Samstag, 28. März 2009

Nie wieder Nippori

Als ich an meinem 175. Tag in Japan die Augen öffnete, sah ich durch das Fenster einen wolkenverhangenen Himmel, der nur darauf wartete seine Pforten zu öffnen und einen heftigen Regenschauer auf Soka niederprasseln zu lassen. Sehr gut geschlafen hatte ich nicht, schließlich stand mir heute ein stressiger Tag bevor. Mein Freund Dominic würde anreisen, doch dieses recht freudige Ereignis bedeutete für mich: Früh aufstehen, knapp zwei Stunden über unbekannte Bahnhöfe und mit unbekannten Bahnlinien zum Flughafen fahren, sich möglichst schnell an einem der größte Flughäfen der Welt zurechtfinden und schließlich mit Freund und Gepäck im Schlepptau wieder irgendwie zurück kommen. Und das alles vermutlich bei Regen, wenn der dunkle Himmel hielt, was er versprach. Also wälzte ich mich auf die andere Seite, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, ehe der Wecker mich mit seinem Piepsen aus dem Bett scheuchen würde. Und so rollte ich mich hin und her, versuchte mich irgendwie bequem hinzulegen und fiel in einen jener Zustände, in dem man nicht wirklich schläft, aber auch nicht wirklich wach ist.
Nachdem ich eine scheinbare Ewigkeit so verbracht hatte, entschied ich mich schließlich aufzustehen. Eigentlich hätte ich laut meines sorgfältig durchdachten Zeitplans erst um Sieben Uhr aus dem Bett gemusst, daraufhin letzte Vorbereitungen getroffen und dann um Acht Uhr das Haus verlassen. Aber zeitig aufzustehen konnte ja nicht verkehrt sein, also hiefte ich mich nach oben und warf einen Blick auf den Wecker, um zu schauen wie viel früher ich nun schon wach war. Kurz nach Neun Uhr zeigte das Display an und ich stand erst einmal für eine Schrecksekunde im Schlafanzug mitten im Raum und starrte ungläubig auf den Wecker. Ich war mir ganz sicher gewesen den Wecker auf Neun Uhr gestellt zu haben, aber eigentlich war das nun auch egal, denn Fakt war, dass ich verschlafen hatte und ganze zwei Stunden zu spät war. Und das ausgerechnet heute. Ich sprang aus meinem Schlafanzug, schlüpfte in meine Kleidung und suchte in Windeseile alles zusammen, was ich für die Fahrt zum Flughafen vorbereitet hatte. Als ich die Eingangstür aufriss, sah ich bereits die ersten Tropfen vom Himmel fallen, doch das ignorierte ich und lies meinen Regenschirm unbeachtet in der Ecke stehen. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich später heraus stellen sollte. Eilig schloss ich die Tür ab und hastete mit meinem Rucksack auf dem Rücken in Richtung Bahnhof, während sich die Wolken am Himmel bedrohlich zusammenzogen.
Kurz vor dem Wohnheim traf ich überraschenderweise auf Katharina, die auch auf dem Weg zum Bahnhof war, um zu ihrer Praktikumsstelle zu kommen. Da auch sie ein wenig spät war, eilten wir gemeinsam unter ihrem Schirm zum Bahnhof, während ich ihr von meinem Dilemma erzählte. Am Bahnhof angekommen kaufte ich meine Fahrkarte, glücklicherweise hatte ich bereits im Vorhinein schon meine Route herausgesucht und musste somit nicht lange überlegen was ich kaufen sollte, und stieg mit Katharina in den nächsten Zug, der in Richtung Kita-Senju fuhr. Seit ich aufgestanden war, waren gerade einmal dreißig Minuten vergangen, so schnell war ich durch die Wohnung, zum Bahnhof und in den Zug gehastet. In Kita-Senju verabschiedete ich mich von Katharina und kämpfte mir meinen Weg zu meinem Anschlusszug frei, der heillos überfüllt war. Und so schaukelte ich eingequetscht zwischen Unmengen von Japanern, die wohl größtenteils auf dem Weg zur Arbeit waren, einige Minuten im Zug umher, bis ich am Bahnhof von Nippori ankam und mit den Massen an aussteigenden Japanern nach draußen gespült wurde.
Nippori. Niemals zuvor habe ich von Nippori gehört. Schon gar nicht vom Bahnhof in Nippori, der aber offensichtlich als Umsteigeplatz für die verschiedensten Liniennetzen von Tokyo und Umgebung beliebt war, denn hier lief fast alles zusammen. Normalerweise halte ich nie so viel davon mit Bahnstationen oder Ortsnamen um sich zu werfen, da man sich diese ohnehin nur selten merken kann, aber der Bahnhof von Nippori ist eine Ausnahme. Den Namen "Nippori" sollte man sich wahrlich im Gedächtnis behalten. Nippori. Was hatte ich erwartet? Sicherlich keinen Riesenbahnhof wie in Shinjuku ("Downtown Medley - Harajuku, Shinjuku und zurück"), aber schon einen größeren Bahnhof als beispielsweise in Soka. Aber der Bahnhof von Nippori trotzte allen Erwartungen, die ich gehegt hatte, und entpuppte sich als der schlimmste Bahnhof, an dem ich jeweils gewesen war. Und das in vielerlei Hinsicht. Denn als ich mit den Massen von Japanern aus meinem Zug gespült wurde und versuchte mich zu orientieren, stellte ich erst einmal fest, dass nirgends die Zuglinie ausgeschildert war, zu der ich so dringend musste. Also beging ich den nächsten folgenschweren Fehler an diesem Tag, indem ich erst einmal am nächstgelegenen Ausgang den Bahnhof durch die Ticketschranke verließ und ins Freie trat. Nicht etwa weil ich unbedingt nach draußen wollte, nein, weil ich dort im Regen eine Übersichtskarte sah, auf der ich nach Abfahrtsplatz meiner Linie schauen wollte, was manchmal durchaus einige Meter Fußmarsch entfernt liegen kann. Aber zu meiner Enttäuschung war das Schild keine Übersichtskarte, wie man sie in der Nähe jedes Ausgangs eines japanischen Bahnhofs zu finden pflegt, sondern eine Informationstafel, auf der keine Informationen standen. Und da stand ich nun auf einer heruntergekommen Bahnbrücke vor der Ticketschranke des Bahnhofs von Nippori, im Regen, ohne Schirm, verspätet, hungrig und ohne ein Ziel. Aber es kam noch schlimmer.
Zurück durch die Ticketschranke konnte ich nicht, dazu hätte ich ein Ticket benötigt. Und das Ticket, das ich für meinen Zug zum Flughafen Narita benötigt hätte, konnte ich an den dortigen Ticketautomaten nicht kaufen. Weit und breit war auch kein Bahnangestellter zu sehen, den ich hätte fragen können, und so blieben mir nur zwei Möglichkeiten übrig: Der rostigen, leeren Bahnbrücke nach links in Richtung eines Hanges mit Bäumen zu folgen oder alternativ nach rechts zu einer Treppe zu gehen, die hinunter in die Stadt zu führen schien. Zugegebenermaßen ist es in Japan nicht sehr ungewöhnlich, dass sich der Bahnhof eines anderen Schienennetzes ein wenig entfernt befindet und man ein Stück laufen muss. Erfahrungen hatte ich hiervon ja bereits zur Genüge gesammelt, als ich das erste Mal mit Lee und Katharina in Tokyos Elektronik- und Mangaviertel Akihabara war und verzweifelt den richtigen Bahnhof suchte, um nach Soka zurückfahren zu können ("Der Trimm-Dich-Pfad in der Praxis") und darum dachte ich mir, dass sich in unmittelbarer Nähe des Ausgangs, aus dem ich soeben getreten war, wahrscheinlich der Eingang zu jener Linie befinden müsste, mit der ich endlich bis zum Flughafen von Narita käme. Darum ging ich die Bahnbrücke nach rechts entlang und lief die nasse Treppe bis in die Stadt hinunter. Ein Hinweisschild für einen weiteren Bahnhof fand ich allerdings nicht, nicht einmal ein Schild das darauf hinwies, dass die Treppe, die ich gerade heruntergekommen war, zum Eingang eines Bahnhofs führte. Also stand ich einmal mehr orientierungslos da und überlegte wo sich wohl ein Bahnhof befinden würde. Ein Blick nach links offenbarte nur trostlose Betonwände, die die Schienen abschirmten, während rechts eine etwas herabgekommene Einkaufsstraße verlief, von der immer wieder kleine Gässchen in Richtung der Schienen abzweigten. Vielleicht ist irgendwo dort ein Eingang zu einer nahliegenden Bahnstation, dachte ich mir, so weit entfernt sein kann es ja nicht, schließlich müssen all die Menschen, mit denen ich ausgestiegen bin auch irgendwohin verschwunden sein. Und so eilte ich einige dutzend Meter die Straße entlang und warf einen Blick in die kleinen Gässchen, die allerdings allesamt im Nichts endeten. Und weil ich hinter jeder Ecke doch noch den Eingang zu einem Bahnhof vermutete, an dem meine Linie abfahren würde, eilte ich weiter, Meter um Meter, Gasse um Gasse, immer durch den Regen, bis ich irgendwann aufgab. Bis zur nächsten Gasse schleppe ich mich noch, dann drehe ich um, dachte ich mir und blickte erwartungslos in die nächste Gasse, wo zu meiner Überraschung der Aufgang einer rostigen, alten Bahnbrücke zu sehen war, an der just in diesem Moment eine alte Dame nach oben stieg. Das muss es sei, fuhr es mir durch den Kopf, an einer Bahnbrücke bin ich angekommen, zu einer Bahnbrücke muss ich finden, um wieder abzufahren. Also lief ich durch die Gasse und blickte an der rostigen Brücke nach oben, doch dort war nichts weiter zu sehen als eine einsame Brücke irgendwo im Nichts, die über die Gleise führte. Nein, auf dieser Seite der Gleise ist kein weiterer Bahnhof, sagte ich mir, vielleicht aber wenigstens auf der anderen Seite. Also entschloss ich mich die Brücke auf meiner Seite nach oben zu laufen, die Gleise zu überqueren und auf der anderen Seite zurück zu laufen. Vielleicht fände ich ja dort einen Eingang zum Bahnhof. Ich eilte die Treppe nach oben, vorbei an der alten Dame und kam auf der anderen Seite in einem Wohngebiet an, in der nun wirklich niemand mehr unterwegs war. Es gab nicht einmal mehr einen Weg, der parallel zu den Gleisen verlief, weshalb ich Zickzack durch die ewig gleich aussehenden Straßen lief und versuchte in der Nähe der Bahnschienen zu bleiben. Das führte dazu, dass ich mehr als einmal in Sackgassen lief, umdrehen musste und mir in immer größer werdenden Bögen meinen Weg durch das Straßenlabyrinth suchen musste. Und als ich schon dachte, dass ich auch hier ganz sicher keinen Bahnhof finden würde, kam ich plötzlich an den Gleisen heraus und stand mitten vor einem Bahnhof, ja, einem Bahnhof, der wohl vor fünfzig Jahren stillgelegt worden war, denn abgesehen von einem halbverfallenen Häuschen und einem winzigen überwucherten Bahnsteig, der viel zu weit von den befahrenen Gleisen entfernt war, gab es dort nichts. Also drehte ich einmal mehr um und schwor mir an der nächsten Brücke wieder die Seite zu wechseln, da es offensichtlich sinnlos war in dieser Umgebung nach dem Eingang zu meiner Zuglinie zu suchen. Irgendwann kam ich dann doch noch zu einer Übersichtskarte, diesmal auch kein Infobrett, und hoffte meinen Bahnhof zu finden. Doch die Karte war so klein, dass nicht einmal mein Ausgangsbahnhof darauf verzeichnet war, sondern nur die angrenzenden Straßen, was mir rein gar nicht weiterhalf. Und so lief ich querfeldein in die Richtung, in der sich die Gleise befinden mussten, um irgendwie einen Bahnübergang zu finden. Ich war vollkommen nass, schließlich regnete es noch immer. In Gedanken malte ich mir bereits aus, wie mein Freund alleine irgendwo am Flughafen in Narita stand und sich wunderte, warum ich nicht ankam. Warum musste ich ausgerechnet heute solch ein Pech haben, wo ich doch sonst nie ein Problem an unbekannten Bahnhöfe in Japan hatte? Innerlich verfluchte ich den hässlichen und unübersichtlichen Bahnhof von Nippori, bis ich irgendwann feststellte, dass ich in Gedanken verloren mitten auf einen Friedhof gelaufen war. Und das war der Moment, in dem ich innerlich einfach nur noch lachte. Ich lachte darüber wie absurd diese Situation eigentlich war, für wie unglaubhaft man meine Geschichte halten müsste, wenn ich sie irgendjemandem erzählen würde, wie lächerlich es wohl für meinen Freund klingen musste, wenn ich ihm als Entschuldigung für meine Verspätung sagen würde, dass ich mich irgendwo abseits des Bahnhofes von Nippori in einem Wohngebiet verirrt hatte. Und als ich langsam über den Friedhof lief und in mich hinein lachte, kam ein junger Japaner im Anzug mit verheulten Augen auf mich zugelaufen und hielt mir seinen Regenschirm entgegen. "Willst du unter meinen Schirm?". Für einen Moment dachte ich ernsthaft darüber nach mich einfach neben den Japaner unter den Schirm zu stellen und von meiner Misere zu erzählen und anschließend zu lauschen, warum er im Regen heulend über den Friedhof schlich. In jedem Hollywood-Film hätte der Protagonist das sicherlich gemacht und am Ende der Unterhaltung mit dem Unbekannten eine wichtige Lektion gelernt, doch ich wußte, dass ich trotz der Absurdität der Situation möglichst schnell zum Flughafen musste. Und so brach ich aus dem Skript eines typischen Hollywood-Filmes aus, lehnte das Angebot des weinenden, jungen Japaners ab und lies ihn alleine unter seinem Regenschirm auf dem Friedhof von Nippori stehen, ohne je mehr über ihn zu erfahren. Nass eilte ich durch die Straßen, bis ich schließlich endlich den Zugang zu einer Überführung sah. Erleichtert rannte ich darauf zu, um dann schockiert festzustellen, dass ich genau dort angekommen war, wo ich vor knapp zwanzig Minuten im Regen gestartet war: Auf der heruntergekommenen Bahnbrücke vor der Ticketschranke.
Resigniert lief ich wieder zur Ticketschranke. Ich war entschlossen nun ein Ticket zu kaufen und einfach so lange über den Bahnhof zu laufen, bis ich einen Bahnangestellten finden würde, den ich nach meiner Bahnlinie fragen könnte. Ein letztes Mal drehte ich mich vor der Ticketschranke um, als mir etwas ins Auge fiel: Etwa fünfzig Meter von mir entfernt, stand auf der Wand einer anderen Überführung in verbleichten und abgewaschenen Schriftzeichen der Name meiner Linie. Warum? Warum schrieb man solch eine Information weder irgendwo innerhalb der Bahnstation auf ein Schild, noch auf ein Informationsschild auf jener Brücke auf der man die Bahnstation verlassen hatte? Wer hält denn nach dem Verlassen eines Bahnhofs nach weit entfernten, halb-verblichenen Schriftzügen irgendwo auf Mauerwänden Ausschau? Wäre die Situation nicht so absurd gewesen, hätte ich mich vermutlich sehr über diese Tatsache aufgeregt, aber in meiner momentanen Verfassung quittierte ich es schon nur noch mit einem müden Kopfschütteln. Und so lief ich von neuem die Treppe nach unten, bog aber diesmal nicht rechts in die heruntergekommene Einkaufsstraße, sondern nach links zu den nichtssagenden, unbeschrifteten Betonwänden ab. Und tatsächlich, irgendwo dort befand sich im Nichts eine Rolltreppe nach oben, die mitten in jene Bahnstation führte, in der meine Linie abfuhr. Und endlich konnte ich mir das richtige Ticket kaufen, durch den erstaunlich modernen Bahnhof laufen und mit einer anderen Rolltreppe auf mein Gleis herunterfahren, das im Gegensatz zur restliche Bahnstation vollkommen heruntergekommen aussah. Und was ist nun das haarsträubenste an meinem Aufenthalt in Nippori, dem hässlichsten und unübersichtlichsten Bahnhof, den ich jemals in Japan gesehen habe? Es ist die simple Tatsache, dass ich einfach nur auf dem Nachbargleis stand, von jenem, auf dem ich angekommen war.
Die Fahrt mit dem Zug war dann sehr angenehm. Die weiche Sitzbank und das stetige warme Gebläse, das unter den Bank meine Hosenbeine wieder trocken pustete, taten ihr Möglichstes, um mich schläfrig werden zu lassen. Aufgeregt war ich nicht, obwohl ein Blick auf die Uhr verriet, dass mein Freund bereits gelandet war und ich noch über eine Stunde Fahrt vor mir hatte, bevor ich überhaupt erst am Flughafen ankommen würde. Ändern konnte ich Moment ohnehin nichts und so ließ ich mich von der warmen Luft einlullen und schaute mir durch die Fensterscheibe die verregnete Landschaft an, während alle paar Minuten die nächste Haltestelle durchgesagt wurde. Ein Blick, den ich am Vortag auf eine Landkarte von Tokyo geworfen hatte, hatte mich überrascht feststellen lassen, dass der internationale Flughafen von Narita sehr viel weiter entfernt war, als ich immer angenommen hatte. Nicht nur, dass er in einer benachbarten Präfektur war, nein, er befand sich gänzlich abseits von allem. Von größeren Städten, ja, vom gesamten Verkehrsnetz Tokyos. Irgendwo mitten auf einer Landzunge lag der Flughafen und bildete den Endpunkt zweier Bahnlinien, die wahrscheinlich eigens für den Flughafen dorthin führten und ansonsten keine Funktion hatten. Mit einer von ihnen fuhr ich und lauschte den japanischen Durchsagen. Erst kurz vor dem Flughafen, nach etwa einer Stunde Fahrt, kam dann überraschend auch eine englische Durchsage, da zwei Stationen vor dem internationalen Flughafen Narita die Haltestelle für die Stadt Narita lag. Und da man wohl vermeiden wollte, dass Unwissende, insbesondere Ausländer, bereits hier ausstiegen, wurde der Name des Bahnhofs mit der Anmerkung, dass Reisende zum Flughafen bitte noch im Zug bleiben sollten, mehrmals wiederholt. Ehrlich gesagt fragte ich mich, wer wohl so töricht sein würde die Stadt Narita mit dem Flughafen zu verwechseln, denn ein einziger Blick aus dem Fenster zeigte auf der einen Seite der Gleise eine große Weide, auf der anderen Seite ein paar heruntergekommene Häuser. Also nichts, was auch nur im Entferntesten an einen Flughafen erinnern würde. Wie gesagt, abgesehen vom Flughafen gab es rein gar nichts in dieser Gegend. Dafür war es zur Abwechslung einmal ungewohnt aus dem Fenster zu blicken und weite Felder und Wälder zu sehen. Wann hatte ich dies das letzte Mal erblickt? Es muss am Wandertag gewesen sein. Seltsamerweise hatte ich diesen Anblick gar nicht vermisst, in so vielen Parks war ich gewesen, so viele Flusspromenaden war ich entlang gewandert, dabei war ich immer der Auffassung gewesen, dass ich kein Großstadtkind sei und sicherlich die Nähe zur Natur vermissen würde. In diesem Moment wurde mir das erste Mal richtig bewusst, dass ich schon knapp sechs Monate in einer Gegend wohnte, in der die Häuser bis zum Horizont reichten und man eigentlich gar keine natürlichen Flächen hatte. Nichtsdestotrotz hatte ich das Gefühl gehabt in den letzten sechs Monaten so viel mehr Natur zu erleben, als in Marburg. Vielleicht lag es an den zahlreichen Parks und Gärten, vielleicht auch an den kleinen Grünflächen, die vor fast jedem Haus in Japan zu finden sind. In Deutschland wirken Großstadtgebiete vielleicht städtischer und trister, weil viele Häuser direkt mit der Hausseite an die Straße grenzen und kaum jemand Blumentöpfe vor den Hauseingang stellt.
An der letzten Haltestelle, Flughafen Narita, stieg ich mit den anderen Passagieren aus und eilte mit der Masse in Richtung des Flughafengebäudes. Bevor man es jedoch betreten konnte, musste man durch eine Passkontrolle, was mir für einen Moment das Herz in die Hose rutschen ließ, doch glücklicherweise fiel mir ein, dass ich vom Vortag noch meinen Reisepass im Gepäck hatte. Ein Glück, dass ich sicherheitshalber so viele Dinge für die Überweisung bei der Bank mitgenommen hatte. Also kam ich problemlos durch die Passkontrolle und stand einen Moment in einer großen Halle, wo ich mich dank der übersichtlichen Tafeln aber schnell zurechtfand. Ich eilte in die Ankunftshalle des Nordflügels, wo ich meinen Freund vermutete und war nach meiner Ankunft erst einmal unschlüssig wo ich nun hingehen sollte. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Ankunftshalle so groß sein würde und außer seiner Flugnummer wußte ich auch nichts. Da ich nun genau eine Stunde zu spät war, wurde sein Flug auch nicht mehr auf den Informationstafeln angezeigt und so lief ich einfach ein wenig orientierungslos umher. Und als ich schon begann darüber nachzugrübeln, was ich wohl machen würde, wenn er gar nicht mehr da wäre, stand er plötzlich vor mir: Dominic.
Ich kann nicht leugnen, dass mir unsere erste Begegnung in Japan ziemlich surreal vorkam. Ich hatte schon einmal davon geschrieben, dass es für mich zwei verschiedenen Welten gibt, eine hier in Japan, die andere in Deutschland ("Zwei verschiedene Welten"). Aber plötzlich war da jemand, der einfach so in meine Welt eindrang, der plötzlich all das, was ich sonst nur beschrieb, mit eigenen Augen sah. Und plötzlich waren da nicht mehr nur Personen auf der anderen Seite des Telefons, vor dem Bildschirm oder mit meinen Artikeln in der Hand, plötzlich war da eine Person, die real an allem teilhaben konnte. Fremd geworden war mir Dominic nicht, nein, ich hatte eher das Gefühl, dass ich genau dort weitermachen würde, wo ich vor einem halben Jahr aufgehört hatte. Geradezu so, als wäre ich gerade mit feuchten Augen von meiner Familie am Frankfurter Flughafen getrennt worden, nach Japan geflogen und hätte dort am Flughafen von Narita Dominic getroffen. Ein halbes Jahr liegt nun bereits dazwischen?
Die Rückfahrt vom Flughafen verlief ereignislos, zu viel hatten wir uns zu berichten, vor allem über den Flug. Als ich Dominic nach seinem ersten Eindruck fragte, meinte er, dass hier doch sehr viel mit Englisch zu verstehen sei, obwohl ich immer sagen würde, dass man ohne Japanisch kaum irgendwo durchkommen würde, woraufhin ich ihm erklärte, dass der internationale Flughafen selbstverständlich auch für Ausländer verständlich sei, dass aber dieser Luxus immer rarer werden würde, um so weiter man sich von dort entfernen würde. Und wurden anfangs die Durchsagen noch auf Englisch durchgesagt, so schien es als wollte der Zug meine Aussage unterstreichen, als bald nur noch Japanisch durch die Lautsprecher drang. Eine Dreiviertelstunde hatte Dominic in der Ankunftshalle auf mich warten müssen und ein wenig peinlich berührt erzählte ich eine Sparvariante von meinem Dilemma in Nippori, die glücklicherweise nicht ganz so unglaubwürdig klang, wie ich es mir ausgemalt hatte, nun ja, das lag möglicherweise daran, dass ich auch nicht den Friedhof und die Wohngebiete erwähnte. Von dem Chaos in Nippori konnte sich Dominic übrigens gleich selbst überzeugen, da wir dort wieder umsteigen musste, diesmal allerdings recht unspektakulär, weil ich nun bereits wußte, dass wir einfach nur auf das Nachbargleis mussten.
Mittlerweile war ich in Japan schon so oft von einer Bahn in eine andere umgestiegen, dass ich viele Handlungen bereits automatisch vornehme, schließlich ist es immer das Gleiche: Man kommt an, schiebt am Ausgang sein Ticket durch die Ticketschranke, kauft sich ein Neues und geht durch die Ticketschranke einer anderen Bahngesellschaft oder Linie zum nächsten Zug. Überall in Japan funktioniert das so. Überall? Nein, der Bahnhof von Nippori wäre nicht der schlimmste Bahnhof im Raum Tokyo, wenn es nicht ausgerechnet hier anders laufen würde. Unwissend kam ich an und zückte mein Ticket, Dominic ebenso, schließlich hatte ich ihm ausführlich erklärt wie wir zum Wohnheim von Soka kommen würden und was er dazu an den Bahnhöfen auf dem Weg machen müsste. Zeitgleich steckten wir unser Ticket in die Ticketschranken und zeitgleich schlossen sich unter lautem Piepsen unsere Durchgänge. Verwirrt stand ich da und verstand erst gar nicht, was nun eigentlich passiert war, bis ein Bahnhofsangestellter herbeigeeilt kam und mich fragte wohin ich unterwegs sei. Richtung Kita-Senju, antwortete ich verwirrt, woraufhin der Bahnhofsangestellte mich anwies an Ticketcounter ein gültiges Ticket zu kaufen. Ein Ticket kaufen? Ich hatte noch nicht einmal mein altes Ticket abgegeben und sollte bereits ein neues Ticket kaufen? Ich befolgte die Anweisungen des Bahnhofsangestellten und lief mit Dominic und Gepäck im Schlepptau zum Ticketschalter, wo auf Japanisch bereits geschrieben stand, dass man zum Umsteigen in das benachbarte Schienennetz an diesen Schaltern sein altes Ticket abgeben und gegen Entrichtung des entsprechenden Preises sein neues Ticket erhalten würde. An sich keine schlechte Sache, aber warum musste es dies nur an diesem Bahnhof geben? Und warum war es nirgends ausgezeichnet, wo man es vorher hätte bemerken können? Vielleicht hätte ich mir die Schuld an dem kleinen Malheur an der Ticketschranke gegeben, weil ich aufmerksamer hätte sein müssen, hätte ich in der Zeit, in der ich am Schalter anstand, nicht beobachtet, wie jeder vierte Japaner genau wie Dominic und ich in den Schranken hängen blieb und vom Bahnhofsangestellten zum Ticketschalter geführt wurde. Es war also keine Nachlässigkeit meinerseits gewesen, sondern ein offensichtliches Problem des Bahnhofs. Ich schüttelte den Kopf und hatte einen Grund mehr gefunden den Bahnhof von Nippori nicht zu mögen. Nie wieder über Nippori, dachte ich mir, als ich kurz darauf am Bahnsteig wartete und mir die heruntergekommene Gegend ansah. Die Weiterfahrt verlief problemlos und in Kita-Senju konnte ich Dominic dann noch einmal zeigen, wie man normalerweise von einer Bahn in die andere umstieg.
Als wir in Soka ankamen, regnete es noch immer in Strömen. Da ich keinen Regenschirm dabei hatte, liefen wir die knapp zehn Minuten vom Bahnhof zum Wohnheim durch den Regen, dabei zog ich eilig den Koffer hinter mir her, der in der Hast ständig gegen meine Ferse fuhr und mehrmals beinahe umkippte und in eine der zahlreichen Pfützen fiel. So waren die letzten Minuten bis zum Wohnheim ein Kampf und ich bedauerte ein wenig, dass Dominic Japan an seinem ersten Tag nicht von einer schöneren Seite erleben konnte. Und so kamen wir schließlich klitschnass im Wohnheim an. Die Wohnung war noch genauso, wie ich sie am Morgen verlassen hatte. Leider viel chaotischer als geplant, weil ich keine Zeit mehr zum Aufräumen gehabt hatte, aber das störte in dem Moment niemanden. Und nachdem sich jeder erst einmal geduscht und etwas Frisches angezogen hatte, packten wir erst Dominics Koffer aus und verwandelten mein Zimmer für die nächsten drei Wochen in unser Zimmer. Und während Dominic noch mit seiner Wäsche beschäftigt war und aufgeregt von seinem Flug berichtete, kochte ich mir in der Küche ein Abendessen: Die erste richtige Mahlzeit, die ich an diesem Tag zu mir nahm. Viel passierte danach nicht mehr. Es war bereits Nachmittag und seinen ersten Abend verbrachte Dominic damit wach zu bleiben, um möglichst schnell in den hiesigen Tagesrhythmus zu kommen. Bis Sieben Uhr hielt er durch, danach schlief er unruhig ein. Mehrmals wurde er danach noch wach, zuletzt gegen Mitternacht, danach konnten wir endlich beide schlafen, während draußen noch immer Regen vom Himmel fiel.

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