sunshine International Aquarium verlassen hatten, trennten sich unsere Wege und Dominic und ich liefen noch eine Weile lang durch das abendliche Ikebukuro. Der Anblick erinnert doch schon sehr an das nächtliche Shinjuku ("Downtown Medley - Harajuku, Shinjuku und zurück").


Bild19: Ein letzter Blick in die Straßen Ikebukuros mit den typischen Hochhäusern und der Leuchtreklame, bevor Dominic und ich mit der Bahn zurück nach Soka fuhren.

Altes neu entdecken

Nudeln zum Frühstück? Das war für Dominic doch ziemlich ungewohnt und so probierte er mit misstrauischem Blick die Yakisoba, die ich ihm zubereitet hatte. "Und soetwas isst man in Japan zum Frühstück?", fragte er und versuchte mit den Stäbchen ein paar japanische Nudeln aus der Essschale zu fischen. "Häufiger isst man morgens Reis, in welcher Form auch immer.", antwortete ich, woraufhin Dominic das Gesicht verzog. "Gibt's denn kein Brot, oder so?". "Das Brot, wie du es aus Deutschland kennst, gibt es hier nicht. Zumindest nicht zu erschwinglichen Preisen. Aber immerhin Toastbrot.". Und mit diesen Worten legte ich die kleine, überteuerte Tüte mit sechs Scheiben Toastbrot auf den Tisch und kramte aus dem Kühlschrank eine kleine Schale mit Marmelade sowie die Butter, die ich einige Tage zuvor von Florian geschenkt bekommen hatte, hervor. Irgendwie hatte ich bereits erwartet, dass sich nicht jeder von jetzt auf gleich auf die japanische Lebensweise einstellen konnte, weshalb es heute ein japanisch-westliches Frühstück mit Yakisoba und Toastbrot gab.
Bevor Dominic angekommen war, hatte ich mir schon viele Gedanken darüber gemacht, wie man die ersten Tage verbringen könnte. Nur in der Wohnung herumsitzen, bis er im Tagesrhythmus angekommen sein würde, empfand ich als Zeitverschwendung. Aber gleich in den Trubel Tokyos zu fahren, erschien mir auch unangebracht. Und so lies ich den Tag langsam angehen und ging mit Dominic nach dem Frühstück ganz entspannt in Soka spazieren, damit er sich ein Bild von der Stadt machen konnte, in der ich nun schon seit zwei Monaten wohnte. Und welcher Ort in Soka bot sich wohl besser für einen ruhigen Spaziergang an, als die Promenade am Fluss, an der ich vor rund vier Monaten schon mit Katharina und Lee unterwegs gewesen war ("Japan in Bildern (2)")?


Bild1: Ein Blick auf die Promenade entlang des Flusses. Hier bin ich in den vergangenen Monaten bereits mehrere Male spazieren gegangen. Glücklicherweise war nach dem verregneten, gestrigen Tag der Himmel frei von Wolken.


Bild2: Eine hübsche Statue einer Schildkröte, die mir bei meinen vorherigen Spaziergängen nie aufgefallen war.


Bild3: Es war nicht wirklich warm, aber doch angenehm. Und so konnte man durchaus für einige Zeit seine Jacke ausziehen und sich wie im Frühling fühlen. Wärmer als in Deutschland war es allemal, versicherte mir Dominic.


Bild4: Nahe einigen Bänken saß ein Schwarm Tauben auf dem Boden. Nicht unweit davon versteckten sich drei kleine Jungen, die irgendwann gemeinsam hervorsprangen und schreiend umher rannten, um die Tauben aufzuscheuchen.


Bild5: Dominic und ich. Fotografiert von einem netten Japaner, der sich mit gebrochenem Englisch mit uns unterhielt. Ich kann mich nicht daran erinnern während meiner bisherigen Zeit hier schon einmal von einem Japaner einfach so auf Englisch angesprochen worden zu sein.


Am frühen Nachmittag kamen wir wieder im Wohnheim an und aßen Okonomiyaki zu Mittag ("Von Amanatsu bis Tempura"). In die Innenstadt wollten wir noch nicht fahren, das planten wir am nächsten Tag, und so verbrachten wir den Nachmittag und Abend in der Wohnung, schauten Videos, räumten auf und spielten Spiele. Am späten Abend kauften wir dann gemeinsam im Supermarkt um die Ecke unser Abendessen ein, wodurch ich Dominic einerseits einen japanischen Supermarkt, andererseits eine Auswahl der japanischen Küche im Kühlregal zeigen konnte. Bei alledem ließ ich ihm viel Zeit zum Anschauen und Fragen, schließlich erinnerte ich mich nur zu gut daran, wie ich an meinen ersten Tagen in Japan Stunden in einem simplen Supermarkt hätte verbringen können. Und so ging dieser Tag zu Ende, ohne das etwas Außergewöhnliches passiert wäre. Aber manchmal kann es auch einfach schön sein jene Dinge und Plätze, an die man sich bereits gewöhnt hat, von neuem zu entdecken.

Samstag, 28. März 2009

Nie wieder Nippori

Als ich an meinem 175. Tag in Japan die Augen öffnete, sah ich durch das Fenster einen wolkenverhangenen Himmel, der nur darauf wartete seine Pforten zu öffnen und einen heftigen Regenschauer auf Soka niederprasseln zu lassen. Sehr gut geschlafen hatte ich nicht, schließlich stand mir heute ein stressiger Tag bevor. Mein Freund Dominic würde anreisen, doch dieses recht freudige Ereignis bedeutete für mich: Früh aufstehen, knapp zwei Stunden über unbekannte Bahnhöfe und mit unbekannten Bahnlinien zum Flughafen fahren, sich möglichst schnell an einem der größte Flughäfen der Welt zurechtfinden und schließlich mit Freund und Gepäck im Schlepptau wieder irgendwie zurück kommen. Und das alles vermutlich bei Regen, wenn der dunkle Himmel hielt, was er versprach. Also wälzte ich mich auf die andere Seite, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, ehe der Wecker mich mit seinem Piepsen aus dem Bett scheuchen würde. Und so rollte ich mich hin und her, versuchte mich irgendwie bequem hinzulegen und fiel in einen jener Zustände, in dem man nicht wirklich schläft, aber auch nicht wirklich wach ist.
Nachdem ich eine scheinbare Ewigkeit so verbracht hatte, entschied ich mich schließlich aufzustehen. Eigentlich hätte ich laut meines sorgfältig durchdachten Zeitplans erst um Sieben Uhr aus dem Bett gemusst, daraufhin letzte Vorbereitungen getroffen und dann um Acht Uhr das Haus verlassen. Aber zeitig aufzustehen konnte ja nicht verkehrt sein, also hiefte ich mich nach oben und warf einen Blick auf den Wecker, um zu schauen wie viel früher ich nun schon wach war. Kurz nach Neun Uhr zeigte das Display an und ich stand erst einmal für eine Schrecksekunde im Schlafanzug mitten im Raum und starrte ungläubig auf den Wecker. Ich war mir ganz sicher gewesen den Wecker auf Neun Uhr gestellt zu haben, aber eigentlich war das nun auch egal, denn Fakt war, dass ich verschlafen hatte und ganze zwei Stunden zu spät war. Und das ausgerechnet heute. Ich sprang aus meinem Schlafanzug, schlüpfte in meine Kleidung und suchte in Windeseile alles zusammen, was ich für die Fahrt zum Flughafen vorbereitet hatte. Als ich die Eingangstür aufriss, sah ich bereits die ersten Tropfen vom Himmel fallen, doch das ignorierte ich und lies meinen Regenschirm unbeachtet in der Ecke stehen. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich später heraus stellen sollte. Eilig schloss ich die Tür ab und hastete mit meinem Rucksack auf dem Rücken in Richtung Bahnhof, während sich die Wolken am Himmel bedrohlich zusammenzogen.
Kurz vor dem Wohnheim traf ich überraschenderweise auf Katharina, die auch auf dem Weg zum Bahnhof war, um zu ihrer Praktikumsstelle zu kommen. Da auch sie ein wenig spät war, eilten wir gemeinsam unter ihrem Schirm zum Bahnhof, während ich ihr von meinem Dilemma erzählte. Am Bahnhof angekommen kaufte ich meine Fahrkarte, glücklicherweise hatte ich bereits im Vorhinein schon meine Route herausgesucht und musste somit nicht lange überlegen was ich kaufen sollte, und stieg mit Katharina in den nächsten Zug, der in Richtung Kita-Senju fuhr. Seit ich aufgestanden war, waren gerade einmal dreißig Minuten vergangen, so schnell war ich durch die Wohnung, zum Bahnhof und in den Zug gehastet. In Kita-Senju verabschiedete ich mich von Katharina und kämpfte mir meinen Weg zu meinem Anschlusszug frei, der heillos überfüllt war. Und so schaukelte ich eingequetscht zwischen Unmengen von Japanern, die wohl größtenteils auf dem Weg zur Arbeit waren, einige Minuten im Zug umher, bis ich am Bahnhof von Nippori ankam und mit den Massen an aussteigenden Japanern nach draußen gespült wurde.
Nippori. Niemals zuvor habe ich von Nippori gehört. Schon gar nicht vom Bahnhof in Nippori, der aber offensichtlich als Umsteigeplatz für die verschiedensten Liniennetzen von Tokyo und Umgebung beliebt war, denn hier lief fast alles zusammen. Normalerweise halte ich nie so viel davon mit Bahnstationen oder Ortsnamen um sich zu werfen, da man sich diese ohnehin nur selten merken kann, aber der Bahnhof von Nippori ist eine Ausnahme. Den Namen "Nippori" sollte man sich wahrlich im Gedächtnis behalten. Nippori. Was hatte ich erwartet? Sicherlich keinen Riesenbahnhof wie in Shinjuku ("Downtown Medley - Harajuku, Shinjuku und zurück"), aber schon einen größeren Bahnhof als beispielsweise in Soka. Aber der Bahnhof von Nippori trotzte allen Erwartungen, die ich gehegt hatte, und entpuppte sich als der schlimmste Bahnhof, an dem ich jeweils gewesen war. Und das in vielerlei Hinsicht. Denn als ich mit den Massen von Japanern aus meinem Zug gespült wurde und versuchte mich zu orientieren, stellte ich erst einmal fest, dass nirgends die Zuglinie ausgeschildert war, zu der ich so dringend musste. Also beging ich den nächsten folgenschweren Fehler an diesem Tag, indem ich erst einmal am nächstgelegenen Ausgang den Bahnhof durch die Ticketschranke verließ und ins Freie trat. Nicht etwa weil ich unbedingt nach draußen wollte, nein, weil ich dort im Regen eine Übersichtskarte sah, auf der ich nach Abfahrtsplatz meiner Linie schauen wollte, was manchmal durchaus einige Meter Fußmarsch entfernt liegen kann. Aber zu meiner Enttäuschung war das Schild keine Übersichtskarte, wie man sie in der Nähe jedes Ausgangs eines japanischen Bahnhofs zu finden pflegt, sondern eine Informationstafel, auf der keine Informationen standen. Und da stand ich nun auf einer heruntergekommen Bahnbrücke vor der Ticketschranke des Bahnhofs von Nippori, im Regen, ohne Schirm, verspätet, hungrig und ohne ein Ziel. Aber es kam noch schlimmer.
Zurück durch die Ticketschranke konnte ich nicht, dazu hätte ich ein Ticket benötigt. Und das Ticket, das ich für meinen Zug zum Flughafen Narita benötigt hätte, konnte ich an den dortigen Ticketautomaten nicht kaufen. Weit und breit war auch kein Bahnangestellter zu sehen, den ich hätte fragen können, und so blieben mir nur zwei Möglichkeiten übrig: Der rostigen, leeren Bahnbrücke nach links in Richtung eines Hanges mit Bäumen zu folgen oder alternativ nach rechts zu einer Treppe zu gehen, die hinunter in die Stadt zu führen schien. Zugegebenermaßen ist es in Japan nicht sehr ungewöhnlich, dass sich der Bahnhof eines anderen Schienennetzes ein wenig entfernt befindet und man ein Stück laufen muss. Erfahrungen hatte ich hiervon ja bereits zur Genüge gesammelt, als ich das erste Mal mit Lee und Katharina in Tokyos Elektronik- und Mangaviertel Akihabara war und verzweifelt den richtigen Bahnhof suchte, um nach Soka zurückfahren zu können ("Der Trimm-Dich-Pfad in der Praxis") und darum dachte ich mir, dass sich in unmittelbarer Nähe des Ausgangs, aus dem ich soeben getreten war, wahrscheinlich der Eingang zu jener Linie befinden müsste, mit der ich endlich bis zum Flughafen von Narita käme. Darum ging ich die Bahnbrücke nach rechts entlang und lief die nasse Treppe bis in die Stadt hinunter. Ein Hinweisschild für einen weiteren Bahnhof fand ich allerdings nicht, nicht einmal ein Schild das darauf hinwies, dass die Treppe, die ich gerade heruntergekommen war, zum Eingang eines Bahnhofs führte. Also stand ich einmal mehr orientierungslos da und überlegte wo sich wohl ein Bahnhof befinden würde. Ein Blick nach links offenbarte nur trostlose Betonwände, die die Schienen abschirmten, während rechts eine etwas herabgekommene Einkaufsstraße verlief, von der immer wieder kleine Gässchen in Richtung der Schienen abzweigten. Vielleicht ist irgendwo dort ein Eingang zu einer nahliegenden Bahnstation, dachte ich mir, so weit entfernt sein kann es ja nicht, schließlich müssen all die Menschen, mit denen ich ausgestiegen bin auch irgendwohin verschwunden sein. Und so eilte ich einige dutzend Meter die Straße entlang und warf einen Blick in die kleinen Gässchen, die allerdings allesamt im Nichts endeten. Und weil ich hinter jeder Ecke doch noch den Eingang zu einem Bahnhof vermutete, an dem meine Linie abfahren würde, eilte ich weiter, Meter um Meter, Gasse um Gasse, immer durch den Regen, bis ich irgendwann aufgab. Bis zur nächsten Gasse schleppe ich mich noch, dann drehe ich um, dachte ich mir und blickte erwartungslos in die nächste Gasse, wo zu meiner Überraschung der Aufgang einer rostigen, alten Bahnbrücke zu sehen war, an der just in diesem Moment eine alte Dame nach oben stieg. Das muss es sei, fuhr es mir durch den Kopf, an einer Bahnbrücke bin ich angekommen, zu einer Bahnbrücke muss ich finden, um wieder abzufahren. Also lief ich durch die Gasse und blickte an der rostigen Brücke nach oben, doch dort war nichts weiter zu sehen als eine einsame Brücke irgendwo im Nichts, die über die Gleise führte. Nein, auf dieser Seite der Gleise ist kein weiterer Bahnhof, sagte ich mir, vielleicht aber wenigstens auf der anderen Seite. Also entschloss ich mich die Brücke auf meiner Seite nach oben zu laufen, die Gleise zu überqueren und auf der anderen Seite zurück zu laufen. Vielleicht fände ich ja dort einen Eingang zum Bahnhof. Ich eilte die Treppe nach oben, vorbei an der alten Dame und kam auf der anderen Seite in einem Wohngebiet an, in der nun wirklich niemand mehr unterwegs war. Es gab nicht einmal mehr einen Weg, der parallel zu den Gleisen verlief, weshalb ich Zickzack durch die ewig gleich aussehenden Straßen lief und versuchte in der Nähe der Bahnschienen zu bleiben. Das führte dazu, dass ich mehr als einmal in Sackgassen lief, umdrehen musste und mir in immer größer werdenden Bögen meinen Weg durch das Straßenlabyrinth suchen musste. Und als ich schon dachte, dass ich auch hier ganz sicher keinen Bahnhof finden würde, kam ich plötzlich an den Gleisen heraus und stand mitten vor einem Bahnhof, ja, einem Bahnhof, der wohl vor fünfzig Jahren stillgelegt worden war, denn abgesehen von einem halbverfallenen Häuschen und einem winzigen überwucherten Bahnsteig, der viel zu weit von den befahrenen Gleisen entfernt war, gab es dort nichts. Also drehte ich einmal mehr um und schwor mir an der nächsten Brücke wieder die Seite zu wechseln, da es offensichtlich sinnlos war in dieser Umgebung nach dem Eingang zu meiner Zuglinie zu suchen. Irgendwann kam ich dann doch noch zu einer Übersichtskarte, diesmal auch kein Infobrett, und hoffte meinen Bahnhof zu finden. Doch die Karte war so klein, dass nicht einmal mein Ausgangsbahnhof darauf verzeichnet war, sondern nur die angrenzenden Straßen, was mir rein gar nicht weiterhalf. Und so lief ich querfeldein in die Richtung, in der sich die Gleise befinden mussten, um irgendwie einen Bahnübergang zu finden. Ich war vollkommen nass, schließlich regnete es noch immer. In Gedanken malte ich mir bereits aus, wie mein Freund alleine irgendwo am Flughafen in Narita stand und sich wunderte, warum ich nicht ankam. Warum musste ich ausgerechnet heute solch ein Pech haben, wo ich doch sonst nie ein Problem an unbekannten Bahnhöfe in Japan hatte? Innerlich verfluchte ich den hässlichen und unübersichtlichen Bahnhof von Nippori, bis ich irgendwann feststellte, dass ich in Gedanken verloren mitten auf einen Friedhof gelaufen war. Und das war der Moment, in dem ich innerlich einfach nur noch lachte. Ich lachte darüber wie absurd diese Situation eigentlich war, für wie unglaubhaft man meine Geschichte halten müsste, wenn ich sie irgendjemandem erzählen würde, wie lächerlich es wohl für meinen Freund klingen musste, wenn ich ihm als Entschuldigung für meine Verspätung sagen würde, dass ich mich irgendwo abseits des Bahnhofes von Nippori in einem Wohngebiet verirrt hatte. Und als ich langsam über den Friedhof lief und in mich hinein lachte, kam ein junger Japaner im Anzug mit verheulten Augen auf mich zugelaufen und hielt mir seinen Regenschirm entgegen. "Willst du unter meinen Schirm?". Für einen Moment dachte ich ernsthaft darüber nach mich einfach neben den Japaner unter den Schirm zu stellen und von meiner Misere zu erzählen und anschließend zu lauschen, warum er im Regen heulend über den Friedhof schlich. In jedem Hollywood-Film hätte der Protagonist das sicherlich gemacht und am Ende der Unterhaltung mit dem Unbekannten eine wichtige Lektion gelernt, doch ich wußte, dass ich trotz der Absurdität der Situation möglichst schnell zum Flughafen musste. Und so brach ich aus dem Skript eines typischen Hollywood-Filmes aus, lehnte das Angebot des weinenden, jungen Japaners ab und lies ihn alleine unter seinem Regenschirm auf dem Friedhof von Nippori stehen, ohne je mehr über ihn zu erfahren. Nass eilte ich durch die Straßen, bis ich schließlich endlich den Zugang zu einer Überführung sah. Erleichtert rannte ich darauf zu, um dann schockiert festzustellen, dass ich genau dort angekommen war, wo ich vor knapp zwanzig Minuten im Regen gestartet war: Auf der heruntergekommenen Bahnbrücke vor der Ticketschranke.
Resigniert lief ich wieder zur Ticketschranke. Ich war entschlossen nun ein Ticket zu kaufen und einfach so lange über den Bahnhof zu laufen, bis ich einen Bahnangestellten finden würde, den ich nach meiner Bahnlinie fragen könnte. Ein letztes Mal drehte ich mich vor der Ticketschranke um, als mir etwas ins Auge fiel: Etwa fünfzig Meter von mir entfernt, stand auf der Wand einer anderen Überführung in verbleichten und abgewaschenen Schriftzeichen der Name meiner Linie. Warum? Warum schrieb man solch eine Information weder irgendwo innerhalb der Bahnstation auf ein Schild, noch auf ein Informationsschild auf jener Brücke auf der man die Bahnstation verlassen hatte? Wer hält denn nach dem Verlassen eines Bahnhofs nach weit entfernten, halb-verblichenen Schriftzügen irgendwo auf Mauerwänden Ausschau? Wäre die Situation nicht so absurd gewesen, hätte ich mich vermutlich sehr über diese Tatsache aufgeregt, aber in meiner momentanen Verfassung quittierte ich es schon nur noch mit einem müden Kopfschütteln. Und so lief ich von neuem die Treppe nach unten, bog aber diesmal nicht rechts in die heruntergekommene Einkaufsstraße, sondern nach links zu den nichtssagenden, unbeschrifteten Betonwänden ab. Und tatsächlich, irgendwo dort befand sich im Nichts eine Rolltreppe nach oben, die mitten in jene Bahnstation führte, in der meine Linie abfuhr. Und endlich konnte ich mir das richtige Ticket kaufen, durch den erstaunlich modernen Bahnhof laufen und mit einer anderen Rolltreppe auf mein Gleis herunterfahren, das im Gegensatz zur restliche Bahnstation vollkommen heruntergekommen aussah. Und was ist nun das haarsträubenste an meinem Aufenthalt in Nippori, dem hässlichsten und unübersichtlichsten Bahnhof, den ich jemals in Japan gesehen habe? Es ist die simple Tatsache, dass ich einfach nur auf dem Nachbargleis stand, von jenem, auf dem ich angekommen war.
Die Fahrt mit dem Zug war dann sehr angenehm. Die weiche Sitzbank und das stetige warme Gebläse, das unter den Bank meine Hosenbeine wieder trocken pustete, taten ihr Möglichstes, um mich schläfrig werden zu lassen. Aufgeregt war ich nicht, obwohl ein Blick auf die Uhr verriet, dass mein Freund bereits gelandet war und ich noch über eine Stunde Fahrt vor mir hatte, bevor ich überhaupt erst am Flughafen ankommen würde. Ändern konnte ich Moment ohnehin nichts und so ließ ich mich von der warmen Luft einlullen und schaute mir durch die Fensterscheibe die verregnete Landschaft an, während alle paar Minuten die nächste Haltestelle durchgesagt wurde. Ein Blick, den ich am Vortag auf eine Landkarte von Tokyo geworfen hatte, hatte mich überrascht feststellen lassen, dass der internationale Flughafen von Narita sehr viel weiter entfernt war, als ich immer angenommen hatte. Nicht nur, dass er in einer benachbarten Präfektur war, nein, er befand sich gänzlich abseits von allem. Von größeren Städten, ja, vom gesamten Verkehrsnetz Tokyos. Irgendwo mitten auf einer Landzunge lag der Flughafen und bildete den Endpunkt zweier Bahnlinien, die wahrscheinlich eigens für den Flughafen dorthin führten und ansonsten keine Funktion hatten. Mit einer von ihnen fuhr ich und lauschte den japanischen Durchsagen. Erst kurz vor dem Flughafen, nach etwa einer Stunde Fahrt, kam dann überraschend auch eine englische Durchsage, da zwei Stationen vor dem internationalen Flughafen Narita die Haltestelle für die Stadt Narita lag. Und da man wohl vermeiden wollte, dass Unwissende, insbesondere Ausländer, bereits hier ausstiegen, wurde der Name des Bahnhofs mit der Anmerkung, dass Reisende zum Flughafen bitte noch im Zug bleiben sollten, mehrmals wiederholt. Ehrlich gesagt fragte ich mich, wer wohl so töricht sein würde die Stadt Narita mit dem Flughafen zu verwechseln, denn ein einziger Blick aus dem Fenster zeigte auf der einen Seite der Gleise eine große Weide, auf der anderen Seite ein paar heruntergekommene Häuser. Also nichts, was auch nur im Entferntesten an einen Flughafen erinnern würde. Wie gesagt, abgesehen vom Flughafen gab es rein gar nichts in dieser Gegend. Dafür war es zur Abwechslung einmal ungewohnt aus dem Fenster zu blicken und weite Felder und Wälder zu sehen. Wann hatte ich dies das letzte Mal erblickt? Es muss am Wandertag gewesen sein. Seltsamerweise hatte ich diesen Anblick gar nicht vermisst, in so vielen Parks war ich gewesen, so viele Flusspromenaden war ich entlang gewandert, dabei war ich immer der Auffassung gewesen, dass ich kein Großstadtkind sei und sicherlich die Nähe zur Natur vermissen würde. In diesem Moment wurde mir das erste Mal richtig bewusst, dass ich schon knapp sechs Monate in einer Gegend wohnte, in der die Häuser bis zum Horizont reichten und man eigentlich gar keine natürlichen Flächen hatte. Nichtsdestotrotz hatte ich das Gefühl gehabt in den letzten sechs Monaten so viel mehr Natur zu erleben, als in Marburg. Vielleicht lag es an den zahlreichen Parks und Gärten, vielleicht auch an den kleinen Grünflächen, die vor fast jedem Haus in Japan zu finden sind. In Deutschland wirken Großstadtgebiete vielleicht städtischer und trister, weil viele Häuser direkt mit der Hausseite an die Straße grenzen und kaum jemand Blumentöpfe vor den Hauseingang stellt.
An der letzten Haltestelle, Flughafen Narita, stieg ich mit den anderen Passagieren aus und eilte mit der Masse in Richtung des Flughafengebäudes. Bevor man es jedoch betreten konnte, musste man durch eine Passkontrolle, was mir für einen Moment das Herz in die Hose rutschen ließ, doch glücklicherweise fiel mir ein, dass ich vom Vortag noch meinen Reisepass im Gepäck hatte. Ein Glück, dass ich sicherheitshalber so viele Dinge für die Überweisung bei der Bank mitgenommen hatte. Also kam ich problemlos durch die Passkontrolle und stand einen Moment in einer großen Halle, wo ich mich dank der übersichtlichen Tafeln aber schnell zurechtfand. Ich eilte in die Ankunftshalle des Nordflügels, wo ich meinen Freund vermutete und war nach meiner Ankunft erst einmal unschlüssig wo ich nun hingehen sollte. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Ankunftshalle so groß sein würde und außer seiner Flugnummer wußte ich auch nichts. Da ich nun genau eine Stunde zu spät war, wurde sein Flug auch nicht mehr auf den Informationstafeln angezeigt und so lief ich einfach ein wenig orientierungslos umher. Und als ich schon begann darüber nachzugrübeln, was ich wohl machen würde, wenn er gar nicht mehr da wäre, stand er plötzlich vor mir: Dominic.
Ich kann nicht leugnen, dass mir unsere erste Begegnung in Japan ziemlich surreal vorkam. Ich hatte schon einmal davon geschrieben, dass es für mich zwei verschiedenen Welten gibt, eine hier in Japan, die andere in Deutschland ("Zwei verschiedene Welten"). Aber plötzlich war da jemand, der einfach so in meine Welt eindrang, der plötzlich all das, was ich sonst nur beschrieb, mit eigenen Augen sah. Und plötzlich waren da nicht mehr nur Personen auf der anderen Seite des Telefons, vor dem Bildschirm oder mit meinen Artikeln in der Hand, plötzlich war da eine Person, die real an allem teilhaben konnte. Fremd geworden war mir Dominic nicht, nein, ich hatte eher das Gefühl, dass ich genau dort weitermachen würde, wo ich vor einem halben Jahr aufgehört hatte. Geradezu so, als wäre ich gerade mit feuchten Augen von meiner Familie am Frankfurter Flughafen getrennt worden, nach Japan geflogen und hätte dort am Flughafen von Narita Dominic getroffen. Ein halbes Jahr liegt nun bereits dazwischen?
Die Rückfahrt vom Flughafen verlief ereignislos, zu viel hatten wir uns zu berichten, vor allem über den Flug. Als ich Dominic nach seinem ersten Eindruck fragte, meinte er, dass hier doch sehr viel mit Englisch zu verstehen sei, obwohl ich immer sagen würde, dass man ohne Japanisch kaum irgendwo durchkommen würde, woraufhin ich ihm erklärte, dass der internationale Flughafen selbstverständlich auch für Ausländer verständlich sei, dass aber dieser Luxus immer rarer werden würde, um so weiter man sich von dort entfernen würde. Und wurden anfangs die Durchsagen noch auf Englisch durchgesagt, so schien es als wollte der Zug meine Aussage unterstreichen, als bald nur noch Japanisch durch die Lautsprecher drang. Eine Dreiviertelstunde hatte Dominic in der Ankunftshalle auf mich warten müssen und ein wenig peinlich berührt erzählte ich eine Sparvariante von meinem Dilemma in Nippori, die glücklicherweise nicht ganz so unglaubwürdig klang, wie ich es mir ausgemalt hatte, nun ja, das lag möglicherweise daran, dass ich auch nicht den Friedhof und die Wohngebiete erwähnte. Von dem Chaos in Nippori konnte sich Dominic übrigens gleich selbst überzeugen, da wir dort wieder umsteigen musste, diesmal allerdings recht unspektakulär, weil ich nun bereits wußte, dass wir einfach nur auf das Nachbargleis mussten.
Mittlerweile war ich in Japan schon so oft von einer Bahn in eine andere umgestiegen, dass ich viele Handlungen bereits automatisch vornehme, schließlich ist es immer das Gleiche: Man kommt an, schiebt am Ausgang sein Ticket durch die Ticketschranke, kauft sich ein Neues und geht durch die Ticketschranke einer anderen Bahngesellschaft oder Linie zum nächsten Zug. Überall in Japan funktioniert das so. Überall? Nein, der Bahnhof von Nippori wäre nicht der schlimmste Bahnhof im Raum Tokyo, wenn es nicht ausgerechnet hier anders laufen würde. Unwissend kam ich an und zückte mein Ticket, Dominic ebenso, schließlich hatte ich ihm ausführlich erklärt wie wir zum Wohnheim von Soka kommen würden und was er dazu an den Bahnhöfen auf dem Weg machen müsste. Zeitgleich steckten wir unser Ticket in die Ticketschranken und zeitgleich schlossen sich unter lautem Piepsen unsere Durchgänge. Verwirrt stand ich da und verstand erst gar nicht, was nun eigentlich passiert war, bis ein Bahnhofsangestellter herbeigeeilt kam und mich fragte wohin ich unterwegs sei. Richtung Kita-Senju, antwortete ich verwirrt, woraufhin der Bahnhofsangestellte mich anwies an Ticketcounter ein gültiges Ticket zu kaufen. Ein Ticket kaufen? Ich hatte noch nicht einmal mein altes Ticket abgegeben und sollte bereits ein neues Ticket kaufen? Ich befolgte die Anweisungen des Bahnhofsangestellten und lief mit Dominic und Gepäck im Schlepptau zum Ticketschalter, wo auf Japanisch bereits geschrieben stand, dass man zum Umsteigen in das benachbarte Schienennetz an diesen Schaltern sein altes Ticket abgeben und gegen Entrichtung des entsprechenden Preises sein neues Ticket erhalten würde. An sich keine schlechte Sache, aber warum musste es dies nur an diesem Bahnhof geben? Und warum war es nirgends ausgezeichnet, wo man es vorher hätte bemerken können? Vielleicht hätte ich mir die Schuld an dem kleinen Malheur an der Ticketschranke gegeben, weil ich aufmerksamer hätte sein müssen, hätte ich in der Zeit, in der ich am Schalter anstand, nicht beobachtet, wie jeder vierte Japaner genau wie Dominic und ich in den Schranken hängen blieb und vom Bahnhofsangestellten zum Ticketschalter geführt wurde. Es war also keine Nachlässigkeit meinerseits gewesen, sondern ein offensichtliches Problem des Bahnhofs. Ich schüttelte den Kopf und hatte einen Grund mehr gefunden den Bahnhof von Nippori nicht zu mögen. Nie wieder über Nippori, dachte ich mir, als ich kurz darauf am Bahnsteig wartete und mir die heruntergekommene Gegend ansah. Die Weiterfahrt verlief problemlos und in Kita-Senju konnte ich Dominic dann noch einmal zeigen, wie man normalerweise von einer Bahn in die andere umstieg.
Als wir in Soka ankamen, regnete es noch immer in Strömen. Da ich keinen Regenschirm dabei hatte, liefen wir die knapp zehn Minuten vom Bahnhof zum Wohnheim durch den Regen, dabei zog ich eilig den Koffer hinter mir her, der in der Hast ständig gegen meine Ferse fuhr und mehrmals beinahe umkippte und in eine der zahlreichen Pfützen fiel. So waren die letzten Minuten bis zum Wohnheim ein Kampf und ich bedauerte ein wenig, dass Dominic Japan an seinem ersten Tag nicht von einer schöneren Seite erleben konnte. Und so kamen wir schließlich klitschnass im Wohnheim an. Die Wohnung war noch genauso, wie ich sie am Morgen verlassen hatte. Leider viel chaotischer als geplant, weil ich keine Zeit mehr zum Aufräumen gehabt hatte, aber das störte in dem Moment niemanden. Und nachdem sich jeder erst einmal geduscht und etwas Frisches angezogen hatte, packten wir erst Dominics Koffer aus und verwandelten mein Zimmer für die nächsten drei Wochen in unser Zimmer. Und während Dominic noch mit seiner Wäsche beschäftigt war und aufgeregt von seinem Flug berichtete, kochte ich mir in der Küche ein Abendessen: Die erste richtige Mahlzeit, die ich an diesem Tag zu mir nahm. Viel passierte danach nicht mehr. Es war bereits Nachmittag und seinen ersten Abend verbrachte Dominic damit wach zu bleiben, um möglichst schnell in den hiesigen Tagesrhythmus zu kommen. Bis Sieben Uhr hielt er durch, danach schlief er unruhig ein. Mehrmals wurde er danach noch wach, zuletzt gegen Mitternacht, danach konnten wir endlich beide schlafen, während draußen noch immer Regen vom Himmel fiel.

Die Sache mit der Überweisung

Neuer Tag, neues Glück. Nach meinem gestrigen Rückzieher hatte ich mir heute vorgenommen das Geld für die Busfahrt zu überweisen. Deshalb hatte ich mich diesmal vorbereitet: Ich hatte alle Kontodaten fein säuberlich auf einen Zettel aufgeschrieben, mir Vokabeln für Überweisung, Einzahlung, Bargeld und Konto herausgesucht und notiert und mir von Ayano am Vortag einen kurzen Text beibringen lassen, mit dem ich mein geplantes Anliegen verständlich vortragen konnte. Das Geld hatte ich im Portemonnaie, im Rucksack sicherheitshalber auch alle Unterlagen, die mit meinem japanischen Konto im Zusammenhang standen, Ausweis, Reisepass und ein Taschenwörterbuch für den Notfall. Sicherlich ein wenig übertrieben für eine simple Überweisung, aber ich wollte sichergehen, dass rein gar nichts schief gehen konnte. Und so machte ich mich auf den Weg zur japanischen Resona-Bank, bei der ich mein Konto hatte. Allerdings nicht zu jener Filiale, zu der ich sonst immer laufe, nein, ich ging geradewegs zur großen Hauptfiliale in der Nähe des Bahnhofs von Soka, da Ayano mir versichert hatte, dass ich dort sicherlich Erfolg haben würde.
Nach gut einer Viertelstunde Fußmarsch erreichte ich die Hauptfiliale und schaute mich nach dem Betreten der Bank zunächst hilfesuchend um. Vor mir standen unzählige Automaten an der Wand aufgereiht, doch nach meinem gestrigen Pech an den Bankautomaten, wollte ich mir diesmal lieber gleich helfen lassen. Da kam mir eine Serviceangestellte, die an einem kleinen Serviceschalter stand, gerade recht. Als ich sie hilfesuchend anblickte, kam sie sofort lächelnd auf mich zu und fragte wie sie mir helfen könne, woraufhin ich versuchte möglichst souverän meinen kurzen Text aufzusagen, den ich auf dem Hinweg immer wieder in Gedanken durchgegangen war: "Entschuldigen Sie. Ich würde gerne eine Überweisung tätigen. Allerdings nicht von einem Konto aus, sondern mit Bargeld. Könnten Sie mir behilflich sein?". Ich fügte meinem Satz noch ein Lächeln an und deutete verheißungsvoll auf mein Portemonnaie, das ich in der Hand hielt. Die Frau nickte und wiederholte nochmals in knapper Form mein Anliegen. Auf meine Frage nach der Bankgesellschaft des Empfängers, überlegte ich erst, dann entfaltete ich meinen Zettel mit den Kontodaten und reichte ihn ihr mit den Worten "Hier steht alles geschrieben.". Sie warf einen Blick darauf und sprach mich dann erneut an: "Sie können hier überweisen, aber das kostet 600 Yen Gebühr. Wenn Sie direkt zu Mitsui-Sumitomo-Bank gehen, können Sie auch ohne Gebühr überweisen. Dazu müssen Sie nur diese Straße herunterlaufen. Es ist nicht sehr weit.". Geld zu sparen wäre nicht schlecht, dachte ich mir, aber dazu müsste ich meinen Text in einer anderen Bank noch einmal vortragen. Und nun war ich schon so kurz vor der Überweisung, da nehme ich die Gebühren in Kauf. "Das ist schon in Ordnung.", sagte ich lächelnd, woraufhin die Frau nickte und mich an einen der vielen Bankautomaten führte, die an der Wand aufgereiht waren. Als ich einen Blick auf das Display warf, sah ich fast die gleichen Optionen, wie an dem gestrigen Automaten. Nur eine Sache war anders, die mir sofort ins Auge fiel: Eine Option zur Überweisung durch Bareinzahlung. Ausgerechnet mit jenen Schriftzeichen geschrieben, die ich mir erst am Morgen herausgesucht hatte. Natürlich ließ ich mir nicht anmerken, dass ich nun wahrscheinlich den gesamten Überweisungsvorgang auch selbst hätte erledigen können, und ließ die Servicedame alle Daten eintippen, schließlich hatte sie noch immer den Zettel in der Hand. Und so gab sie die Kontonummer, das Bankinstitut und alle übrigen Daten ein, manchmal mit einer kurzen Pause, um mir Zeit zu lassen ihre Eingabe zu bestätigen. Meinen Namen durfte ich dann selbst schreiben und zum Schluss gab es noch eine abschließende Eingabe zu tätigen: Ich blickte auf das Display und konnte meinen Augen nicht trauen: Ich sollte zur Verifizierung meine Mobiltelefonnummer angeben. "Ich besitze kein Mobiltelefon.", sagte ich ein wenig niedergeschlagen. "Sie besitzen kein Mobiltelefon?". Die Dame war sichtlich überrascht und wußte nicht genau wie sie nun fortfahren sollte. "Für eine Überweisung ist die Angabe der persönlichen Mobiltelefonnummer unentbehrlich. Ich kann den Überweisungsvorgang nicht ohne die Angabe einer Nummer abschließen.". Einmal mehr ärgerte ich mich über die Notwendigkeit von Mobiltelefonen in Japan und fragte ein wenig hilflos, was ich denn ohne Mobiltelefon machen sollte. Da meinte sie, dass ich doch bestimmt jemanden kennen würde, der mit seiner Mobiltelefonnummer für mich bürgen würde, woraufhin ich kurz nachdachte. Natürlich könnte ich einfach Ayanos Telefonnummer angeben, aber die hatte ich natürlich nicht dabei. Und so blieb mir vorerst nichts anderes übrig als den Überweisungsvorgang abzubrechen und der Dame mitzuteilen, dass ich später nochmals mit einer Mobiltelefonnummer vorbeikommen würde. Sie nickte, gab mir meinen Zettel zurück und entschuldigte sich mehrmals für die Unannehmlichkeiten.
Nachdem ich zum Wohnheim gelaufen, Ayanos Mobiltelefonnummer herausgesucht und notiert hatte und einmal mehr zur Hauptfiliale gelaufen war, betrat ich die Filiale von neuem und hielt Ausschau nach der Dame vom Serviceschalter. Sie stand gerade an einem Tisch und half einer älteren Dame beim Ausfüllen eines Formulars und so wartete ich einen Moment und legte mir im Kopf schon einmal mögliche Sätze zurecht. Kaum war die Servicedame fertig, lief sie zielstrebig auf mich zu, was mich ziemlich überraschte, da ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich ihr aufgefallen war. Sie begrüßte mich herzlich zurück, nahm sofort den Zettel mit den Kontodaten an sich und führte mich wieder an den Automaten, ohne dass ich etwas sagen musste. Während sie in Windeseile erneut die Daten eintippte, dachte ich darüber nach wie unterschiedlich Service hier in Japan und in Deutschland waren. Schon öfter hatte ich den Ausdruck "Servicewüste Deutschland" gehört, doch ohne einen passenden Vergleich mit einem anderen Land, hatte ich mir unter diesem Ausdruck nie wirklich etwas vorstellen können. Hin und wieder hatte ich mich über die unfreundlichen Kassierer in Supermärkten aufgeregt, insbesondere über die unmotivierten Kassierer im Aldi, die mich irgendwann dazu veranlasst hatten nur noch mit gezähltem Geld und einpackbereitem Rucksack an eine Aldikasse zu gehen, weil man immer mit stechenden Blicken gelöchert wurde, wenn man nicht schnell genug seine Waren und sein Geld weggesteckt hatte. Aber abgesehen davon war für mich Service in Deutschland immer normal. Erst hier in Japan war mir aufgefallen was Kundenfreundlichkeit wirklich bedeutete. Und dabei geht es nicht nur einfach darum nett zu lächeln, wenn man an der Kasse die Waren des Kunden eintippt, nein, hier in Japan wird man gegrüßt, wenn man in einen Laden kommt, betritt man einen Gang, in dem gerade Waren in die Regale geräumt werden, entschuldigen sich die Mitarbeiter, packen schnell die Sachen zusammen und verlassen den Gang, damit man ungestört die Waren betrachten kann, und man bekommt seine Waren eingepackt und auf Wunsch Essstäbchen, Besteck oder kostenloses Eis zum Kühlen von Tiefkühlwaren. Und wenn irgendetwas einmal schief gehen sollte, was auch immer, dann entschuldigt sich immer das Servicepersonal, denn der Kunde soll sich niemals unwohl fühlen. 
Und so genoss ich letztlich meine Überweisung, weil ich kaum etwas machen musste. Ich bestätigte meine Daten mit einem knappen "Ja", tippte meinen Namen und Ayanos Mobiltelefonnummer ein und zahlte schließlich das Geld ein. Und als dann alles vorbei war, bedankte sich die Dame vom Serviceschalter dafür, dass ich ihre Bank genutzt hatte und entschuldigte sich nochmals für die Unannehmlichkeiten mit der Mobiltelefonnummer und dafür, dass sie so lange gebraucht hätte all die Daten einzutippen, obwohl ich selten jemanden so schnell tippen gesehen hatte. Und dann bedankte ich mich überschwenglich für ihre Hilfe und entschuldigte mich für die Unannehmlichkeiten, die ich verursacht hatte, woraufhin die Dame vom Serviceschalter lächelte. Nicht mit einem Servicelächeln, das man jedem Kunden entgegenbringt, sondern mit einem wirklichen Lächeln, das man nur zeigt, wenn man sich wirklich von Herzen freut. Ich verließ die Bank und lief erleichtert zurück zum Wohnheim, denn endlich war auch die letzte Hürde für den Urlaub in Kyoto genommen. In wenigen Tagen sollte es bereits losgehen und schon morgen würde mein Freund aus Deutschland ankommen. Darum verbrachte ich den Rest des Tages mit Einkäufen für die nächsten Tage, putzte die Wohnung und plante meine morgige Fahrt zum internationalen Flughafen von Narita. Später traf ich Ayano übers Internet, berichtete ihr sogleich von meinem Erlebnis auf der Bank und beichtete ihr, dass ich ihre Mobiltelefonnummer für die Überweisung genutzt hatte. Doch das störte sie überhaupt nicht, stattdessen entschuldigte sie sich dafür, dass sie mir vorher nicht gesagt hatte, dass ich eine Telefonnummer brauchen würde. "Ach, es hat doch letztlich alles geklappt. Das ist schließlich das Wichtigste. Denn jetzt steht meinem Urlaub endlich nichts mehr im Wege. Und wenn ich aus Kyoto zurück bin, muss ich mich irgendwie für all die Hilfe und Unterstützung revanchieren, die du mir in den letzten Tagen entgegen gebracht hast."

Freitag, 27. März 2009

Rückzieher

Als ich heute aufstand und meine E-Mails überprüfte, fand ich eine Benachrichtigung von dem Reiseunternehmen vor, mit dem ich per Nachtbus nach Kyoto fahren wollte. Es wurden nochmals alle Angaben meiner Reservierung vom Vortag aufgelistet und darauf hingewiesen rechtzeitig das Geld zu überweisen. Hätte ich auf ein deutsches Konto überweisen sollen, wäre dies gar kein Problem gewesen, doch auf ein japanisches Konto? Das hatte ich noch nie gemacht. Die Hürde war nicht, dass man alles auf japanisch ausfüllen sollte, sondern dass man nicht von einem westlichen Konto Geld auf ein japanisches Konto übertragen konnte. Darum half mir mein deutsches Vorwissen zum Onlinebanking überhaupt nicht. Und da ich vormittags niemanden erreichte, der mir hätte helfen können, machte ich mir vorerst keine größeren Gedanken um die Überweisung, notierte nur die Kontodaten und lief zur Mittagszeit in Richtung Post, um einen Brief aufzugeben.
Was ich mindestens schon einmal gemacht habe, bereitet mir keine Schwierigkeiten mehr, weshalb ich den Brief zügig und ohne Schwierigkeiten überreichte und bezahlte. Ich musste ein wenig lächeln als ich an meine Aufregung beim Verschicken meiner ersten Postkarte aus Japan dachte, denn eigentlich war es recht simpel. Doch schon bald verging mir mein Lächeln wieder. Als ich nämlich die angrenzende Bank betrat, um spontan zu versuchen das Geld für die Busfahrt zu überweisen, wurde mir wieder einmal bewusst, wie hilflos ich in unbekannten Situationen doch war. Und so stand ich für einen Moment orientierungslos in der Eingangshalle und dachte über meinen nächsten Schritt nach. Doch da blickte mich schon die Frau vom Serviceschalter nett lächelnd an und ich wußte genau, dass sie auf mich zukäme, wenn ich nicht sofort zielstrebig auf irgendetwas zulaufen würde. Also nickte ich kurz, lächelte und lief schnurstracks zu den Bankautomaten. Ich hatte keine Angst vor den Bankangestellten, ganz im Gegenteil: Die Damen an den Serviceschaltern waren äußerst nett und hilfsbereit und immer darum besorgt, dass der Kunde zufrieden war. Mein Problem war nur, dass mir das komplette Vokabular fehlte, um verständlich zu erklären, dass ich gerne Geld überweisen würde, dass ich nicht auf dem Konto, dafür aber in meinem Portemonnaie mit mir herum trug. Und da solch eine Situation meist damit endete, dass die nette Dame am Serviceschalter hilflos schaute und nichts verstand und ich peinlich berührt vor mich hinstammeln würde, wußte ich, dass ich eine Begegnung mit dem Servicepersonal besser umgehen würde, ehe ich mir nicht einen passenden Satz zurechtgelegt hatte. Somit stand ich dann vor dem Bankautomaten und hoffte von dort aus überweisen zu können. Doch da mir das Vokabular zum Sprechen fehlte, konnte ich selbstverständlich mit den Schriftzeichen auf dem Touchscreen auch nichts anfangen. Und so trottete ich geknickt wieder aus der Bank, ohne das Geld überwiesen zu haben.
Auf dem Rückweg lief ich über den Unicampus, als jemand meinen Namen rief. Ich blickte mich um und sah Tak geradewegs auf mich zulaufen. Und da er gerade auf dem Weg zum Bahnhof war, was ihn an meinem Wohnheim vorbei führte, liefen wir ein Stück des Weges gemeinsam durch Soka und tauschten uns über die letzten Wochen aus. Ich erzählte von meinen Plänen nach Kyoto zu gehen und dem damit verbundenen Stress, während er erzählte, dass er gerade dabei wäre einen Job in Japan zu suchen, denn sein neues Liebesglück mit Nobuko hatten ihn letztlich dazu bewogen in Japan zu bleiben und nicht nach Großbritannien zu gehen, wie er es vor knapp einem halben Jahr noch geplant hatte. Und so war er, genau wie Ayano und Nobuko, zur Zeit mit einer enorm stressigen Arbeitssuche beschäftigt, die seine Freizeit auffraß. Ein wenig bedauerte ich seine Entscheidung gegen Großbritannien, schließlich hätte er mich auf diese Weise ganz einfach in Deutschland besuchen kommen können, doch es war seine Entscheidung und immerhin hatte ich somit ein halbes Jahr mehr Zeit etwas mit ihm in Japan zu unternehmen. Vor dem Wohnheim verabschiedeten wir uns und Tak wünschte mir einen schönen Aufenthalt in Kyoto, ehe er in Richtung Bahnhof aufbrach. Und als ich ich die Treppen nach oben stieg, hoffte ich die Bankangelegenheiten bald erledigt zu haben, denn dann würde meinem Ausflug nach Kyoto endlich nichts mehr im Wege stehen.

Unglücklich das Land, das Handys nötig hat

Es ist schon zu einem Markenzeichen von mir geworden, dass ich kein Mobiltelefon habe. Als ich noch in der Mittelstufe des Gymnasiums war, kam es in Mode, dass sich jeder ein Mobiltelefon zulegte. Ich tat es aus Protest nicht, schließlich waren damals Mobiltelefone für mich nicht viel mehr als ein kurzlebiger Modetrend so wie Knöpfhosen oder Plateauschuhe. Als ich dann in die Oberstufe wechselte, erkannt ich irgendwann, dass Mobiltelefone mitunter durchaus einen praktischen Zweck erfüllten und wich von meiner anfänglichen Protesthaltung ab. Dennoch kaufte ich mir kein Mobiltelefon, weil ich einfach keinen Nutzen für mich sah. "Du kannst jemanden anrufen, wenn der Zug ausfällt. Oder wenn du abends von einer Party abgeholt werden willst.", versuchten mich damals einige übereifrige Freunde zu überreden, woraufhin ich immer nur entgegnete: "Wenn der Zug ausfällt, nehme ich den Bus. Oder warte auf den Nächsten. Und auf Partys gehe ich nicht.". Und so war es auch. Abgesehen davon arbeitete meine Mutter stets Schichtdienst und war mittags ohnehin fast nie zu Hause, wenn ich Schulschluss hatte, weshalb es meistens doch recht sinnlos gewesen wäre bei ihr anzurufen. Als ich schließlich nach Marburg zog und mein Studium aufnahm, hatte fast jeder ein Mobiltelefon. Und so wurde oft auf eben jenem angerufen, wenn man sich für eine Gruppenarbeit traf oder morgens eine Vorlesung ausfiel. Dennoch kaufte ich mir kein Mobiltelefon, weil mir schlichtweg das nötige Geld fehlte. Und so kam es, dass ich ohne jegliche Erfahrung mit Mobiltelefonen aufgewachsen bin und bis heute noch vollkommen verwirrt bin, wenn ich das Mobiltelefon eines anderen benutzten soll, sei es zum Telefonieren oder SMS schreiben.
In meinem handyfreien Leben habe ich schon viele Reaktionen auf die Aussage: "Ich besitze kein Mobiltelefon." erhalten. Einige Leute blickten mich ungläubig an, als hätten sie einen Geist gesehen, einige schüttelten ungläubig den Kopf, gerade so als hätte ich mich im Bus betrunken und übergeben, andere wiederum sagten mit einem breiten Grinsen "Sei froh!" oder klopften mir enthusiastisch auf die Schulter und lobten mich in den höchsten Tönen, als wäre es eine große Errungenschaft, auf die man stolz zu sein hat. Doch ganz gleich wie die anderen Leute reagieren oder, was sie sagen, ich bin bis heute immer noch der Meinung, dass ein Mobiltelefon überaus nützlich sein kann, aber nicht unbedingt notwendig ist. Zumindest in Deutschland. In Japan sieht das ein wenig anders aus.
Ich wußte vor meinem Jahr in Japan, das Mobiltelefone hier sehr verbreitet sind. In meiner Altersgruppe sogar bei rund 100 Prozent. Und auch wenn man Zug fährt oder an öffentlichen Plätzen Leute beobachtet, sieht man das hier fast jeder ein Handy hat. Im Gegensatz zu dem, was ich von deutschen Mobiltelefonen gewohnt bin, haben japanische Handys allerdings mehr Anwendungszwecke im Alltag. Beispielsweise als Fotoapparat. Natürlich können auch viele neuere Mobiltelefone in Deutschland Fotos machen, oftmals hat man bei uns für Ausflüge allerdings eine Digitalkamera dabei und das Mobiltelefon ist meist eher ein Gimmick. In Japan hingegen fotografiert fast jeder mit seinem Mobiltelefon alle Sehenswürdigkeiten, kleine handliche Digitalkameras, wie ich eine besitze, habe ich hier kaum gesehen. Stattdessen gibt es einige Japaner, die mit aufwendiger Fotoausrüstung, einer Spiegelreflexkamera und Stativ herumlaufen. Eine andere Funktion ist Internetzugang und die E-Mailfunktion. Mit deutschen Handys schreibt man SMS, mit japanischen schreibt man gleich E-Mails und hat auch eine eigene E-Mailadresse, über die man von überall auf der Welt erreicht werden kann. Dafür sind Festnetzanschlüsse nicht sehr verbreitet, sowohl für Internet, als auch für ein Festnetztelefon. Das japansiche Mobiltelefon ist somit ein Multifunktionsprodukt, das weitaus mehr umfasst, als man sich als Deutscher unter dem Begriff "Mobiltelefon" vorstellen würde. Es ist eine Art Fusion von Telefon, Spielkonsole, Kamera, Internetzugang und Fernseher. Man möchte auf einer Zugfahrt spielen? Man benutzt das Mobiltelefon. Man möchte etwas fotografieren? Man benutzt das Mobiltelefon. Man braucht Auskunft über Zuganbindungen? Man benutzt das Mobiltelefon. Man möchte Kontaktadressen austauschen? Man hält einfach die Schnittstellen zweier Mobiltelefone aneinander. Vielleicht lässt sich somit der hohe Verbreitungsgrad von Mobiltelefonen in allen Generationen Japans, von den Kindern bis zu den Ältesten, erklären.
Aber warum erzähle ich das alles? Nun, aus dem einfachen Grund, weil Mobiltelefone hier in Japan mittlerweile so verbreitet sind, dass es als selbstverständlich gilt über eines zu verfügen. Man fügt bei Kontaktadressen keine Festnetznummer, sondern nur seine Mobiltelefonnummer an. Bei Bestellungen wird man gebeten seine Mobiltelefonnummer anzugeben. Und selbst wenn man Geld überweist, muss man zur Verifizierung seine Mobiltelefonnummer in den Automaten eintippen. Dumm nur, wenn man gar kein Mobiltelefon besitzt, so wie ich.
An meinem 172. Tag in Japan habe ich übers Internet endlich die Reservierung für eine Unterkunft in Kyoto und einen passenden Nachtbus zur An- und Abreise vorgenommen. Es war das erste Mal, das ich selbst eine Unterkunft gebucht und mit Kreditkarte bezahlt hatte. Ich wußte gar nicht, wie soetwas genau funktionierte und da half es mir auch nicht, dass vieles nur auf Japanisch geschrieben stand. Doch mein Problem war weniger die Sprache, als mein fehlendes Mobiltelefon. Denn immer wenn ich ein Onlineformular fein säuberlich mit Name, Anschrift und allen nötigen Angaben ausgefüllt hatte und absenden wollte, erschien der nette Hinweis, dass ich noch nicht alle erforderlichen Felder ausgefüllt hatte, woraufhin das Feld für die Mobiltelefonnummer rot unterstrichen im Formular betont wurde. Und egal was ich tat, ich kam um diese Nummer nicht herum. So wäre meine Onlinereservierung beinahe an einer fehlenden Telefonnummer gescheitert, hätte ich nicht netterweise von Ayano und meiner Freundin Ninja, deren Mobiltelefonnummern bekommen, um damit die nötigen Formulare auszufüllen.
Wenn ich Leute über Japan sprechen höre, die dort waren, dann erzählen sie oft, dass es ohne Sprachkenntnisse sehr schwer ist zurechtzukommen. In Zukunft werde ich dann immer anfügen, dass es ohne japanisches Mobiltelefon fast ebenso schwer ist, da man theoretisch weder etwas Buchen, noch Überweisen kann. Sogar für meinen Mietvertrag und zur Eröffnung meines japanischen Kontos brauchte ich eine Mobiltelefonnummer. Glücklicherweise halfen mir damals immer nette Japaner aus, mal Shinya, mal Tomomi. Doch was ist, wenn man niemanden kennt, der mit seiner eigenen Telefonnummer für jemanden bürgen würde? Dann wünsche ich mich doch lieber nach Deutschland, wo das Handy ein nützliches, aber nicht notwendiges Gerät ist und man auch überleben kann, wenn man sein Leben lang noch nie mit einem Mobiltelefon zu tun hatte, ganz gleich aus welchem Grund. Denn unglücklich das Land, das Handys nötig hat.

...und plötzlich war es weg


Bild1: Ein älteres Bild, auf dem man unten links das Dach eines ganz normal aussehenden Hauses sieht.


Das gegenüberliegende Bild sehe ich sehr oft, denn es ist die Sicht, die ich habe, wenn ich aus der Eingangstür der Wohnung trete und auf die gegenüberliegenden Häuser blicke. Immer wenn ich auf Lee und Katharina warten muss, stehe ich an der Brüstung und blicke auf jene Häuser, frage mich wer dort wohl wohnt, schaue mir die kleinen Gärten an und schwelge in Gedanken. Es wäre nicht so, dass mir diese Häuser besonders ins Auge gefallen wären, sie sind einfach nur da. Und erst so richtig bewusst ist mir dies geworden, als eines der Häuser plötzlich nicht mehr da war.


Bild2: Wo vorher noch ein Haus stand, ist nur noch ein Grundriss des Gebäudes zu erahnen.


Es ging alles ganz schnell. Eines Tages war das betreffende Haus von einem Gerüst umgeben, wie man sie auch häufig in Deutschland sieht. Nur stehen die Gerüste in Deutschland oft für mehrere Wochen, bevor sie entfernt werden und das Haus dann in neuem Anstrich erstrahlt. Bei diesem Haus war es nicht so. Als ich einen Tag später ins Freie trat war das Haus einfach weg. Kein Gerüst, kein Haus. Nichts. Nur ein paar Mauerreste, Schutt und Erde wo noch vor einem Tag ein Haus stand. Weder hatte ich Baulärm gehört, noch irgendwelche Menschen gesehen. Auf geradezu gespenstische Weise war das Haus über Nacht einfach verschwunden und mit ihm der große Baum im Garten, dessen Kaki-Früchte ich noch im Spätsommer fotografiert hatte. Eine Weile lang starrte ich verwundert dorthin wo sonst immer ein Haus stand und ebenso verwundert schauten einige Passanten, die am angrenzenden Weg vorbeiliefen. Ob sie sich wohl genauso wunderten wie ich? Als ich zwei Tage später wieder dorthin blickte, waren auch die letzten Hinweise darauf, dass an dieser Stelle einstmals ein Haus stand, beseitigt worden. Nur noch eine ebene Fläche mit Erde sah man dort. Geradezu als hätte dort niemals ein Haus gestanden. 


Bild3: Eine ebene Fläche, wo einst ein Haus stand.


Wenn ich nun aus der Eingangstür der Wohnung trete und auf die gegenüberliegenden Häuser blicke, sehe ich stets das obige Bild. Immer wenn ich auf jemanden warten muss, stehe ich an der Brüstung und blicke auf jene Stelle, an der früher einmal ein Haus stand, das über Nacht einfach verschwand. Ich frage mich wer dort wohl einmal gewohnt hat, schaue mir die ebene, braune Erde an und schwelge in Gedanken. Es ist nicht so, als hätte ich dort früher nie hingeschaut, aber erst seit Kurzem fällt mir diese Stelle immer wieder besonders ins Auge. Dabei ist dort gar nicht mehr.

Abschiedsschnee

Als ich heute an meinem 168. Tag in Japan aufstand und einen Blick aus dem Fenster warf, konnte ich meinen Augen kaum trauen, denn es schneite. Schon seit Wochen hörte ich von Rekordschneefällen in Deutschland und war immer ein wenig geknickt, dass nicht einmal ein einziges Schneeflöckchen auf Soka nieder fiel. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass hier im Raum Tokyo an einen nassen, ungemütlichen Herbst direkt der Frühling anschließen und die Jahreszeit Winter ein Jahr pausieren würde, doch mit dem heutigen Tag hatte ich immerhin einen einzigen symbolischen Wintertag in Japan. Dabei ist es nicht so, dass es in Japan nicht schneien würde. Es gibt Gegenden in denen zur Winterzeit der Schnee meterhoch liegt. Die Erklärung für diese ungleiche Verteilung von Schnee, bietet die Gebirgskette, die sich von Nordjapan entlang der gesamten Hauptinsel bis nach Südjapan zieht, denn diese fängt alle Regen- und Schneewolken, die vom Kontinent nach Japan ziehen wie eine Mauer ab, weshalb ein Großteil der Niederschläge auf jener Seite Japans niedergehen, die dem Eurasischen Kontinent zugewandt ist. Da Tokyo und Soka allerdings auf der anderen Seite dieses Gebirgszuges liegen, ist es hier oft trocken und schneelos, während zur gleichen Zeit nur einige hundert Kilometer entfernt, jenseits des Gebirges, ein Schneechaos ausbrechen kann.


Bild1: So beginnt mein eintägiger Winter in Soka. Ein Blick vom Balkon.



Film1: Ein Film über den langersehnten Schneefall.


So sehr ich mich über den Schneefall auch freute, so ungelegen kam er an diesem Tag leider auch, da einerseits Florian aus Bremen nach Kyoto umzog und auch Lee heute ihren Urlaub in die U.S.A. antrat. Auf das Gepäck Florians aufzupassen war kein Problem, schließlich stand es nur für eine Weile in meiner Wohnung, während er den Auszug mit der Wohnungsagentur regelte. Und obwohl ich gar nicht wirklich aktiv mithalf, schenkte er mir zum Abschied einige Dinge, die er nicht mit nach Kyoto nahm, darunter eine Packung Butter und deutsche Taschentücher. Das hört sich zwar ein wenig mickrig an, allerdings muss man sich daran erinnern, dass beides für japanische Verhältnisse Luxusartikel sind. Viel problematischer stellte sich der Schneefall für die Abreise von Lee heraus, denn als ich gegen Mittag Lees Gepäck zum Bahnhof von Soka zog, war aus dem sanften Schneefall ein unangenehmer Nieselregen geworden, der sich in großen Pfützen auf dem Boden bemerkbar machte. Bis wir beide schließlich am Bahnhof angekommen waren, war unsere Kleidung bereits unangenehm feucht geworden und das Regenwasser hatte sich unangenehm an den Hosenbeinen nach oben gesogen. Und so stand Lee unglücklich schauend mit mir am Bahnhof und wartete auf den Bus zum Flughafen, während sich das Regenwasser in ihren Turnschuhen sammelte. Ich konnte wenigstens nach Hause gehen und meine Kleidung wechseln, doch Lee standen noch knapp achtzehn Stunden Reise bevor, mit zweimaligem Flugwechsel in den U.S.A..
Als wir warteten kam ein älterer Herr in Regenjacke auf uns zu und begann uns auf japanisch zu fragen, ob wir beabsichtigten mit dem Gepäck zum Flughafen zu reisen, was Lee bejahte. Daraufhin musste sie ein Formular ausfüllen, was rund fünf Minuten in Anspruch nahm. Während ich daneben stand und kaum verstand, was der ältere Herr nuschelte, antwortete Lee recht zielstrebig auf Japanisch. In diesem Moment dachte ich darüber nach wie schnell Lee in den vergangenen fünf Monaten Japanisch gelernt hatte, schließlich hatte sie bei Null begonnen. Ob ich zu wenig Japanisch sprach, fragte ich mich, während Lee auf die Fragen des älteren Herrn antwortete, denn nach über drei Jahren Japanisch schien ich weniger zu verstehen als Lee. Trotz meiner Zweifel freute ich mich für Lee und teilte ihr auch mit wie stolz ich auf ihre Fortschritte im Japanischen war, woraufhin sie mich erstaunt anschaute und dann das Gesicht verzog. "Ich habe gar nicht verstanden, was er mich gefragt hat! Der hat so genuschelt. Ich habe einfach immer 'ja' gesagt. Hoffentlich habe ich das richtige Ticket gekauft.", sagte sie unsicher und ich musste über das Missverständnis lachen. Während Lee ein wenig über ihre nasse Kleidung klagte und sich vornahm am Flughafen noch frische Kleidung für den Flug anzuziehen, kam der Bus angefahren und stoppte an der Haltestelle. Also verabschiedete ich Lee für die nächsten Wochen, wünschte ihr einen schöne Zeit in de U.S.A. bei ihrer Familie und wartete geduldig bis der Fahrer ihr Gepäck eingeladen hatte. Eine Weile stand ich noch an der Haltestelle und winkte ihr durch die Busscheibe zu, bis der Bus schließlich in Richtung des internationalen Flughafens Narita fuhr.


Bild2: Der Bus mit dem Lee zum internationalen Flughafen von Narita fuhr. Mit einem ähnlichen Bus kam ich an meinem ersten Tag in Japan auch an.


Bild3: Ein letztes Bild von Lee bevor sie zum Flughafen fuhr.


Den Abend verbrachte ich mit einem seltsamen Gefühl. Ein wenig fühlte ich mich durch die vielen Verabschiedungen an meine Abreise von Deutschland erinnert. Nicht auf eine traurige, wehmütige Weise, sondern eher nostalgisch. Die Hälfte meiner Zeit in Japan war bereits verstrichen, die ersten Studenten verließen Japan bereits, bald würden schon Neue kommen. Eine Weile hing ich meinen Gedanken nach, dann blickte ich hinaus ins nächtliche Tokyo. Und wie zum Beginn des Tages fiel wieder Schnee. Abschiedsschnee.


Bild4: Ein nächtliches, schneebedecktes Soka. Das erste Mal, dass ich dieses Jahr Schnee sah, der liegen blieb.