Samstag, 30. Mai 2009

Golden Week

Eine Goldene Woche? Das hört sich schon einmal sehr gut an. Und tatsächlich ist die golden week in Japan ein überaus freudiges Ereignis, denn es ist eine Woche, die von der Regierung mit so vielen Feiertagen zugepflastert worden ist, dass es praktisch eine ganze Woche Ferien für jedermann ist. Auch ich als Student wurde so mitten im Semester für fast eine ganze Woche vom Unterricht befreit und hatte mir darum bereits im Vorhinein in den buntesten Farben ausgemalt, wie ich diese Zeit verbringen wollte, wo ich plante hinzureisen und was ich mir ansehen wollte. Doch als schließlich der heiß erwartete freie Montag kam, fiel meine Planung im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser, denn es regnete. Und das die gesamte golden week über.
Am Montag wollte ich eigentlich mit Lee und einigen Bekannten, die sie aus den sonntäglichen Gottesdiensten kannte, eine Tagesausflug unternehmen. Ein wenig Bauchschmerzen hatte ich im Vorhinein, wusste ich nach meinen Erfahrungen in Kyoto nur zu gut, in welch einem Desaster so etwas enden konnte. Der Ausflug würde ordentlich kosten und es störte mich bereits, dass alle erst recht spät losfahren wollten. Bei geschätzten zwei Stunden Zugfahrt und kurzen Öffnungszeiten der Sehenswürdigkeiten, sah ich bereits ein zweites Kyoto auf mich zukommen und überlegte angesichts meines recht bescheidenen Budget schon den gesamten Sonntagabend, ob es wirklich ein kluger Zug wäre sich der Gruppe anzuschließen. Letztlich wurde mir die Entscheidung fast abgenommen, als ich in der Wettervorhersage von rund Achtzig Prozent Regenwahrscheinlichkeit hörte, denn Geld und Zeit zu investieren, um zu einem Ort zu fahren, an dem es voraussichtlich den ganzen Tag regnen würde, schrie geradezu nach einem Rückzieher. Und so teilte ich Lee rechtzeitig von meiner Absage mit und verbrachte den Montag in meinem Zimmer, während sich draußen der Himmel im Laufe des Vormittags immer weiter zuzog, bis es schließlich regnete. Ehrlich gesagt genoss ich den Tag dennoch: Ich las, kochte ohne Zeitdruck, hörte Musik, spielte an meinem Laptop und telefonierte mit meinen Freunden und meiner Familie.
Doch am Dienstag regnete es immer noch. Fast den ganzen Tag. Und wenn es einmal nicht regnete, war der Himmel so bewölkt und düster, dass man jeden Moment einen Wolkenbruch erwartete, der dann auch nie lange auf sich warten ließ. Das gleiche Bild leider auch am Mittwoch und zu meinem Bedauern auch am Donnerstag. Und dann war meine Ferienwoche auch bereits vorbei und ich hatte die Zeit mit nichts anderem verbracht, als mit dem Hocken in der Wohnung. Wenigstens hatte ich so mehr als genug Zeit mich mit meinem Mitbewohner Yosuke zu unterhalten, der ähnlich geknickt in seinem Zimmer saß und den Himmel anstarrte. Und so verlief meine so sehnlich herbeigewünschte golden week im Sand und ich war mit nichts wirklich zu Rande gekommen. Der Regen hatte nicht nur meine Planungen mit sich gerissen, sondern auch gleich noch meine Motivation und meinen Elan mit sich hinfortgespült, was dazu führte, dass ich mich weder aufraffen konnte, um meine anstehende Präsentation vorzubereiten, noch um für den Test in der kommende Woche zu lernen. Meine Stimmung war auf dem Tiefpunkt und den Großteil meiner Zeit lag ich tatenlos auf dem Bett und döste vor mich hin. Als ich am Donnerstagabend dann meinen Rucksack für den morgigen Unitag packte, wurde mir bewusst, dass ich fast eine gesamte Woche tatenlos verschwendet hatte und das machte mich nur noch wütender auf mich selbst. Und zu allem Überfluss sollte ab Freitag, dem Tag an dem ich wieder Unterricht hatte, auch wieder die Sonne scheinen.


Bild1: Ein Blick von meinem Balkon. So habe ich mir die golden week nicht vorgestellt.


Bild2: Wenn es einmal nicht regnete, dann sah der Himmel stets wie auf diesem Bild aus. Ich glaube es ist verständlich, warum ich davon absah nach draußen zu gehen.


Bild3: Doch immerhin bot mir die Zeit in der Wohnung jede Menge Spielraum für das liebevolle Gestalten meiner täglichen Mahlzeiten. Hier habe ich mir beispielsweise ein donburi aus einer Schüssel voller Reis, Salat mit Soße und gebratenen Hähnchenstückchen zubereitet.


Bild4: Und hier noch einmal ein ähnliches donburi, dieses Mal allerdings mit einer Thunfisch-Zwiebel-Mayonnaise-Paste, statt den Hähnchenstückchen. Schließlich hatte ich ja ausreichend Zeit mir kreative Gerichte zu basteln.

Afrika-Rhythmus

Als ich mit Lee den Raum betrat, stand bereits ein Mann hinter dem Rednerpult und wetterte gegen irgendetwas. Für einen Moment dachte ich, dass der Gottesdienst bereits angefangen hätte und wunderte mich, dass Lee so seelenruhig mit mir und einigen anderen am Eingang der Kapelle inmitten der vielen Menschen gestanden und geredet hatte. Doch so richtig gestartet zu haben schien der Gottesdienst dann aber doch noch nicht, denn auch nachdem Lee, eine U.S.-amerikanische Bekannte von ihr und ich Platz genommen hatten, tröpfelten nach und nach immer noch Besucher in den kleinen Saal. Größtenteils waren Schwarze afrikanischer Abstammung anwesend, man sah aber auch einige Japaner. Letztlich war es ja auch ein englischsprachiger Gottesdienst. Wann genau der Gottesdienst letztlich losging, kann ich gar nicht genau sagen, es läuteten weder Glocken, noch gab es jemanden der sagte: Der Gottesdienst beginnt jetzt. Irgendwann war man einfach mittendrin: Der Pastor stand hinter dem Rednerpult und noch bevor er irgendetwas sagen konnte begann eine Frau aus der ersten Reihe einen Gospel anzustimmen und klatschend durch die Reihen zu tanzen. Ein Großteil der Anwesenden stimmte nach und nach ein und irgendwann hörte man überall im Raum Gläubige singen, klatschen, rufen und sah sie im Takt dazu die Hüften schwingend auf ihrem Platz tanzen. Ich stand ein wenig deplatziert mitten im Raum, weil ich das Lied nicht kannte und versuchte nicht aufzufallen, indem ich ein wenig auf meinem Platz im Rhythmus wippte, klatschte und ein paar Töne murmelte. Insgesamt kam ich mir aber doch ein wenig komisch vor inmitten all der Gläubigen, die so unbeschwert und zügellos ihren Glauben auslebten, und fragte mich, warum ich überhaupt gekommen war.
Es ist schon eine ganze Weile her, dass Lee mir von dem allwöchentlichen, afrikanischen Gottesdiensten erzählt hatte ("Lebensfrohe Menschen"), und ich hatte schon damals eingewilligt sie irgendwann einmal in einen dieser englischsprachigen Gottesdienste zu begleiten. In der Weihnachtszeit war ich dann zwar mit ihr in einem japanischen Jugendgottesdienst gegangen ("Gottesdienst auf Japanisch"), doch in den versprochenen englischsprachigen Gottesdienst voller lebensfroher Afrikaner, war ich ihr bisher immer noch nicht gefolgt. Zumindest nicht bis zu diesem Sonntag, als ich nichts zu tun hatte und mich kurzerhand dazu entschied Lee zu begleiten und mir selbst ein Bild von einem afrikanisch angehauchten Gottesdienst zu machen. Und so holte ich Lee am Mittag vor ihrer Wohnung ab und gemeinsam liefen wir zu jener Kapelle, an der auch der Weihnachtsgottesdienst für Jugendliche abgehalten worden war. Die Straße vor dem Gebäude war gefüllt mit spielenden Kindern und schwatzenden Frauen und ich musste unwillkürlich an Dokumentationen aus dem Fernsehen denken, in denen Kamerateams durch Dörfer irgendwo in Afrika fuhren und kleine Gemeinden filmten, in denen die lebensfrohen Bewohner ihre Zeit gesellig auf den Straßen verbrachten, statt alleine in ihren Häusern zu sitzen. Hier kam man nicht nur zusammen, um an einem Gottesdienst teilzunehmen, hier trafen sich die Leute, um gemeinsam Zeit zu verbringen, Neuigkeiten auszutauschen und Spass zu haben. Und so herrschte an diesem Sonntagnachmittag eine sehr lebendige Atmosphäre auf der sonnenbeschienenen Straße vor der Kapelle, auf der auch Lee, ihre Bekannte aus den U.S.A. und ich ein wenig abseits standen. Doch trotz der guten Laune und Geselligkeit, kam ich mir ein wenig deplatziert vor: Ich gehörte weder der Gemeinde an, noch kannte ich irgendjemanden. Genau genommen war ich nicht einmal sehr gläubig und besuchte den Gottesdienst nicht aus religiöser Überzeugung, sondern aus Interesse und Neugierde.
Pastor Adodo Bubu lässt sich schwer mit einem Pfarrer, wie man ihn aus Deutschland kennt, vergleichen. Auf mich wirkte er regelrecht einschüchternd, als er hinter dem Rednerpult stand, wild gestikulierte und die Gemeinde anschrie. Aus Deutschland war ich es gewohnt, dass man möglichst ruhig der Predigt lauschte und bereits das Auspacken eines Hustenbonbons die boshaften Blicke der Gemeinde auf sich zog. Dieser Gottesdienst aber war anders: Pastor Adodo Bubu erwartete rege Teilnahme von jedem im Raum und unterbrach seine Predigt sogar für einen Moment, um seinen Unmut an der Gemeinde auszulassen: "Wenn ich in die Gesichter hier blicke sehe ich Ausdruckslosigkeit. Kaum Willenskraft und Enthusiasmus. So will ich keine Predigt halten, das macht keinen Spass. Also macht mit! Wenn ich 'Amen' sage, dann will ich das zehnmal so laut von euch zurückbekommen. Ist das klar!? AMEN!". Die Zuhörer saßen ein wenig beklemmt auf ihren Plätzen und ein leises "Amen.", kam als Antwort. Pastor Adodo Budu schien jeden Moment zu explodieren, als er die Gemeinde anfauchte: "Was war das!? Ich habe gesagt ich will es laut und lebensfroh hören! AMEN!". Ein verhältnismäßig lautes "Amen!" erklang als Echo, doch es war immer noch nicht zu Pastor Adodo Bubus Zufriedenheit und so wetterte er noch einmal gegen die Zuhörerschaft und schrie ihr von Neuem ein "AMEN!" entgegen, auf das dieses Mal auch in ohrenbetäubender Lautstärke geantwortet wurde. Damit war er dann wohl vorerst zufrieden und setzte seine Predigt vor.
Worum es in der Predigt ging, verstand ich allerdings nicht wirklich. Das lag einerseits daran, dass er nur ein gebrochenes Englisch sprach, von dem ich nicht alles verstand, andererseits daran, dass ich seiner Logik nicht folgen könnte. Nachdem er einige Verse aus der Bibel von einzelnen Gemeindemitgliedern vorlesen lies, verlor ich den Faden irgendwo bei einer Geschichte von jemandem, der auf einer Insel strandete, als Heiliger verehrt wurde, an einem Lagerfeuer saß und dann von einer Schlange gebissen wurde, aber auch irgendwie nicht. Letztlich fasste Pastor Adodo Bubu die Kernaussage aber in einem kurzen prägnanten Satz zusammen: "Schekkasaweipaa.". Es herrschte Stille und die Anwesenden nickten zustimmend, während ich versucht zu verstehen, welche wichtige Lektion mir eben mitgeteilt wurde. "Schekkasaweipaa.", wiederholte er und schaute ernst in die Runde. "Wir dürfen uns nicht von ihr kontrollieren lassen. Versteht ihr das? Sprecht mir nach! SCHEKKASAWEIPAA!". Wieder einmal brüllte er die Gemeinde an und mehr aus Angst als Begeisterung spielte ich Echo. So ging es einige Male hin und her: Pastor Adodo Bubu schrie der Gemeinde den Satz entgegen und alle wiederholten ihn angemessen laut. Und irgendwann verstand ich dann auch endlich, was er sagte: 'Shake off the viper', also 'Schüttle die Viper von dir ab' als Anspielung auf die Verse, über die er gepredigt hatte. Wie er aber zu dem Schluss kam, dass dies die wichtigste Aussage der Bibelstelle war, die wir gelesen hatten, konnte ich mir nicht erklären.
Pastor Adodo Bubu hielt sich nicht damit zurück die Gemeinde immer wieder an seinem eigenen Schicksal teilhaben zu lassen. Und so erzählte er immer wieder von wundersamen Erlebnissen in seinem Leben, die seinen Glauben gefestigt hatten und ihn von der Existenz Gottes überzeugt hatten. Zum Beispiel als er als Jugendlicher in Afrika beim Spielen von einer giftigen Schlange gebissen worden war. Obwohl er innerhalb kürzester Zeit gelähmt hätte sein müssen, fand er die Kraft die Schlange zu packen und sie von seiner Ferse abzuschütteln. Eine Kraft, die ihm laut eigener Aussage Gott gegeben habe. Alle saßen da und lauschten aufmerksam, während ich dasaß und mir ein wenig schuldig vorkam, weil ich nicht wirklich überzeugt war von seiner Geschichte. Dennoch murmelte ich ein "Shake off the viper" mit den anderen, als er seinen Lieblingssatz passend zu seiner Anekdote wieder ausgrub. Eine andere Anekdote war jene, als er im Busch von Afrika unterwegs gewesen und von Rebellen entdeckt worden war, die ihn ohne Vorwarnung niederschossen und zum Verbluten liegen ließen. Aber sein Glaube ließ ihn aufstehen und davonlaufen. Vielleicht wäre ich beeindruckter von seinen Erzählungen gewesen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass er sich selbst als lebendes Wunder Gottes sah. Doch so hatte ich ein wenig das Gefühl, dass jemand versucht rationale Erklärungen für etwas vollkommen irrationales wie Glauben zu finden und saß nur da und lauschte kritisch. Immer wieder musste ich an eine meiner Vorlesungen zur Religions- und Geistesgeschichte Japans denken, in der unsere Professorin über Religionsstifter berichtet hatte, denen allen gemein war, dass sie angeblich unter dem Ärmsten der Ärmsten aufgewachsen waren und Begegnungen mit Gottheiten oder Göttern hatten, die sie in einem Moment der schlimmsten Not besuchten, sie heilten, den Lebenswillen zurückgaben und dazu brachten ihre Lehrer zu verbreiten. Vielleicht war es diese nüchterne, wissenschaftliche Betrachtung von Glauben und die Entlarvung einiger dieser Religionsstifter als Lügner der Grund weshalb ich dem Pastor keine Geschichte überzeugt abkaufte.
Stattdessen faszinierte mich etwas ganz anderes, nämlich die Schilderungen des Pastors von seiner Zeit in Afrika: Die fremde Kultur, das gänzlich andere Lebensgefühl, die für mich so ungewohnte Ordnungslosigkeit und die Allgegenwärtigkeit des Todes. Es war ein seltsames Gefühl darüber nachzudenken wegen welcher Kleinigkeiten und Belanglosigkeiten man sich hierzulande aufregt und beschwert, während auf der anderen Seite der Welt hinter jeder Ecke der Tod wartet. Sei es in Form einer giftigen Schlange oder eines bewaffneten Rebellen. Und so kritisch ich Glaube und Religiosität auch gegenüberstehe, ein wenig konnte ich verstehen, warum man ausgerechnet in solchen Lebensverhältnissen einen starken Glaube und eine ungeheure Positivität entwickelt: Um all den Gefahren zu trotzen und überhaupt ein glückliches Leben führen zu können. Vielleicht hat unsereiner bereits verlernt positiv in die Zukunft zu blicken, weil wir bereits so sehr in Wohlstand und Glück leben und es uns so gut geht, dass wir es nicht mehr zu schätzen wissen und uns lieber über Kleinigkeiten und Nichtigkeiten aufregen. Ich denke jeder weiß um diese Begebenheiten in einigen Gegenden in Afrika, ich wußte es vorher auch, aber ich habe es höchstens mit einem distanzierten Beileid und Mitgefühl hingenommen. Doch es fühlt sich so viel ernster und bedrohlicher an, wenn man einmal aus erster Hand diese Geschichten erzählt bekommt und Menschen sieht, die all dies miterlebt haben, und nicht nur ein paar flimmernde Bilder im Fernseher oder ein paar Fotos in einer Zeitschrift betrachtet.
Nach dem Gottesdienst verließ ich mit Lee die Kapelle und gemeinsam liefen wir noch eine Weile durch Soka. Ich hatte erst einmal genug von Gottesdiensten und Predigen und schlug Lees Angebot für den anschließenden Jugendgottesdienst dankbar ab. Auf die Frage wie ich den Gottesdienst von Adodo Bubu fand, musste ich eine Weile überlegen, ehe ich ganz ehrlich antwortete: "Faszinierend.". Es war, als wäre ich für die letzten Stunden in eine fremde Kultur eingetaucht. Nicht der Gottesdienst an sich hatte mich fasziniert, es waren die Menschen und ihre Erzählungen, die mich zum Nachdenken über Lebensgefühl, Optimismus und fremde Kulturen gebracht hatten. Aber ich bin mir sicher, dass jeder Besucher etwas anderes gefunden hätte: Der Eine einen tiefen Glauben, der Nächste das Gefühl der Zugehörigkeit, andere vielleicht einfach nur oberflächliche Belustigung. Und so ging ich in Gedanken verloren zurück zum Wohnheim, schaute in meinem Kopf ein wenig über den Tellerrand unserer westlichen Kulturen und ließ die Erlebnisse des Tages auf mich einwirken. In meinem Kopf hallte noch immer der Spruch "Shake off the viper" wider und der Gesang der afrikanischen Frauen, die voller Lebensfreude ihren Glauben auslebten, begleitet mich bis in meine Wohnung.


Bild1: Der Raum, in dem die Gottesdienste abgehalten wird. Wie erwähnt, sieht man überwiegend dunkelhäutige Besucher im englischen Gottesdienst.


Bild2: Man erahnt auf dem Bild etwas von der Lebensfreude und dem Enthusiasmus, mit dem die Teilnehmer des Gottesdienstes ihren Glauben ausleben.

Donnerstag, 28. Mai 2009

War die Mango das wert?

Es gibt einige Dinge, die ich hier in Japan vermisse und ganz oben auf dieser Liste findet man Früchte. Dabei wäre es nicht so, dass es in den hiesigen Supermärkten kein Angebot an Früchten gäbe. Genau genommen wird man mit einer bunten Palette an allen nur erdenklichen Früchten überschwemmt. Und sogar noch mehr. Schon manches Mal habe ich vor der Auslage gestanden und mit einem neugierigen Blick etwas betrachtet, das ich nur der Gruppe der Früchte zuordnen konnte, weil es umringt von Grapefruits, Kiwis und Melonen war. Doch sobald mein Blick auf das Preisschild fiel, blieb mir nichts anderes übrig als mit den Schultern zu zucken, noch einmal tief einzuatmen, den Geruch von frischen Erdbeeren und Orangen aufzunehmen und schließlich schweren Herzens zum Wühltisch mit den Bananen mit den Druckstellen zu gehen. Die bekommt man nämlich hinterhergeworfen. In einem Land, in dem man für eine Kiwi einen Euro, eine kleine Schale Erdbeeren fast drei Euro und eine Honigmelone fast acht Euro hinblättern muss, denkt man zweimal darüber nach, was man sich in den Einkaufskorb legt. Wer gerne Früchte isst, ist in Japan falsch, meinte auch Ayano, die selbst auch nur Bananen kauft, weil der Rest für den Otto-Normal-Verbraucher unerschwinglich ist. In der traditionellen, japanischen Küche finden Früchte keine große Beachtung, weil ursprünglich nicht sehr viele Früchte auf dem Inselstaat wuchsen. Und auch heute noch werden Früchte größtenteils importiert und gelten zwar nicht als Luxusgut, sind aber auch nicht für jedermann erschwinglich. "Hier verarmt man, wenn man einen Fruchtsalat essen möchte.", lachte Ayano und ließ sich von mir auf einen Fruchtsalat einladen, sollte sie irgendwann einmal nach Deutschland kommen. So ganz verzichten wollte ich dennoch nicht auf meinen Fruchtkonsum und leiste mir hin und wieder einmal einen herabgesetzten Beutel Zitrusfrüchte, Melonen, einen Apfel oder sogar irgendetwas unbekanntes Exotisches, wenn mich der Hunger überkam. Doch am Ende des Tages blieb mir meist nicht mehr als ein sehnsüchtiger Blick auf die saftigen Früchte, die mich von der Auslage aus anlachten.


Bild1: Hier habe ich mir eine jener Früchte gekauft, die ich vorher noch nie gesehen habe: "Biwas". Zum Größenvergleich habe ich meine Hand daneben gelegt. Geschmeckt hat die Biwa wie eine Mischung aus Pflaume und Kaki. Ich war ein wenig enttäuscht, dass im Inneren drei große Kerne waren und letztlich kaum Fruchtfleisch an den ohnehin nicht sehr großen Früchten zu finden war.


Heute, an meinem 232. Tag in Japan, kam ich beim Einkaufen dann auf eine ganz findige Idee, um doch meinen Fruchtbedarf zu stillen: Ich könnte einfach Fruchtkonserven kaufen. Das ist zwar kaum zu vergleichen mit einer frischen Frucht, aber doch besser als nichts. Und so kaufte ich mir eine Dose mit einem Fruchtmix und eine mit eingelegten Mangos. Im Wohnheim angekommen packte ich meine Konserven dann freudig aus, stellte sie vor mir auf den Boden, starrte eine Weile lang an und dann fiel mir ein, dass ich gar keinen Dosenöffner hatte. An so etwas Simples hatte ich gar nicht gedacht, als ich das Fruchtparadies in greifbarer Nähe geglaubt hatte. Und so lief ich zu Lee und borgte mir einen Dosenöffner. Zumindest war es das, wonach ich sie fragte. Was ich letztlich in die Hand gedrückt bekam, war ein metallisches Instrument, das irgendwo eine Klinge hatte. "Das soll ein Dosenöffner sein?", fragte ich argwöhnisch und blickte auf das metallische Instrument hinab. "Wie soll man das denn benutzen?". "Frag mich nicht.", erwiderte Lee und erhob schützend die Hände, um sich in jeglicher Weise von dem Werkzeug, das sie mir gegeben hatte, zu distanzieren. "Ich habe nur gesehen, dass Katharina damit einmal eine Dose aufgemacht hat. Also muss es ja ein Dosenöffner sein. In den U.S.A. benutzen wir so etwas nicht.". "In Deutschland auch nicht.", entgegnete ich lachend und drehte das Instrument in meiner Hand von einer Seite auf die andere. "Aber irgendwie wird es sicher funktionieren.". Und mit diesen Worten und der festen Überzeugung, dass ich die Dose wirklich öffnen können würde, verließ ich mit dem merkwürdigen Werkzeug Lees Wohnung und setzte mich in meinem Zimmer an die Konserve mit den Mango.


Bild2: Ein altmodischer Dosenöffner, den ich mir von Lee ausgeliehen hatte. Wirklich umgehen konnte ich damit allerdings nicht. 


Es war schon faszinierend: Nur eine dünnes Blech trennte mich von den Früchten und trotzdem kam ich nicht heran. Ich hatte zwar ein Werkzeug, das irgendwie zum Öffnen von Konserven gedacht war, aber wirklich Erfolg hatte ich damit nicht. Letztlich saß ich fast eine halbe Stunde lang an der Konserve mit den Mango und stach immer und immer wieder mit der Klinge in die Dose, bis ich schließlich in einer Pfütze aus Fruchtsaft auf dem Boden saß und vor mir eine verbeulte, scharfkantige, aber geöffnete Konserve stand. Triumphierend fischte ich mit den Fingern die glitschigen Mangostücke aus dem restlichen Fruchtsaft und schob sie mir mit Genugtuung in den Mund, dabei war es mir mittlerweile egal, dass sie gar nicht wirklich schmeckten. Danach schrubbte ich erst einmal den Boden, warf alles, was etwas von dem Fruchtsaft abbekommen hatte in die Wäsche und ging in die Dusche, um mich von dem klebrigen Gefühl an meinen Händen zu befreien. Und so hatte mich der Kampf um das bisschen, schwabbelige, aufgeweichte Fruchtfleisch letztlich über eine Stunde gekostet. Seufzend schüttelte ich den Kopf, als ich die leere, klebrige Konservendose sah, und fragte mich: War die Mango das wert?



Bild1: Die Konserve mit den eingelegten Mangostücke, die alles ins Rollen brachte. Als Andenken an meinen Kampf steht sie jetzt auf meinem Schreibtisch, natürlich ausgespült und nicht mehr klebrig.

Sonnenzeit

Schon einmal habe ich geschrieben, dass ich nicht sehr viel von den festgelegten Anfängen der Jahreszeiten halte ("Herbstanfang"), weil jeder für sich selbst entscheidet, ob er sich im Sommer, Frühling, Herbst oder Winter befindet. So hat beispielsweise heute für mich ganz individuell der Sommer begonnen.
Es begann bereits mit einem ungewohnt sonnigen Morgen. Mit T-Shirt und kurzer Hose lief ich durch die sonnengetränkten Straßen Sokas zur Uni und auch der anstehende Test konnte meine gute Laune nicht trüben. Motiviert löste ich eine Aufgabe nach der anderen und mogelte mich gemeinsam mit Nikki irgendwie durch den Konversationstest. Wirklich gut lief es nicht, aber ich nahm es mit einem Lachen: "Wir haben unser Bestes gegeben. Und lass uns lieber froh sein, dass wir den Test bald hinter uns haben, als Trübsal zu blasen.". Dem stimmte auch Nikki mit einem Strahlen zu und so setzten wir uns bis zum Unterrichtsende an unseren Tisch, schrieben erst den Test zu Ende, kämpften uns durch den restlichen Unterricht und traten schließlich hinaus ins Freie.
Es war warm, die Sonne schien und überall, wo man auch hinblickte, sah man frisches, saftiges Grün, strahlendes Blau und andere kräftige Farben. Es war nicht mehr nur ein sonniger Morgen, es war ein richtiger Sommertag. Vergnügt lief ich über dem Campus, lies mir die Sonne ins Gesicht scheinen, blinzelte glücklich in den Himmel und genoss die Wärme und das Licht. Und dann zog ein großer Schmetterling meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Schmetterling, der so groß war, dass ich mir für eine Weile nicht sicher war, ob er nicht vielleicht eine Schwalbe wäre. Begeistert lief ich ihm nach und bestaunte ihn wie ein kleines Kind, während die anderen Studenten mich ein wenig argwöhnisch musterten, weil ich kreuz und quer auf dem Weg umherlief. Nachdem ich kurz darauf für die kommenden Tage eingekauft hatte und mit meinen Einkaufstüten durch Soka lief, genoss ich einfach nur den Sommer. Ich spürte die Sonne auf meiner Haut, roch den eigentümlichen Geruch von warmen Steinen und konnte mich gar nicht an den warmen Farben um mich herum satt sehen. Es wehte kein Wind, herrschte keine drückende Schwüle und auch keine sengende Hitze, es war einfach nur ein warmer Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Für manch einen vielleicht ein wenig zu warm, aber nach so vielen mehr oder weniger windigen, mehr oder weniger bewölkten Tagen an denen es mal wärmer, mal kälter war, saugte ich die Wärme und Sonne auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser.
Wenn ich darüber nachdenke, ist es hier in Japan ganz anders mit den Jahreszeiten als bei uns in Deutschland, weil es keinen wirklichen Winter gibt, wie ich ihn gewohnt bin. Nachdem hier der Herbst begonnen hatte, es kalt geworden, das Laub von den Bäumen gefallen und die Anzahl der Regenschauer immer häufiger geworden war, ja, war eigentlich nichts passiert. An einem einzigen Tag hatte es geschneit ("Abschiedsschnee"), aber abgesehen davon war das Wetter bis in den März hinein in diesem Zustand verblieben. Dann hatte sich direkt an den Herbst der Frühling angeschlossen, was sich eigentlich auch nur dadurch bemerkbar gemacht hatte, dass es grünte. Wirklich warm und sonnig, war es erst später geworden. Und nun fühlte ich mich bereits wie im Sommer, obwohl erst Mai war. Man nimmt ein solches Jahr in so verschiedenen Weise wahr, dachte ich mir und überlegte, ob mir je untergekommen wäre, dass jemand etwas über den fehlenden europäischen Winter im Raum Tokyo erzählt hätte. Und so lief ich mit meinen Gedanken irgendwo verloren zwischen den Jahreszeiten Japans und Deutschlands durch die sonnendurchfluteten Straßen Sokas, atmete die warme Sommerluft ein, spürte die Wärme und war einfach nur glücklich.

Mittwoch, 27. Mai 2009

Die Kunst zu Lehren

Der Unterricht von Herrn Ikuta ist langweilig. Man kann es nicht anders sagen. Selbst ich, mit meinem eisernen Bestreben jedem Lehrenden und Vortragenden Interesse entgegenzubringen, komme an meine Grenzen und ertappe mich gelegentlich dabei gedanklich vollkommen abzuschalten und in meinem Lehrbuch kleine Kunswerke zu kritzeln. Jedes Mal wenn ich wieder einmal bei ihm im Unterricht sitze, frage ich mich, warum ich mir das eigentlich antue. Es ist nicht so, dass sein Unterricht einfach nur einschläfernd wäre, das würde ich ja in Kauf nehmen, nein, man kann einfach nichts Lernen, denn Herrn Ikutas Lehrmethoden trotzen jeglichen pädagogischen Grundregeln. Es fängt bereits damit an, dass ich ihn einfach nicht verstehe. Und das geht nicht nur mir so: Regelmäßig sitze ich ratlos vor dem Lehrbuch und versuche herauszufinden, ob Herr Ikuta gerade den Lektionstext vorließt, eine Übung macht oder neue grammatikalische Formen erklärt, wenn sich Marvin ratlos zu mir beugt und leise fragt, was wir eigentlich gerade machen. Dann kann ich immer nur mit den Schultern zucken und versuchen einen Satzfetzen von Herrn Ikuta mit den Grammatikübungen und dem Lektionstext abzugleichen und zu hoffen eine Übereinstimmung zu finden, meistens natürlich erfolglos. Dabei sollte es eigentlich gar nicht so schwer sein ihm zu folgen, schließlich führt er immer nach den gleichen Muster durch seinen Unterricht: Er überfliegt den Lektionstext, liest die grammatikalischen Erklärungen und einige Beispielsätze vor und verbringt den Rest des Unterrichts mit Übungen. An sich kein schlechtes Konzept, wäre es nicht so vollkommen inkompatibel mit uns Lernenden, denn Herr Ikuta scheint vollkommen zu vergessen, dass wir Japanisch noch nicht flüssig beherrschen, sondern erst lernen. Darum ist das anfängliche Überfliegen des Lektionstextes auch nicht viel mehr als eben dies. Er ließt den Text einmal herunter, ganz gleich, ob wir die verwendete Grammatik und das Vokabular beherrschen oder nicht, macht sich keine Mühe Neues zu erklären und schließt den Textteil, für den andere Lehrer mitunter den ganzen Unterricht verbringen nach fünf Minuten ab. Wir verstehen das sicher schon irgendwie. Danach liest er die Erklärungen zur Grammatik vor. Wörtlich. Dann sitzt man da, hört einen Fluss an unbekanntem, sprachwissenschaftlichem, japanischem Vokabular und ist genauso schlau wie zuvor. Zu jeder neuen grammatikalischen Form liest Herr Ikuta ein paar Beispielsätze vor, die man dann natürlich nicht versteht, da man keinen blassen Schimmer hat, was die neue Grammatik ausdrücken soll. Und so geht es etwa eine Viertelstunde weiter: Grammatische Form um grammatische Form, Beispielsatz um Beispielsatz, bis man hintereinander zehn unbekannte Formen gehört hat, die man mittlerweile alle halb vergessen hat und wild durcheinander wirft. Und plötzlich findet man sich unvermittelt vor einem Berg von Übungen wieder und brütet dann den restliche Unterricht davor.  "Warum arbeitet wohl niemand mit?", muss sich Herr Ikuta wohl jede Woche von neuem fragen, wenn die Studenten ratlos auf die Aufgaben blicken oder schlafend auf ihren Plätzen hängen, schließlich hat er doch alles erklärt und sogar Beispielsätze zur Veranschaulichung gegeben. Und so bleibt ihm nichts übrig als seine Aufgaben selbst zu beantworten: Aufgabe um Aufgabe nur Eigenarbeit des Lehrers, bis die Pausenglocke läutet und sowohl die Studenten als auch der Lehrer erleichtert den Raum verlassen.
Während der Mittagspause in der Mensa ließ ich mich dann gemeinsam mit Nikki und der Koreanerin Chu über Herrn Ikuta aus. Zunächst wenig differenziert, um ein wenig Dampf über den verschenkten Morgen abzulassen, dann aber doch mit berechtigter Kritik. Vorallem Nikki und ich nahmen seine Lehrmethoden auseinander, möchte Nikki doch selbst einmal Lehrerin für Japanisch werden und sieht somit den Unterricht nicht nur vom Standpunkt eines gelangweilten Studenten, sogar aus jenem eines angehenden Lehrers. "Er hat keinen Spass am Lehren", sagte Nikki, während sie ihren Curryreis aß, "Und das merken Lernende sofort. Darum wird der Unterricht für beide Seiten eine Qual. Er sollte entweder sein komplettes Unterrichtskonzept überdenken oder sich einen neuen Beruf suchen. Denn so schadet er beiden Seiten: Den Lernenden und sich selbst.". Ich konnte nur zustimmend nicken, besser hätte ich es wohl auch nicht sagen können. "Schau dir Frau Nakanishi an.", sagte Nikki und stellte ihr Wasserglas zurück auf das Tablett, "Sie ist das komplette Gegenteil. Sie lebt für ihren Beruf als Lehrer und das merkt man auch. Schon wenn sie den Raum betritt wird es still, weil von ihr diese Erwartungshaltung ausgeht. Man merkt, dass sie die Lernenden etwas lehren möchte und von ihnen im Gegenzug ein Ergebnis erwartet und man somit nicht einfach nur eineinhalb Stunden lang auf seinem Platz hängen kann. Man ist gefordert als Lernender.". Interessiert lauschte ich Nikkis Worten und konnte gar nicht aufhören mit meinem Kopf alle paar Sekunden zustimmend zu nicken.
In der dritten Unterrichtsstunde konnte ich mich dann wieder einmal selbst von den unterschiedlichen Lehrmethoden von Herrn Ikuta und Frau Nakanishi überzeugen, denn es war Unterricht bei Frau Nakanishi. Und es war wirklich wie ein Knick im Tag: Nach dem einschläfernden Unterricht am Morgen, in dem man von einer Flut von Informationen überschwemmt worden war und letztlich gar nichts verstanden hatte, ging Frau Nakanishi ganz anders an den Lernstoff heran: Sie teilte uns in Zweiergruppen ein und ließ uns eine halbe Stunde lang Zeit um leichte, textbezogene Fragen zu beantworten. Und so saß ich gemeinsam mit Cassy an einem Tisch, las in Ruhe den Text, den ich am Vormittag nicht verstanden hatte, diskutierte mit Cassy offene Fragen und Unklarheiten und überprüfte schließlich mein Textverständnis mit dem Fragenkatalog von Frau Nakanishi. Es waren keine schweren Fragen, bei denen man komplizierte Grammatik oder tiefgründiges Wissen zur Beantwortung gebraucht hätte, es waren einfach nur recht oberflächliche Fragen, die einem halfen sich dem gelesenen Text zu nähern. Oftmals waren die Antworten sogar auf eine bestimmte Anzahl von Zeichen beschränkt, damit man das Gelesene möglichst knapp mit eigenen Worten formulieren musste, denn oft ist man versucht einfach einen ganzen Satz aus dem Text zu kopieren, der einem zwar nicht ganz verständlich ist, irgendwie aber die Frage beantwortet. Und so verstand ich allmählich nicht nur den Text, sondern redete auch während der gesamten Gruppenarbeit auf japanisch und war selbst erstaunt wie leicht es mir fiel. Ebenso auch die Grammatikübungen von Frau Nakanishi, bei denen sie das Lehrbuch ganz zur Seite legte und sich zur Erklärung ausreichend Zeit ließ. Kein Fachvokabular, keine komplizierten Wörter, keine Hast: Statt tausenden von Übungen schrieb sie einen einzelnen simplen Satz mit einer Lücke an die Tafel und ließ diesen von jedem Kursteilnehmer mit einer passenden Antwort ausfüllen. Und so war jeder einmal an der Reihe und musste nicht bangen bei seiner Aufgabe an dem unverständlichen Vokabular zu scheitern. Denn wie Frau Nakanishi auch ganz richtig erklärte: "Es kommt nicht darauf an, dass sie Kunstwerke schreiben bei den Grammatikübungen. Sie sollen einfach nur das grammatische Konstrukt verstehen und wieder erkennen. Der Rest kommt ganz von alleine.". Und das kam es auch.
Es war ein Gefühl der Genugtuung zu bemerken, dass ich in der einen Stunde am Nachmittag mehr lernte, als in der doppelten Zeit am Vormittag. Das unverständliche Knäuel an Erklärungen und Übungen von Herrn Ikuta löste sich im Verlauf des Nachmittags und ich erhielt allmählich den Überblick über den Lernstoff des Tages. Sicherlich war der Unterricht von Frau Nakanishi fordernd und anstrengend, doch es zahlte sich letztlich aus, ganz im Gegensatz zu dem verschwendeten Vormittag, von dem fast nichts hängengeblieben war. Und so schüttelte ich auf dem Weg zum Wohnheim immer wieder ungläubig den Kopf wenn ich an die beiden so unterschiedlichen Lehrer von heute denken musste und realisierte fasziniert welche Welten zwischen einem guten und einem schlechten Lehrer lagen.

Samstag, 23. Mai 2009

A Fart. To Pierce the Dark.

Alle Köpfe drehten sich gleichzeitig um. Für einen Moment herrschte eine ungläubige Stille, dann begann der Kurs schlagartig zu lachen. Und nicht nur der Kurs, auch Frau Sakatani konnte sich nicht an sich halten und brach in ein helles Lachen aus. Alle Blicke richteten sich auf drei Personen: Die beiden Chinesen Ma und Ryou sowie die Koreanerin Chu. Ma und Ryou blickten unbekümmert in ihre Bücher und verzogen keine Miene, während Chu schockiert in die Augen der lachenden Kursteilnehmer blickte und sich vehement von dem Geschehen distanzierte: "Schaut mich nicht an! Ich war's nicht!"
Es war wohl einer der absurdesten Momente des Semesters, als heute vollkommen unerwartet ein Furz die Lernatmosphäre zerriss. Aber auch wenn jeder lachte und Spass an dem ungewollten Körpergeräusch hatte, ist der besagte Furz eigentlich nur die Spitze eines Eisberges von schlechten Manieren bei uns im Kurs. Denn wenn ich darüber nachdenkt, ist der heutige Furz eigentlich eher ein Grund resigniert den Kopf zu schütteln, als laut aufzulachen. Und ich muss zugeben, dass ich verwunderter bin, dass unseren Sprachlehrern nicht allmählich der Kragen platzt, bei all jenen Dingen, die sich die ausländischen Studenten herausnehmen. Es fängt schon damit an, dass einige Studenten eben nicht wissen, wann es anfängt, weil sie nämlich notorisch zu spät kommen. Und damit ist fast jeder Kursteilnehmer gemeint. Denn scheinbar sind Marvin, Ma und ich die einzigen Kursteilnehmer, die Wert auf Pünktlichkeit legen und täglich zum Glockenschlag auf ihrem Platz sitzen und auf den Beginn des Unterrichts warten. Ein Großteil der anderen Teilnehmer trödelt dann allmählich innerhalb der nächsten Viertelstunde ein und einige Hartgesottene kommen regelmäßig eine halbe Stunde zu spät. Dazu muss angemerkt werden, dass es eine Regelung an der Dokkyo-Universität gibt, die besagt, dass die erste Unterrichtsstunde bei mehr als einer halben Stunde Verspätung als Fehlstunde angerechnet wird. Einige Spezialisten kommen darum stets um Neun Uhr und Neunundzwanzig Minuten an, um gerade noch einer Fehlstunde zu entgehen. Warum bleiben sie nicht gleich zu Hause, frage ich mich dann regelmäßig, und muss mich stets daran erinnern, dass viele Studenten dies bereits tun: Manchmal ganze Tage, manchmal auch nur einige Unterrichtsstunden. Besonders beliebt ist es zu einem Test pünktlich zu erscheinen und nach dem Abgeben der Papiere samt Rucksack einfach zu verschwinden. Ebenso hat es sich bei einigen Mitstudenten eingebürgert den Nachmittag blau zu machen. Weshalb der Unialltag dünn bestückt beginnt und fast ebenso dünn bestückt wieder endet.
Aber auch wenn die Studenten körperlich anwesend sind, heißt das nicht, dass sie auch mental im Klassenraum sind, denn der Großteil des Kurses verschläft einfach den Großteil des Unterrichts. Und damit meine ich nicht nur ein sanftes Dösen, während der Lehrer einen Monolog hält, nein, damit meine ich einen offensichtlichen Winterschlaf mit ausgestreckten Armen auf dem Tisch und mitunter sogar begleitet von leisem Schnarchen. Abgesehen von Frau Kitamura, die im Viertelstundentakt durch die Reihen läuft und alle schlafenden Studenten mit einem Hieb gegen den Kopf unsanft wieder aufweckt, ignorieren die meisten Lehrer dieses Verhalten allerdings und lassen besagte Studenten einfach aus, wenn beispielsweise Grammatik- oder Leseübungen bearbeitet werden. Einige Studenten kombinieren ihr Schlafen auch gleich mit dem verspäteten Erscheinen, wodurch sie eigentlich nur ihren nächtlichen Schlaf nach einer kurzen Unterbrechung direkt im Klassenraum fortsetzen.
Ein regelrechter Klassiker für schlechte Manieren ist das Reden im Unterricht, was meines Erachtens kein wirklich schlimmes Vergehen ist, solange es sich in einem erträglichen Rahmen abspielt. Ich denke man kann sich leise unterhalten, wenn man seine Aufgaben beendet hat, jemanden etwas fragt oder einfach auf etwas Lustiges hinweisen möchte. Solange man niemanden stört, ist es erträglich. Doch die regelrechten Diskussionsrunden während des Unterrichts, die einige Leute veranstalten, sprengen jeden Rahmen. Mitunter sind einige schwatzende Koreanerinnen so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht einmal mitbekommen, wenn der Lehrer sie um Ruhe bittet. Und darüber, dass sich die Chinesen im Kurs in ihrer Muttersprache lauthals Sätze zurufen, regt sich schon niemand mehr auf. Es gehört praktisch zur Geräuschkulisse im Kurs.
Manchmal frage ich mich wie unsere Sprachlehrer bei all dem Chaos noch so ruhig bleiben können. Wenn ich Sprachlehrer wäre und mein Kurs mich wegen angeregter Diskussionen vollkommen ignorieren oder gleich provokativ einschlafen würde, würde ich ein Donnerwetter von mir geben. Vielleicht bin ich zu naiv, wenn ich denke, dass man in einen Sprachkurs geht, um eine Sprache zu lernen. Aber vielen Studenten scheint dies tatsächlich nicht sehr wichtig zu sein, denn warum sonst würden sie morgens verspätet in einen Sprachkurs trotten, sich erst einmal ausschlafen und dann bis zur Mittagspause mit ihren Freunden reden, ehe sie nach dem Mittagessen direkt wieder nach Hause laufen. Eigentlich kann es mir egal sein wie motiviert meine Mitstudenten sind, doch es wird allmählich lästig in Gruppenarbeiten den anderen erst einmal die Aufgabenstellung zu erklären oder immer den gleichen Satz zu hören, wenn jemand vom Lehrer drangenommen wird: "Wo sind wir denn gerade im Buch?". Ich habe immer Mitleid mit dem Lehrenden, wenn niemand aufpasst, während dieser sich abmüht fünf Minuten lang ein Idiom oder einfach nur einen komplizierten Satz zu erklären und dann auf die Nachfrage, ob es denn halbwegs verständlich war, nur ein nichtsagendes Gemurmel oder gleich totale Stille folgt.
Man zeigt ungern mit dem Finger auf Schuldige und ich mag eigentlich keine Verallgemeinerungen, aber ich kann aus meinen Erfahrungen berichten, dass die Chinesen im Kurs die schlechtesten Manieren haben. Vermutlich habe ich bei mir im Kurs nicht gerade die positivsten Repräsentanten ihrer Nation sitzen, denn es sind bedauerlicherweise die Chinesen des Kurses, die für alles oben Erwähnte Paradebeispiele sind. Manchmal greife ich mir an den Kopf, wenn ich sehe wie sie ihren Müll einfach in die Ecke des Raumes werfen oder während des gesamten Unterrichts unter dem Tisch auf ihrem Mobiltelefon fernsehen. Sicherlich nutzen es viele ausländische Studenten aus, dass sich unsere Sprachlehrer so ziemlich alles gefallen lassen und erlauben sich Dinge, für die man an der Heimatuniversität im hohen Bogen aus dem Kurs geworfen worden wäre, doch meines Erachtens ist es doch auffällig, wie viel dreister die Chinesen meines Kurses sind. Natürlich soll dies aber nicht davon ablenken, dass auch die anderen Kursteilnehmer keine Engel sind: Erst heute saß eine Koreanerin zusammengesackt und mit glasigen Augen auf ihrem Platz und zeigte kaum eine Reaktion, bis sie vom Lehrer auf die Krankenstation geschickt wurde. Wie ich herausfand war sie aber nicht krank, sondern sturzbetrunken von einer Feier bis spät in die Nacht.
Wer letztlich in der heutigen Unterrichtsstunde den überraschenden Furz von sich gab, ist nicht geklärt. Natürlich kann man sich lange darüber den Kopf zerbrechen. Und natürlich kann man sich aufregen wie schlecht die Manieren und das Verhalten in meinem Sprachkurs sind, doch sehr viel weiter bringt es einen doch nicht. Viel mehr als den Kopf schütteln und es einfach hinzunehmen wie es eben ist, bleibt einem nicht übrig. Und wenn man einmal alle Anstandsregeln und sonstigen Unzulänglichkeiten der Kursteilnehmer außer Acht lässt, war es letztlich auch nur ein lustiger Moment an einem sonst recht langweiligen und unspektakulären Tag. Sozusagen ein gleißendes Licht in der Dunkelheit. Und niemand kann leugnen, dass dieses kleine Malheur nicht nur jedem Kursteilnehmer ein herzliches Lachen bescherte, sondern auch ein wenig Leben in den sonst so dösigen und abwesenden Kurs brachte. Und so muss rückblickend jeder für sich selbst abwägen, ob der heutige Furz zukünftig nur eine heitere Anekdote ist, oder ein weiteres Beispiel für den Sittenverfall und die Anstandslosigkeit in unserem Kurs darstellt.

Flaute und Sturm

Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich lieber Sommer- oder Wintersemester mag, würde ich mich auf jeden Fall für Sommersemester entscheiden. Alleine aus dem Grund, weil man morgens besser aus dem Bett kommt, wenn die Sonne durch das Fenster strahlt und einen freundlich dazu einlädt munter und voller Lebensfreude in den neuen Tag zu starten. Das mag ich auch an meinem Sommersemester hier in Japan: Wenn man kurz nach dem Aufstehen aus dem Fenster über das friedliche, morgendliche Soka blickt, sieht man einen glasklaren, blauen Himmel, eine strahlende Sonne und Menschen, die ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen: Frauen, die Wäsche aufhängen, Gruppen von kleinen Kinder, die mit ihren übergroßen Schulränzen zur Schule wackeln und Alte, die schon im Garten arbeiten. Bei solch einem Anblick kann ich es morgens manchmal gar nicht abwarten das Haus zu verlassen und durch die Sonne zur Universität zu laufen. Doch es gibt da auch etwas, was man nicht sieht, wenn man morgens über das friedliche Soka blickt: Den Wind.
Als ich heute bei strahlendem Sonnenschein die Wohnung verließ und unter den blauen Himmel trat, fegten regelrechte Sturmböen zwischen den Häusern durch und ich hatte Mühe mich gegen die Wand aus Wind zu legen. Und so lief ich trotz des schön anzuschauenden Panoramas, fröstelnd durch die Straßen Sokas zur Universität, immer begleitet von den eisige Böen. Wie hatte es mir beim Blick aus dem Zimmer nicht auffallen können, dass sich die Bäume bogen, die Folien der Müllsäcke ein unentwegtes Konzert an Geknister und Geraschel von sich gaben und die Radfahrer Mühe hatten nicht vom Rand der Straße abgedrängt zu werden?
Der Wind hielt den Vormittag und Mittag über an und so wütete trotz Sonnenschein und klarem Himmel ein erbitterter Sturm auf dem Campus, als ich gemeinsam mit Lee zum Mittagessen in die Mensa ging. Es war ein seltsames Gefühl das nahezu perfekte Panorama zu sehen, gleichzeitig aber den heftigen Wind zu spürten, der so gar nicht in das perfekte Bild passte. Nichtsdestotrotz hielt der Sturm an, auch wenn sich kein Wölkchen am Himmel zeigte.
Am Nachmittag saß der Kurs dann dösig im Unterricht bei Frau Ezoe. Es herrschte totale Flaute. Niemand reckte seine Hand nach oben oder antwortete auf ihre Fragen, alle hingen nur halbtot auf ihrem Stuhl und träumten vor sich hin. Und so ergriff ich als einziger gelegentlich das Wort, wenn es so gar nicht voranging und führte den Unterricht schließlich alleine, bis Frau Ezoe meiner überdrüssig wurde und mich nicht mehr drannahm, weil es sinnlos war den Unterricht nur mit einer Person zu führen. Die anderen rührten dennoch keinen Finger und so verging die restliche halbe Stunde immer nach dem gleichen Schema: Frau Ezoe redete vor sich hin, stellte gelegentlich eine Frage, auf die niemand antwortete, ignorierte meine erhobene Hand und nahm irgendwann jemanden dran, dem sie dann die Antwort in den Mund legte. Und so begann auch ich ganz dösig zu werden, blickte nach draußen und beobachtete die Bäume, die sich im Wind wiegten. Da der Raum keine funktionierenden Klimaanlage hatte und die Sonne den ganzen Vormittag durch die Fensterfront hineingeschienen hatte, hatte Frau Ezoe die Schiebetür hinter der Jalousie geöffnet, durch die gelegentlich ein lauter Windstoss in den Raum gefegt kam, der alle dösigen Studenten regelmäßig aus ihrem Dämmerschlaf riss. Und so war die klappernde Jalousie, die mitunter heftig gegen die Fensterscheiben stieß, das Einzige, was man hörte, wenn Frau Ezoe auf eine Antwort wartete.
Als die letzte Viertelstunde anbrach, begann sich schließlich auch der Himmel mit Wolken zuzuziehen. Scheinbar aus dem nichts waren sie gekommen und stürmten wie Reiter eines gegnerischen Heeres den strahlenden blauen Himmel und tauchten ihn in ein unheilvolles dunkelgrau. Interessiert beobachtete ich den Sturm vor dem Fenster, der so rasant den Himmel zu verdunkeln begann, während im Klassenraum noch stets vollkommene Flaute herrschte. In geradezu beängstigender Schnelle wurde das Blau des Himmel von Wolken überrannt und neben dem Pfeifen des Winde hörte man fast ausschließlich das unheilvolle Klappern und Knallen der Jalousie. Nach einer scheinbaren Unendlichkeit beendete Frau Ezoe den Unterricht und die anderen begannen träge ihre Unterlagen zusammenzupacken, sich zu strecken und sich die Augen zu reiben, während ich mir meine Kamera schnappte und versuchte das Naturschauspiel irgendwie in Bildern festzuhalten, doch es war vergebens. Denn wie schon oben gesagt: Man kann den Wind nicht spüren. Man sieht nicht wie rasant der gesamte Himmel von Wolken überrannt wurde. Alles was man zu sehen bekommt ist ein bewölkter Himmel. Keine Spur von Sturm. Keine Spur von Flaute.


Bild1: Auf dem Bild kann man noch erahnen wie strahlend blau der Himmel den ganzen Tag über gewesen war...


Bild2: ...doch binnen kürzester Zeit zogen düstere Wolken über den einst so klaren Himmel.

Partymeile Wohnheim

Für Partys und Feiern aller Art konnte ich mich noch nie wirklich begeistern. Wenn es sich nicht gerade um ein Zusammentreffen mit guten Freunden handelt, meide ich größere Menschenaufläufe, wo ich nur kann. Statt ausschweifenden Feiern bevorzuge ich eine gemütliche Stunde mit einem Buch, einen Fernsehabend oder ein Treffen, um gemeinsam zu Spielen. Aber auch wenn ich kein großer Anhänger von Feiern bin, kann ich es verstehen, dass viele Menschen zu besonderen Anlässen gerne Partys veranstalten: Wenn man Geburtstag hat, eine schwere Prüfung bestanden hat, auf eine lange Reise aufbricht oder alte Freunde wieder trifft. Doch was ich nicht mag, sind Feiern, die ohne jeden Grund abgehalten werden, einfach nur um zu feiern. Denn das widerspricht ja schon dem Wort an sich: Wie soll man eine Feier abhalten, wenn es nichts zu feiern gibt?
Eigentlich könnte es mich ja vollkommen kalt lassen, aus welchem Grund Menschen wie oft feiern. Und eigentlich lässt es mich das für gewöhnlich auch. Doch hier in Japan, wo fast alle ausländischen Studenten im selben Wohnheim untergebracht sind, bekomme ich fast jede Feier mehr oder weniger mit und sie beginnen mich zunehmend zu stören. Dabei bin ich nicht empfindlicher geworden, sondern die Zahl und Ausmaße der Feiern hier im Wohnheim haben drastisch zugenommen. Im letzten Semester gab es schon fast wöchentlich Partys und ich habe es hingenommen, dass die Studenten offensichtlich jede überstandene Uniwoche zelebrieren mussten, aber mittlerweile finden hier im Wohnheim etwa drei ausschweifende Partys pro Woche statt. Und wer ein wenig Mathematik beherrscht, der wird sich fragen wie dies sein kann, schließlich gibt es ja nur zwei Abende in der Woche, die sich zum Durchfeiern anbieten: Der Freitag und der Samstag. Doch offensichtlich gibt es keine Hemmschwelle mehr auch unter der Woche die Nacht zum Tag zu machen und entweder zu spät oder gar nicht in den Unterricht am folgenden Tag zu gehen. Damit schaden die partywütigen Bewohner des Wohnheims allerdings nicht nur sich selbst, sondern auch anderen, beispielsweise mir. Denn immer öfter sitze ich abends in meinem Zimmer und möchte lernen, lesen, schreiben oder irgendetwas anderes machen, wenn irgendwo laute Musik zu spielen beginnt, Menschen sich unterhalten und vereinzelte Schreie oder unbändiges Lachen durch das Wohnheim schallt. Dazu kommt zu allem Überfluss auch noch der Zigarettenqualm, der sich immer bis zu meiner Balkontür schleicht und an warmen Abenden und Nächten mein Zimmer erfüllt. Ich würde es mit einem Schulterzucken hinnehmen, wüsste ich, dass jemand Geburtstag hat oder ein anderes großes Ereignis anstehen würde, doch da die meisten Feiern nur aus Spass an der Freude abgehalten werde, erlaube ich mir mich regelmäßig über die unzähligen Feiern auszulassen, die mich von meinem normalen Tagesablauf abhalten.
Dieses Wochenende fand wieder einmal eine große, ausschweifende Party bis in die frühen Morgenstunden statt, weshalb ich bis spät in die Nacht wach lag und nicht einschlafen konnte. Eigentlich hätte ich gerne ausgiebig geschlafen, um endlich wieder gesund zu werden, doch das ständige Lachen und Schreien aus der Wohnung nebenan lies mich nicht zur Ruhe kommen. Trotz geschlossenes Balkontür und eingeschalteter Klimaanlage roch ich den Zigarettenqualm und je später es wurde, desto häufiger hörte ich betrunkene Japaner und Ausländer vor der Wohnungstür lärmen. Und so blieb mir nichts anders übrig als meine Kopfhörer aufzusetzen, meine Musik zu hören und zu lernen. Wirklich effektiv war es nicht, lenkte mich meine eigene Musik doch vom Lernstoff ab, aber es war immerhin besser, als stundenlang wach zu liegen und an die Decke zu starren. Wenigstens stand in der nächsten Zeit keine Präsentation an, auf die ich mich vorbereiten müsste, dachte ich mir und lernte weiter, bis ich schließlich irgendwann spät nach Mitternacht vor lauter Müdigkeit trotz des Lärms von nebenan einschlief.

Freitag, 22. Mai 2009

Geschichte(n) schreiben

An Tag 223 in Japan war ich nicht wirklich auf der Höhe: Ich hatte nicht wirklich gut schlafen können, fühlte mich unwohl und wäre am liebsten im Bett liegen geblieben und hätte den Tag über Tee getrunken und Reis gegessen. Vielleicht hätte ich das auch gemacht, wenn ich nicht ausgerechnet heute einen Test hätte schreiben müssen. Doch so blieb mir nichts anderes übrig als mich in die Universität zu schleppen, unterwegs noch einmal den Lernstoff anzuschauen und in der ersten Stunde den Test von Herrn Ikuta zu schreiben. Und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass es der schwerste Test hier in Japan war, den ich je schreiben musste. Herr Ikuta quetschte aus den zweieinhalb Lektionen, über die sich der Test erstreckte, alles an Fragen heraus, was ging. Und so saß der gesamte Kurs mit qualmenden Köpfen über den Kanji-, Textverständis- und Grammatikbögen und hoffte irgendwie durchzukommen. Wenigstens hatten wir keine Konversationsprüfung, weshalb man seine Aufmerksamkeit ganz den Aufgaben widmen konnte und sich nebenbei keine Gedanken über Dialoge und Redewendungen machen musste. Ein weiterer positiver Nebeneffekt der fehlen Konversationsprüfung war, dass Herr Ikuta während unserer Prüfung die ganze Zeit im Raum saß und schon einmal die abgegebenen Bögen korrigierte, während die Studenten noch an den restlichen Bögen zu knabbern hatten, was dazu führte, dass wir unsere korrigierten Bögen bereits in der Stunde nach der Klausur zurückbekamen.
"Ich lehre bereits seit zehn Jahren an dieser Universität und so etwas ist mir noch nie passiert.", sagte Herr Ikuta in einer Mischung aus Murmeln und feierlichem Verkünden, als er die Bögen zurückgab. "Noch nie habe ich es erlebt, dass ein Student in einem Test sowohl bei den Schriftzeichen, als auch in der Grammatik einhundert Prozent erreicht hat.". Und mit einem anerkennenden Blick legte er meine Bögen vor mir auf den Tisch: "Wirklich ganz außergewöhnlich.". Überrascht und auch ein wenig peinlich berührt blickte ich auf meine perfekten Aufgabenbögen und spürte die Blicke der anderen auf mir lasten. Ich hörte ein "Wow!" von Nikki, einige erstaunte Quietschlaute von einer Koreanerin und ein "Das ist eine Lüge!" von Ma. "Da geht wohl einer in die Geschichte der Dokkyo-Universität ein.", sagte Marvin offensichtlich ironisch und warf einen interessierten, aber auch neidischen Blick auf meine Aufgabenbögen. Ich zumindest war nach meiner anfänglichen Überraschung sehr stolz und freute mich, dass sich das Lernen ausgezahlt hatte.
In der Pause traf ich dann überraschend auf Ayano und so unterhielten wir uns eine Weile lang über meinen Unterricht, ihre Jobsuche und schließlich über Tak und Nobuko, um die es in den letzten Wochen sehr still geworden war. Eine Freundin hat mir einmal erzählt, dass die Geschichte um Tak ein wenig wie eine Seifenoper sei: Ich lernte ihn kennen, während er noch mit seiner Freundin aus Großbritannien zusammen war ("Theorie und Praxis"), baute ihn auf, als er sich von ihr trennte ("Hinter der Maske"), sah wie eifersüchtig Nobuko bei einem gemeinsamen Essen auf Cassy war ("Die Frau an seiner Seite") und bekam schließlich erzählt, wie er mit Nobuko zusammengekommen war und deswegen seine Pläne für einen Auslandsaufenthalt aufgegeben hatte ("Rückzieher"). Und so bekam man immer etwas von Taks Geschichte mit, während ich meine Geschichte in Japan erzählte, und war nicht nur gespannt wie es bei mir, sondern auch wie es denn bei ihm weitergehen würde. Und genau das erfuhr ich heute im Gespräch mit Ayano. "Hast du etwas von Tak gehört?", fragte mich Ayano ganz unschuldig, woraufhin ich genau das wiedergab, was Tak mir erzählt hatte: "Er ist beschäftigt mit der Jobsuche und rennt von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten. Deswegen hat er kaum Zeit sich zu melden, geschweige denn sich zu treffen.". "Ja, er hat sich sehr rar gemacht.", kommentierte Ayano meine Aussage und ich hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte, als nur ein höfliches Beipflichten. "Cassy aus dem Sprachkurs hat mich auch schon nach Tak gefragt, weil er sich nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Aber du hast doch sicher noch Kontakt zu ihm.", neugierig blickte ich Ayano an, die nur ein wenig düster zurückblickte: "Mit mir redet er auch nicht mehr. Er ist ja zu beschäftigt.". "Ach, die Jobsuche ist aber bestimmt auch stressig.", versuchte ich Tak ein wenig zu verteidigen. Ayano blickte mich forsch an und kniff die Augen ein wenig zusammen: "Das erzählt er jedem. Das mit der Jobsuche. Aber in Wirklichkeit ist er ist eher mit Nobuko beschäftigt.". "Na sie sind frisch verliebt, da verstehe ich es, wenn sie möglichst viel Zeit zusammen verbringen wollen. Da kann es schon mal vorkommen, dass man seine Freunde ein wenig vernachlässigt.", dachte ich laut, doch Ayano schüttelte nur den Kopf: "Nobuko hat ihm ja verboten, dass er mit mir redet. Sie ist aus irgendeinem Grund eifersüchtig auf mich. Deswegen kontaktiert er mich kaum noch und treffen tun wir uns schon gar nicht.". "Was?", fragte ich überrascht nach und war ein wenig baff. Die Seifenoper in meinem Kopf nahm plötzlich eine unerwartete Wendung, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. "Nobuko ist eifersüchtig auf dich? Aber du und Tak, ihr ward doch immer nur Freunde, oder?". "Ja natürlich!", Ayano nickte heftig und ihr Blick wurde ganz trüb und wehleidig. "Tak war ein guter Freund und Nobuko eine meiner besten Freundinnen. Aber jetzt ist ganz plötzlich der Kontakt zu beiden abgebrochen und ich verstehe überhaupt nicht warum. Nobuko und ich waren doch immer so ein gutes Team.". "Hmm, ich kenne Nobuko leider nicht so gut.", antwortete ich ein wenig hilflos und dachte darüber nach wie oft ich Nobuko überhaupt getroffen hatte. Viermal vielleicht? Und so kamen Ayano und ich ins Gespräch und das erste Mal fiel mir auf, dass Ayano, die für mich immer eine taffe Powerfrau  gewesen war, sich ziemlich einsam fühlen musste. Viel Zeit zu sprechen hatten wir aber nicht, mein Unterricht hatte schon wieder begonnen, und so verabredeten wir uns zu einem abendlichen Telefonat übers Internet.
Wenn man einmal von freier Konversation absieht, sind die Aufsätze, die wir regelmäßig im Unterricht schreiben müssen, das, was mich so ziemlich am meisten stört. Das liegt nicht daran, dass ich so ungern schreibe, Wörter nachschlage oder keinen Spass daran hätte die neue Grammatik anzuwenden, nein, es sind schlicht und ergreifend die Themen, die diese Aufsätze immer wieder zu unerträglichen Torturen machen. Schon letztes Semester hatte ich mich an Themen wie "Wo sehe ich mich in zehn Jahren?" gestoßen, die uns Studenten abverlangten fundamentale Lebensfragen in einer Stunde zu diskutieren ("Glaubensfragen"). Auf Japanisch. Und auch dieses Semester waren die Fragen nicht besser geworden, nun, zumindest bis heute. Denn ausgerechnet im Unterricht der ewig lächelnden, übermotivierten Frau Nakanishi sprachen wir über das Thema "Mein eigenes Abenteuer". Und im Gegensatz zum Rest der Kurses, der gelangweilt wie immer vor sich hin döste, war ich voller Eifer dabei und konnte es gar nicht abwarten meinen Aufsatz zu schreiben.
Wer mich ein wenig kennt, der weiß um mein Interesse an Fantasiewelten und Abenteuergeschichten. Schon als Kind verschlang ich begierig ein Abenteuerbuch nach dem anderen und kreierte in meinem Kopf Fantasiewelten, in denen ich mit meinen Freunden Abenteuer erlebte. Als ich dann älter wurde, erfreute ich mich an verschiedenen Tisch- und Computerspielen und entdeckte meine Leidenschaft für meinen mittlerweile schon oft genannten Lieblingsmanga "One Piece", eine Abenteuergeschichte rund um eine Bande von Piraten. Kurz bevor ich nach Japan ging, hatte ich mit einer Freundin sogar begonnen eine eigene Fantasiewelt voller fremder Kulturen und phantasievoller Dinge zu schaffen. Viele meiner Ideen hatte ich nie aufgeschrieben oder weiterverfolgt, doch seit meinem Jahr in Japan begann ich allmählich all meine Ideen und Inspirationen aus den letzten Jahren zusammenzutragen und zu einer ganz eigenen Welt zusammenzufügen und eine Geschichte zu spinnen, wie ich sie mir immer gewünscht hätte als Buch zu lesen. Ob diese Geschichte jemals den Weg auf Papier finden wird, wage ich fast zu bezweifeln, obwohl ich mich in einem Gespräch mit einem Freund dazu habe breitschlagen lassen noch vor meinem siebzigsten Lebensjahr ein Buch zu schrieben, doch eigentlich kommt es darauf auch gar nicht wirklich an. Was mich immer viel mehr reizte war das Kreieren eigener Dinge, das Nutzen meines Einfallsreichtums und meiner Fantasie und das gedankliche Ausleben meiner kindlichen Sehnsucht nach Abenteuern, Helden und der Idee die Welt zu verändern. Da ich bereits seit meiner Kindheit in meinem Kopf eine Abenteuergeschichte nach der anderen erlebt hatte, kam mir das Aufsatzthema wie eine Offenbarung vor: "Mein eigenes Abenteuer". Eifrig schrieb ich all das, was ich auch nun geschrieben habe, und hatte so viel Spass bei einem Aufsatz, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht sogar wie noch nie.
Als ich am Mittag nach Hause kam, fiel ich in mein Bett und schlief erst einmal über zwei Stunden. Bei all dem Trubel und den Erlebnissen, hatte ich fast vergessen, wie schlecht es mir ging und dass ich eigentlich hatte zu Hause bleiben wollen. Den Rest des Tages blieb ich dann auch im Bett liegen und hing meinen Gedanken nach. Zum Lernen und Schreiben war ich zu erschöpft und ausgelaugt. Und so verstrich der restliche Tag recht ereignislos und irgendwann zwischen Gedanken an Fantasiewelten, Bestnoten und Seifenopern aus dem realen Leben schlief ich dann ein.

Montag, 18. Mai 2009

Secret of Ma

Heute haben wir die Ergebnisse unserer Konversationsprüfung der Vorwoche erhalten ("Hören und Verstehen"). Ich hatte ja das Schlimmste befürchtet, nachdem mein Gespräch mit Ma so vollkommen im Sand verlaufen war. Umso überraschter war ich, als auf meinem Wertungsbogen eine erreichte Punktzahl von Sechsundneunzig Prozent vermerkt war. Dafür dass die Konversation so gut gewesen sein soll, war allerdings erstaunlich viel Text auf der unteren Hälfte des Blattes notiert, wo sonst fast nie etwas geschrieben stand. Also las ich neugierig die ziemlich undeutliche Handschrift von Frau Sakatani und entzifferte Wort für Wort, dass ich meine Formulierungen sehr gut gelernt und angewendet hätte und in Klammern stand dahinter "Auch wenn Mas Japanisch sehr schwer zu verstehen ist.". Ich musste mir ein Lachen verkneifen, weil ich solch eine verhältnismäßig klare Aussage von Frau Sakatani nicht erwartet hätte. Mit einem Augenzwinkern zeigte ich Nikki meinen Wertungsbogen und deutete auf den Kommentar von Frau Sakatani, woraufhin sie ebenfalls zu lachen begann. Und bevor der Unterricht richtig startete, kamen wir beide in ein Gespräch über Ma.
Da Nikki nun schon seit über eineinhalb Jahren an der Dokkyo-Universität studiert, kannte sie Ma noch aus früheren Kursen: "Er hat auch damals schon immer ohne Unterlass geredet. Deswegen ist er dann auch in einen heftigen Streit mit einigen Kommilitonen aus seinem Kurs gekommen und hat das Semester abgebrochen.". "Ja, das habe ich schon einmal gehört, dass er ein Semester abgebrochen hat. Aber es ranken sich mittlerweile Legenden darum, wie es dazu gekommen ist.", Ich dachte einen Moment lang darüber nach, was mir Cassy, die Kanadierin chinesischer Abstammung, im letzten Semester einmal erzählt hatte: "Stimmt es, dass er einen Lehrer angegriffen hat? Er sieht gar nicht so aus.". "Was? Nein, das hat er nicht. Erzählt man sich sowas?", Nikki war ziemlich verblüfft eine solch haarsträubende Geschichte zu hören. "Nun ja, das habe ich zumindest gehört. Weißt du denn was damals passiert ist?", ein wenig neugierig beugte ich mich zu Nikki, die sich sich verstohlen umblickte und zu flüsternd begann: "Ich weiß es genau, ich war nämlich damals im selben Kurs mit ihm. Und ich habe alles hautnah miterlebt. Also es war so: Ma hat mal wieder den ganzen Tag über geschwätzt, bis schließlich einem Deutschen aus dem Kurs der Kragen geplatzt ist und der mit der Hand auf den Tisch geschlagen und Ma angeschrieen hat endlich die Klappe zu halten.". "Echt?", fragte ich ungläubig nach, "Welcher Deutsche war das denn?". Nikki überlegte einen Moment: "Viktor aus Marburg. Kennst du den?". "Ja!", antwortete ich überrascht, "Der studiert zusammen mit mir. Ich habe ihn zu Beginn meines Japanaufenthalts sogar noch getroffen, bevor er abgereist ist ("Waschen für Anfänger - Fotos für Profis"). Und ich kann mir bei ihm gut vorstellten, dass er ordentlich auf den Tisch haut. Das passt zu ihm.". "Aber ich fand es nicht wirklich gerechtfertigt.", gab Nikki zu bedenken, "Natürlich nervt Ma öfters und ist ziemlich verschroben, aber Viktors Reaktion war vollkommen überzogen. Er hat Ma vor dem gesamten Kurs total lächerlich gemacht. Und ich glaube seitdem ist er Deutschen gegenüber immer ziemlich voreingenommen.". Aufmerksam lauschte ich Nikkis Ausführungen, dann ging der Unterricht los. In meinem Kopf dachte ich aber weiter über Ma nach. Es war faszinierend ihn einmal in einem ganz anderen Licht zu sehen und plötzlich ein wenig zu verstehen, warum er war, wie er war. Ich blickte zu ihm hinüber und sah wie er ganz alleine an seinem Tisch saß, da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte und fühlte mich für einen Moment ein wenig schlecht, weil ich ihm in der letzten Zeit nicht sehr freundlich gegenüber gewesen war. Doch nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich mich eigentlich nicht schlecht fühlen musste. Dass Ma kaum Freunde hatte, war letztlich doch sein Verschulden, denn ganz gleich was in der Vergangenheit vorgefallen sein mag, ich hatte mich ihm gegenüber immer nett und zuvorkommend verhalten. Und nur weil ich mich nun ein wenig in ihn hineinversetzen konnte, wurden seine Macken und Unfreundlichkeiten nicht weniger nervig oder unverschämt.
Vielleicht sah ich Ma nun aus anderen Augen, Freunde würden wir wohl aber nicht werden, zu sehr störten mich seine Angewohnheiten: Sein kontinuierliches Plappern, seine fehlende Kooperationsbereitschaft und seine zahlreichen Lügen. Ja, seine Lügen waren mittlerweile legendär, denn gemäß eigenen Aussagen kann Ma beispielsweise acht Minuten lang die Luft anhalten, geht täglich zehn Stunden spazieren oder erzählt jedem Lehrer, dass er aufgehört hätte zu rauchen, obwohl er in jeder Pause mit eine Glimmstängel auf dem Campus steht. Wahrscheinlich möchte er einen guten Eindruck bei den Lehrenden machen, was aber insbesondere bei Frau Kitamura nach hinten losgeht. Sie weißt ihn nämlich immer wieder in seine Schranken zurück und mahnt Ma mittlerweile fast jede Stunde mit dem japanischen Sprichwort: "Lügen ist der erste Schritt zum Dieb.". Das stört Ma aber nicht, stattdessen kontert er mit dermaßen übertriebenen Schmeicheleien, dass selbst einige Lehrer sich recht deutlich Luft machen müsse: "Mittlerweile weiß ich, dass ich in diesem Kleid gut aussehe. Das musst du mir nicht immer wieder von Neuem sagen, Ma!".
Es ist wirklich nicht leicht mit Ma. Er ist verschroben und ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse, mit dem man nur ungern etwas zu tun hat. Dennoch kann ich ihn zu einem gewissen Punkt verstehen. Ob ich in der Zukunft etwas mit ihm zu tun haben möchte? Ich denke nicht. Das Gespräch mit Nikki hat Ma zwar in ein anderes Licht gestellt, aber keinen besseren Menschen aus ihm gemacht. Aber auch wenn ich ihn nicht mag, war es doch interessant eines der Geheimnisse zu lüften, dass er bereits seit dem ersten Semester mit sich herumgetragen hatte, denn auf eine gewisse Weise sind Menschen doch wie unvollständige Puzzle: Man kennt sie nie ganz und kann nur hoffen immer wieder neue Teile zu finden, um sich ein besseres Bild machen zu können.

Partnertausch und Seitensprung

Mittlerweile hat sich das neue Semester schon ein wenig gesetzt und meine anfängliche Angst gegenüber Frau Kitamura, der älteren und etwas strengeren Lehrerin vom Dienstag, ist verschwunden. Eigentlich denke ich sogar mittlerweile, dass Frau Kitamura nicht nur sehr nett, sondern wohl auch eine der fähigsten Lehrerinnen dieses Semesters ist. Sicherlich erwartet sie viel und man sollte stets gut vorbereitet in den Unterricht gehen, doch es lohnt sich, weil man so vieles gelehrt wird und Frau Kitamura sich bei ihren zahlreichen Erklärungen und Übungen wirklich Mühe gibt. Und auch wenn man mal eine Antwort nicht weiß, hat sich gezeigt, dass sie einem wohlgesonnen ist, solange zeigt, dass man sich bemüht hat.
Eine Sache, die sie von den anderen Sprachlehrern unterscheidet und die mich zum Beginn auch ein wenig eingeschüchtert hat, ist ihr Bestehen auf Respekt. Das mag sich nun ein wenig seltsam anhören, sollte man doch eigentlich jedem Lehrenden Respekt zollen, doch in der Realität lassen sich unsere Sprachlehrer erstaunlich viel gefallen. Und damit meine ich nicht nur, dass sie es wortlos tolerieren, wenn die Schüler im Unterricht herumdösen und anderweitig beschäftigt sind, sondern dass sie sich auch damit abfinden, dass wir Schüler mit grammatikalisch falschen und manchmal ziemlich unhöflichen und umgangssprachlichen Formulierungen mit den Lehrern reden, schließlich sind wir ja noch am Lernen. Nicht so Frau Kitamura, die auf die sprachliche Korrektheit und eine angemessene Höflichkeit besteht, denn schließlich ist sie der Lehrer und wir als Lernende sollten gerade Wert darauf legen uns ein gewisses Maß an Höflichkeit im Umgang mit Höhergestellten anzueignen. Und darum verbessert sie uns stets, wenn wir zu umgangssprachlich im Gespräch mit ihr werden und lehrt uns höfliche Formulierungen zu benutzen, was ich als äußerst sinnvoll erachte, schließlich lernt man auf diese Weise mehr, als wenn man immer und immer wieder einen falschen und unangebrachten Satz benutzt. Ein typisches Beispiel ist, wenn wir eine Kassette hören und uns Frau Kitamura fragt, ob wir den Dialog noch ein weiteres Mal anhören wollen. Bei anderen Lehrern ruft dann irgendjemand "Ja.", woraufhin der Dialog noch einmal aus den Lautsprechern dudelt, während Frau Kitamura uns dazu erzogen hat sehr höflich darum zu bitten "Herr Lehrer, könnten Sie uns die Kassette noch ein weiteres Mal vorspielen?". Ebenso hat sie uns beigebracht, was man sagen sollte, wenn der Lehrer unbeabsichtigt vor der Tafel steht. Denn bisher rief Ma lautstark in den Raum "Lehrer. Ich seh' nichts!", was Frau Kitamura offensichtlich vergraulte. Und so hielt sie uns erst einmal einen Vortrag darüber, dass sie kein Hirsch wäre, den man anschnauzt, damit er einen Sprung zu Seite macht, sondern eine Respektsperson, die man auch als solche zu behandeln hat. Und so habe ich mir den höflichen Satz "Herr Lehrer, könnten Sie wohl ein Stück zur Seite treten." notiert und auswendig gelernt. Und Frau Kitamura war ganz angetan, als ich den Satz auch noch am selben Tag benutzte.
Wenn es sich anbietet, lässt uns Frau Kitamura gerne in Gruppen arbeiten. Damit wir aber nicht immer mit den gleichen Partnern zusammenarbeiten, teilt sie uns zufällig in Paare ein. So auch heute, an meinem 221. Tag in Japan, als wir in Zweierpaaren über eine Fragestellung diskutieren sollten. Und Pech wie ich hatte, wurde ich Ma zugeteilt. Nach den Erlebnissen der vergangen Woche hatte ich allerdings wenig Verlangen an einer Zusammenarbeit mit ihm, weshalb ich mich kurzerhand zu einer Chinesin drehte und sie bat doch mit mir die Konversation zu machen, damit ich nicht mit Ma sprechen müsste. Sie lächelte und erwiderte freundlich: "Ich kann mit ihm machen. Das ist kein Problem.". Und so stand sie auf, lief zu Ma und ich setzte mich neben ihre Konversationspartnerin: Nikki, das Mädchen aus den Philippinen. Zu tun hatten wir miteinander noch nichts und so stellten wir uns erstmals ein wenig unsicher vor. Recht schnell fanden wir heraus, dass wir beide Englisch sprachen und so kamen wir ins Gespräch. Und ehe wir uns versahen waren wir in einer Konversation versunken und hatten die Aufgabenstellung ganz vergessen, so interessiert waren wir an der Kultur des anderen. Ganz fasziniert fragte mich Nikki über Deutschland aus, während ich das erste Mal in meinem Leben etwas von den Philippinen erfuhr. Somit hatte es sich wahrhaftig gelohnt den Konversationspartner zu tauschen. Nicht nur, weil ich nicht mit Ma hatte arbeiten müssen, sondern weil ich in Nikki endlich eine nette Person im Sprachkurs gefunden hatte, mit der ich mich gut verstand. Das Ergebnis unserer Aufgabenstellung mussten Nikki und ich dann nicht vorstellen, zu früh war der Unterricht vorbei. Aber vielleicht war das auch ganz gut, schließlich waren wir mehr aneinander interessiert, als an dem Lehrbuch.

Samstag, 16. Mai 2009

Yoko sagt, es wird nicht regnen

Am Sonntag kam Yosukes Freundin aus Osaka, einer Stadt nahe Kyoto, zu Gast in unsere Wohnung. Hätte mir Yosuke das vorher allerdings nicht gesagt, so wäre es mir wohl kaum aufgefallen, denn wir begegneten uns den ganzen Sonntag über kein einziges Mal, dabei wohnten wir nur von einer dünnen Wand getrennt in der gleichen Wohnung. Und je weiter der Tag voranschritt, um so bemühter schien jeder damit es auch dabei zu lassen. So kochte ich mein Mittag- und Abendessen, ohne dass sich auch nur eine Menschenseele in der Wohnung zeigt. Und als ich dann in meinem Zimmer verschwunden war und lernte, hörte ich Yosuke und seine Freundin in der Küche. Ein seltsames Gefühl wie so ein ganzer Tag verging, ohne dass man sich begegnete.
Als ich am Montag Morgen aufstand, war der Himmel wolkenverhangen, was ein sicheres Zeichen für Regenwetter war. Ein wenig missmutig machte ich mich fertig, packte meinen Rucksack und wollte mir noch schnell einen Kaffee machen, als mir in der Küche schließlich Yoko über den Weg lief. Obwohl es eigentlich eine äußerst peinliche Situation hätte sein müssen jemandem zu begegnen, der bereits einen ganzen Tag mit mir in der Wohnung verbracht hatte, brachten wir unsere Begrüßung doch sehr gekonnt hinter uns. Sehr viel sprachen wir nicht, schließlich musste ich ja schon zum Unterricht, weshalb ich nur erfuhr, dass Yoko wegen eines Bewerbungsgesprächs nach Soka gekommen war und bereits am Nachmittag wieder abfahren würde. Dann schnappte ich mir auch schon meinem Regenschirm und wollte zur Uni, als sie mich zurückhielt. "Es wird heute nicht regnen." Sie deutete auf meinen Regenschirm. "Echt? Aber der Himmel ist ganz schwarz.", entgegnete ich und zeigte zum Himmel, als Yoko noch einmal selbstsicher "Es wird heute nicht regnen" sagte. Und da Yoko sich ihrer Sache äußerst sicher schien, legte ich den Regenschirm zurück an seinen Platz und lief ohne Regenschutz hinaus.
Am Mittag kam ich mir dann das erste Mal ziemlich einsam vor. Ohne jemanden, mit dem ich mich hätte unterhalten können, saß ich zum Mittagessen alleine in der Mensa. Weder Lee war heute hier, noch irgendjemand anderes. Schon das gesamte Wochenende über hatte ich mich mit niemandem unterhalten können, was vermutlich deswegen an mir nagte, da ich nach der Präsentation der Vorwoche endlich mehr Zeit hatte, die ich nun aber mit niemandem teilen konnte. Und so saß ich ziemlich verlassen inmitten von fremden, japanischen Studenten, aß meinen Curryreis und überlegte mir, dass ich im neuen Sprachkurs noch keine wirklichen Freunde gefunden hatte, mit denen ich die Zeit verbringen konnte. Noch zu sehr war ich es gewohnt mit Katharina in den Pausen in die Mensa zu gehen. Und so blies ich die Pause über Trübsal und lernte Vokabeln, obwohl ich eigentlich lieber mit jemandem geredet hätte, ehe ich unter dem grauen, wolkenverhangenen Himmel zurück in den Klassenraum lief.
In der dritten Stunde wurden wieder Präsentationen gehalten, allerdings waren allesamt nur mittelmäßig. Dennoch saß ich aufmerksam da und versuchte zu lauschen, während die anderen abschalteten und vor sich hin dösten. Frau Ezoe, die für die heutigen Präsentationen verantwortlich war, hatte wie schon im letzten Semester ihre Kamera aufgestellt, um die Vortragenden zu filmen. Den Vortragenden war dies offensichtlich unangenehm, weshalb ich erleichtert war nicht selbst eine Präsentation bei Frau Ezoe halten zu müssen. Als dann am Ende aber im Kurs das Video abgespielt werden sollte, zeigte sich, dass die Aufnahme aus irgendeinem Grund schon kurz nach dem Start abgebrochen hatte. Frau Ezoe war ganz schockiert, die Referenten dafür umso erleichterter, schließlich entging ihnen somit die Blamage des gemeinsamen Ansehens und Kommentieren. Nachdem ich meine Sachen zusammengepackt hatte und alleine den Raum verlassen wollte, kam der Chinese Ryou überraschend auf mich zu: "Du spielst doch gerne Nintendo, oder?". "Ja, warum?". "Ich habe mir vor kurzem eine Spielekonsole gekauft und alleine spielen ist öde. Da dachte ich, dass wir uns ja mal zu zweit treffen können, um gemeinsam zu spielen.". Ich lächelte glücklich und bejahte frenetisch Ryous unerwartetes Angebot, das so vollkommen unerwartet an mich herangetragen wurde. Auch wenn ich noch nicht wusste, ob wir uns letzten Endes überhaupt einmal treffen würden, da Ryou wegen eines Nebenjobs kaum Zeit hatte, war ich doch überglücklich darüber, dass er an mich gedacht hatte, und die dicken Wolken, die mein Gemüt schon den ganze Tag über getrübt hatten, verzogen sich. Und so trat ich zufrieden hinaus ins Freie und musste überrascht feststellen, dass sich der Himmel begann aufzuklaren und es überhaupt nicht mehr den Anschein von Regen machte.
Auf dem Rückweg traf ich schließlich auf Lee, die ganz aufgedreht war. Das erste Mal hatte sie heute Konversationsprüfung gehabt und das erste Mal war ihr bewusst geworden, dass zwischen Japanisch schreiben und lesen auf der einen Seite und Japanisch frei sprechen auf der anderen Seite Welten lagen. "Ich kam mir so dumm vor.", berichtete Lee geknickt und ich tröstete so gut ich konnte damit, dass es auch für mich sehr schwer wäre frei zu sprechen, obwohl ich schon so viel länger Japanisch lernte. So kam es dazu, dass wir beiden letztlich zurück zum Wohnheim liefen und uns versuchten unterwegs nur auf Japanisch zu unterhalten. Das funktionierte zwar nicht wirklich sehr gut, aber es gab uns beiden ein gutes Gefühl und machte sogar ein wenig Spass, weshalb wir uns schließlich lachend voneinander verabschiedeten.
Am späten Abend saß ich in meinem Zimmer und lernte, als ich Yosuke heimkommen hörte. "Hey.", rief ich wie immer, um auf mich aufmerksam zu machen, woraufhin Yosuke zweimal hintereinander mit "Planänderung!" antwortete. Ich war ein wenig verwirrt von der Antwort, erwartete ich doch ein gewöhnliches "Hey." als Echo. Also kam ich aus meinem Zimmer und stand direkt vor Yoko. Yosuke stand direkt hinter ihr und sagte noch einmal "Planänderung wie du siehst. Yoko fährt doch erst morgen nach Hause.". Und so kam es, dass Yoko und ich Zeit hatten unsere spärliche Konversation vom Morgen ein wenig auszubauen und uns noch einmal wenige Minute zu unterhalten. Sie berichtete von ihrem Bewerbungsgespräch und wie sie mit Yosuke den Tag verbracht hatte, ehe wir uns dann lächelnd trennten. Als sie gerade in Yosukes Zimmer verschwinden wollte, rief ich ihr noch kurz hinterher: "Ach übrigens, Yoko.". Yoko drehte sich fragend um. "Es hat heute nicht geregnet.". Da schaute Yoko erst ein wenig ratlos, bis sie schließlich herzhaft lachen musste und ihr Gesicht wie eine Sonne strahlte.

Freitag, 15. Mai 2009

Hier kommt die Maus

Eben noch in den Ferien, plötzlich schon wieder mitten im Semester. So ging es mir heute, als ich nach nicht einmal zwei Wochen Unterricht bereits meine Präsentation halten musste. Während andere die Zeit hatten sich allmählich an das neue Semester zu gewöhnen, hatte ich die letzten Wochen durchgearbeitet und meine freie Zeit in das Erstellen meiner Präsentation gesteckt. Lange hatte ich überlegt welches Thema sich wohl eignen würde, bis ich mich schließlich für "Die Sendung mit der Maus" entschieden hatte. Allerdings nicht nur aus reiner Nostalgie und Interesse, sondern aus recht nahliegenden Gründen: Die orangene Maus aus der Bildungssendung für Kinder ist nämlich das Maskottchen der Dokkyo-Universität, an der ich studiere. Schon als ich das erste Mal das Universitätsgebäude betreten hatte, waren mir die vielen Plakate mit der Maus aufgefallen, die zum Stromsparen oder zur Mülltrennung aufriefen, und ich hatte mich immer gefragt, warum unsere deutsche Maus wohl so verbreitet war. Das schien mir ein interessantes, viel versprechendes Thema zu sein und so hatte ich in den letzten zehn Tagen meine Zeit mit Recherche verbracht und meine kleine Präsentation zusammengebastelt, die ich heute mit einem guten Gefühl dem Sprachkurs samt meiner Lehrerin Frau Takeda präsentierte.


Bild1: Die Maus aus der Sendung mit der Maus zeigt der Verschwendung von Strom die Rote Karte. Diese Plakate findet man überall in der Dokkyo-Universität.


Bild2: An unserem ersten Tag an der Dokkyo-Universität erhielt jeder neue Student diese schicke Dokkyo-Tragetüte mit dem Aufdruck des Maskottchens, der Maus.


Ich kann ja bereits ein Lied von den technischen Schwierigkeiten beim Halten eines Vortrages singen ("Tage, an denen man im Bett bleiben sollte"), insbesondere wenn es darum geht meinen Laptop von Apple mit der technischen Ausrüstung der Universität zu verbinden, die für gewöhnliche Rechner von Windows gedacht sind. Um nicht wieder in die gleichen Fettnäpfchen vom letzten Semester zu treten, hatte ich diesmal wohlweisslich meine Präsentation schon am Vorabend auf den Windows-Laptop meines Kommilitonen Marvin geladen, der am gleichen Tag wie ich seine Präsentation halten würde. Fast eine halbe Stunde lang hatten wir an seinem Laptop gesessen und versucht irgendwie meine Präsentation zum Laufen zu bringen, bis wir schließlich eine nicht optimale, aber doch passable Lösung gefunden hatten. Somit hatte ich im Vorfeld schon einmal jegliche Komplikationen mit meinem eigenen Laptop ausgeschlossen und geschickt die Verantwortung zum Anschluss der Technik Marvin aufgelastet. Und wie zu erwarten gab es auch Probleme mit der Technik, denn niemand wusste so recht wie man das Bild vom Laptop an die Wand bringen sollte. Und so standen Marvin, ich und Frau Takeda eine Weile lang unschlüssig vor einem Kabel- und Knopfwirrwarr und wussten nicht so recht was zu tun, während der Rest des Kurses vor sich hin döste oder sich angeregt unterhielt. Letztlich rief Frau Takeda eine Dame vom technischen Hilfsdienst der Universität, die denn gemeinsam mit uns ratlos vor dem Laptop stand, denn mit einem deutschsprachigen Gerät konnte auch sie nicht so viel anfangen. Irgendwie klappte es dann doch, nachdem alle Stecker herausgezogen und wieder hineingesteckt und alle Tasten noch einmal gedrückt worden waren. Rund eine halbe Stunde hatte das Theater gedauert, doch wirklich stören tat mich dies nicht, denn insgeheim war ich froh über jede Minute, die von der möglicher Zeit zur freien Diskussion abgingen.
Insgesamt lief meine Präsentation recht gut. Natürlich ist man selbst stets sein größter Kritiker und findet zahlreiche Fehler und verbesserungswürdige Punkte, aber letztlich muss man sich auch eingestehen können, wenn man etwas im Großen und Ganzen ziemlich gut gemacht hat. Da uns am Beginn des Semesters groß verkündet worden war, dass wir unsere Präsentation frei, ohne Skript zum Ablesen, halten sollten, war mir der Atem gestoppt, weil ich insbesondere in Stresssituationen Schwierigkeiten habe flüssig und betont zu sprechen, da ich dazu neige zu haspeln, mich zu versprechen und Satzteile oder mitunter ganze Abschnitte einfach auszulassen. Dass ich Angst vor dem freien Vortrag hatte, ist somit kein Wunder und ich wusste, dass ich es nicht ganz frei schaffen würde. Darum hatte ich mir wie sonst auch immer ein Skript ausgedruckt und dieses versucht möglichst simpel zu formulieren, damit ich oft die Möglichkeit hatte aufzublicken und einen Satz mit Blick in die Klasse beenden können würde. Die Rechnung ging auch ganz gut auf, denn wenn man die Bilder einbezieht, die ich vollkommen frei erläuterte, war mein Vortrag zu rund einer Hälfte frei gesprochen und einer Hälfte abgelesen. Für meinen ersten Versuch eines freien Vortrags eine recht gute Bilanz. Natürlich lies es sich nicht vermeiden, dass ich mich gelegentlich versprach, eine Silbe verschluckte oder in der Aufregung mal ein wenig falsch betonte, doch im Großen und Ganzen war ich sehr zufrieden. An der freien Diskussion zum Ende beteiligte sich kaum jemand, was aber weniger an meinem Vortrag, als an der Vor-Wochenends-Trägheit der Kursteilnehmer lag. Und so lies ich mich schließlich erleichtert auf meinen Sitz fallen und folgte gelassen den restlichen Präsentationen.
Die Präsentation von Marvin war über schwarze Löcher im Weltraum. Und obwohl ich anfangs befürchtete so gar nichts zu verstehen, war ich sehr überrascht, dass ich recht flüssig folgen konnte. Vielleicht lag dies an Marvins Talent zum freien Sprechen, vielleicht aber auch nur daran, dass wir Deutschen ähnliche Gedankengänge beim Satzbau und der Wortwahl im Japanischen haben und ich somit einen Text vorfand, wie ich ihn wohl auch selbst formuliert hätte. Insgesamt war ich sehr beeindruckt davon, dass Marvin wirklich sehr frei formulierte und belohnte seine Leistung mit reger Teilnahme an seiner Diskussion, was für mich eigentlich eher untypisch ist. Die dritte und letzte Präsentation an diesem Tag hielt eine Koreanerin namens Chu. Aus dem Unterricht kannte ich sie als sehr redegewandt und aufgeweckt, weshalb ich sehr überrascht war, als sie ihre Präsentation nur undeutlich vor sich hin stotterte. Sie hatte weder eine Einleitung, noch eine Visualisierung in irgendeiner Form vorbereitet, weshalb ich nicht einmal richtig verstand worüber sie referierte. Ich denke es ging um die Verbindung von Gefühlen und Jahreszeiten, oder so ähnlich. Sie blickte unsicher in den Raum und stammelte einen Satz nach dem anderen, während sie in ihren Händen ihr Skript zerknitterte und nervös von einem Bein aufs andere trat. Irgendwann wurde sie still und so breitete sich im gesamten Raum eine peinliche Stille aus. Niemand hatte wirklich verstanden worum es gegangen war und hätte Fragen stellen können, weshalb alle Zuhörer möglichst gebannt auf das minimalistische Handout blickten. Schließlich räusperte sich Frau Takeda, warf einen langen Blick auf das Handout und begann zu reden: "Sie haben auf dem Handout sechs Unterpunkte für ihren Vortrag angegeben. Warum haben Sie nur über die ersten drei geredet?". "Nun, äh, ich bin gestern nicht mehr fertig geworden mit meinem Text. Deswegen habe ich nur über die ersten Punkte geredet.", antwortete Chu beschämt. Die sonst so lebensfrohe und freundliche Frau Takeda schaute ein wenig zerknirscht und entgegnete: "Eigentlich reicht man dem Lehrer sein Manuskript im Vorhinein ein, damit dieser es korrigieren kann. Und man schreibt es schon gar nicht am Vortag. Herr Kraft und Herr Brendel haben mir ihre Manuskripte bereits letzte Woche zugesandt, das hätten Sie auch machen sollen.". Die Koreanerin blickte beschämt auf den Boden und murmelte Entschuldigungen vor sich hin. "Dann hätte Sie vermutlich auch mehr Zeit zum Vorbereiten ihres Vortrages gehabt. Mit Ihrem Gestammel war es dem Publikum sehr schwer zu folgen, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass niemand eine Frage stellen kann.". "Ich dachte wir müssten frei sprechen, das haben die beiden anderen auch so gemacht. Deswegen habe ich versucht meinen Text aus dem Gedächtnis aufzusagen.", versuchte sich Chu zu retten und hielt zur Untermalung das Manuskript hoch, das sie während ihres Vortrages zwischen ihren Händen zerknittert hatte. Eine kurze Weile diskutierten Frau Takeda und Shu noch herum, bis Frau Takeda letztlich mit ihrem gewohnten Lächeln den Vortrag beendete: "Der Vortrag war nichts. Darum strengen Sie sich bitte das nächste Mal um so mehr an. Haben wir uns verstanden?". "Ja.", sagte Chu kleinlaut und lief zu ihrem Sitzplatz.
Nach dem regulären Unterricht traf ich mich noch mit Lee und gab ihr Hilfestellung bei ihrer ersten Präsentation, schließlich ist Lee dieses Semester bereits im Mittelkurs und muss darum ebenso wie ich zwei Präsentationen während des Semesters halten. Und da sie dies noch nie vorher machen musste und die japanischen Erklärungen der Lehrer zum Beginn des Semesters nicht wirklich verstanden hatte, nahm ich mir eine halbe Stunde Zeit und erzählte von meinen bisherigen Präsentationen. Da kam es mir auch gerade recht, dass ich von meinem Beitrag zur Sendung mit der Maus noch ein paar übrig gebliebene Handouts und mein Manuskript mit mir herumtrug, und Lee somit gleich schonmal ein Muster einer recht guten Präsentation in die Hand drücken konnte. Und da ich noch genau wusste wie aufgeregt ich vor meiner ersten Präsentation war und welche Fragen und Ängste mich gequält hatten, traf ich wohl auch die richtigen Töne mit meinen Ratschlägen und Lee war merklich erleichtert nach unserem Treffen.
Als ich dann Mittags endlich zu Hause war, fiel ich erst einmal müde in mein Bett und starrte an die Decke, während aus meinem Laptop Musik dudelte. Die ersten zwei Wochen waren anstrengend gewesen und ich war so gar nicht zur Ruhe gekommen: Lernen bis spät in die Nacht, meine ersten Tests und natürlich meine erste Präsentation. An meinem ersten Wochenende hatte ich kaum Zeit zum Entspannen gefunden und so lag ich nun, da der schlimmste Stress von mir abgefallen war, einfach nur da und genoss es einmal nichts machen zu müssen. Natürlich hätte ich das gesamte Wochenende den Lernstoff lernen, vor- und nachbereiten können, doch manchmal braucht man auch einmal eine Auszeit. Und so verbrachte ich den Rest des Tages sowie einen Großteil des Wochenendes in meinem Zimmer, spielte Computer, las Bücher, schaute Filme und hörte entspannt Musik, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen.