Dienstag, 9. Dezember 2008

Die Frau an seiner Seite

Es gibt denkbar ungünstige Augenblicke um zu bemerken, dass man etwas verlegt hat. Zum Beispiel wenn man im Unterricht bemerkt, dass man seine Unterlagen vergessen hat, wenn man in der Mensa ansteht und einem erst kurz vor dem Ticketautomaten auffällt, dass man gar kein Portemonnaie hat, oder wenn man morgens beim Verlassen des Hauses seinen Wohnungsschlüssel nicht findet. Letzteres ist mir heute passiert. Für gewöhnlich schnappe ich mir immer meinen Schlüssel, der auf dem Schreibtisch bereit liegt, ziehe meine Schuhe an und verlasse das Wohnheim in Richtung Universität. Doch heute lag mein Schlüssel nicht auf dem Schreibtisch. Und auch nicht auf dem Boden. Er war weder in einer Hosentasche, noch auf dem Küchentisch. Ich fand ihn nicht unterm Bett, nicht in der Spüle und nicht hinter der Waschmaschine. Er war auch nicht in der Dusche, in den Schuhen oder im Wasserkocher. Und wie oben erwähnt verlegt man Wichtiges meist in möglichst ungünstigen Augenblicken. So auch bei mir, denn ich hatte in der ersten Stunde einen Sprachtest. Und so rannte ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung, durchwühlte Blätterhaufen, schüttelte jedes Kleidungsstück und rutschte mit dem Kopf auf dem Boden an jedem Möbelstück vorbei, doch vergebens. Und so verließ ich gemeinsam mit Yosuke viel zu spät das Haus, rannte in Rekordtempo meinen Weg zur Uni und kam gerade noch rechtzeitig zum Klingeln in den Unterrichtssaal gestürzt.
In der Mittagspause traf ich mich dann mit Yosuke in der Mensa, um unser weiteres Vorgehen zu debattieren, denn die Konstellation von zwei Jungen, zwei verschiedenen Planungen für den Abend und nur einem Schlüssel versprach Komplikationen. Er wollte nämlich erst in der Universität lernen und dann am späten Abend in eine Karaoke-Bar gehen, ich hingegen plante direkt nach Hause zu gehen und mich gegen sechs Uhr mit Tak, Nobuko und Katharina zum gemeinsamen Essen zu treffen. Mit nur einem einzigen Schlüssel wurde die Koordination dann allerdings recht kompliziert und letztlich einigten wir uns darauf, dass ich Yosukes Schlüssel bekommen würde und mir für den weiteren Verlauf des Abends irgendetwas einfallen lassen müsste. Bedingt durch unsere Debatte zur Tagesplanung, saß Yosuke während der Mittagspause gemeinsam mit Katharina, Lee und mir in der Mensa und als er sich mit Lee unterhielt, wurde mir das erste Mal richtig bewusst, dass Yosuke und Lee im gleichen Sprachkurs waren. Natürlich wußte ich schon seit geraumer Zeit, dass Lee im Anfängerkurs begonnen hatte, Yosuke nach einigen Wochen in eben jenen Kurs gewechselt war und sich die beiden, ganz ohne Frage, über den Weg laufen mussten. Doch da weder Lee Yosuke, noch Yosuke Lee jemals erwähnt hatte, war mir diese offensichtliche Beziehung niemals bewusst geworden. Und auch wenn die beiden nun nicht unbedingt die besten Freunde waren, war es für mich doch vollkommen überraschend die beiden gemeinsame Erfahrungen austauschen zu sehen.
Heute begannen wir etwas Neues im Unterricht: Das Schreiben von eigenen Essays auf japanisch. Da wir uns nun noch in der Vorbereitungswoche befanden, lernten wir heute wie man korrekt ein japanisches Formblatt ausfüllt, denn im Gegensatz zu Deutschland, schreibt man Aufsätze in spezielles, kariertes Papier. Dabei gibt es dann allerlei Feinheiten zu beachten, wie man Punkte, Kommata und Anführungszeichen zu setzen hat, in welche Kästchen der Titel oder der Name des Autoren gehören, welche Kästchen frei zu bleiben haben, wie man Zahlen und westliche Begriffe zu notieren hat und allerlei andere nützliche und unnütze Regeln. Das mag sich nun kompliziert anhören, ist aber eigentlich recht simpel und benötigt nicht mehr Zeit als maximal eine Viertelstunde. Da aber neunzig Minuten Unterricht gefüllt werden mussten und wir zu allem Überfluss bei der langweiligen und regelkonformen Frau Ezoe Unterricht hatten, wurde der Unterrichtsstoff in die Länge gezogen, so wie zu wenig Butter, die auf zu viel Brot breitgeschmiert wird. Und am Ende mussten dann jeder für sich eine DIN A4 Seite japanischen Text komplett in das spezielle Aufsatzpapier übertragen, ganz stur Zeichen für Zeichen. Und als dies beendet war, bekamen wir ein neues Blatt und mussten wieder von vorne beginnen. Hätte ich mich nicht die ganze Zeit über mit Florian und Marius aus Bremen unterhalten, um die Langeweile zu bekämpfen, so hätte ich keine Hemmungen gehabt zu sagen, dass ich einfach nur neunzig Minuten meines Lebens verschwendet hätte. Doch so nutzte ich die Zeit und stärkte die Bande zu meinen beiden Sitznachbarn.
Als ich nachmittags nach Hause kam, fand ich meinen Schlüssel vollkommen überraschend auf dem Schreibtisch liegen, wo er auch hingehört. Zwar war ich mir sicher alle Dinge auf meinem Schreibtisch am Morgen mindestens fünfmal gewendet und von der einen zur anderen Seite geräumt zu haben, doch offensichtlich muss mir mein Schlüssel entgangen sein, der geradezu schadenfroh auf der Mitte des Tisches lag. Da ich schon bald mit meinen Schlüssel zum Essen mit meinen Freunden aufbrechen musste, suchte ich nach einem Weg Yosuke seinen Schlüssel zukommen zu lassen. Und da kamen mir meine neugeknüpften Beziehungen vom Mittag gerade recht: Ich übergab Florian aus Bremen Yosukes Schlüssel und heftete Yosuke einen Zettel an die Wohnungstür, der ihm mitteilte, dass er zwei Wohnungen weiter klingeln sollte. Kurz darauf traf ich mich mit Katharina vor dem Wohnheim und gemeinsam liefen wir zur Dokkyo-Universität, wo wir uns mit Nobuko und Tak verabredet hatten. Auf dem Weg kamen uns Yosuke und Lee entgegen, die am Abend gemeinsam zum Karaoke singen gehen wollten. Das unerwartete Aufeinandertreffen nutzend, erklärte ich Yosuke sogleich wie er an seinen Schlüssel kommen würde, dann verabschiedeten wir uns voneinander und gemeinsam mit Katharina lief ich zur ICZ, wo Nobuko bereits wartete.
"Tak ist ein Chaot!", verkündete Nobuko bereits recht schnell, denn Tak wollte sich mit uns am Bahnhof, und nicht wie vorher vereinbart in der Dokkyo-Universität treffen. Also brach ich mit Katharina und Nobuko im Schlepptau in Richtung des Bahnhofs von Soka auf und fragte mich warum Tak am Bahnhof war und uns nicht wie besprochen nach seiner Vorlesung in der ICZ kam. Auf dem Weg telefonierte Nobuko mit ihm und als sie auflegte, teilte sie Katharina und mir hysterisch mit, dass irgendein Mädchen bei Tak wäre, das gemeinsam mit uns Essen gehen würde. Natürlich wunderten sich Katharina und ich, dass Tak unangemeldet ein fremdes Mädchen zum Essen einlud und wir waren beide auch ein wenig verärgert, schließlich hatten wir uns auf einen Abend zu viert vorbereitet, doch unsere Verwunderung und Verstimmung war gar nichts im Vergleich zu Nobuko. "Warum lädt der denn einfach irgendsoein Mädchen ein? Die kann er mit zu sich nach Hause schleppen, aber doch nicht zu unserem Essen!", sie redete sich regelrecht in Rage, was Katharina mit einem herzhaften Lachen und beipflichtenden Kommentaren belegte. Ich hingegen hörte etwas ganz anderes aus Nobukos Worten heraus, als nur Verärgerung: nämlich Eifersucht. "Warum war Tak mit dem Mädchen im Kino? Der kennt die doch gar nicht! Die ist wahrscheinlich so ein geschminktes Püppchen, die sich an jeden ranschmeißt!", "Das war unser Abend. UNSER Abend. Und da lädt der einfach irgendsoeine dahergelaufene Kuh ein!", "Jetzt muss uns Tak natürlich gleich seine neue Flamme unter die Nase reiben, da hab ich schon gar keine Lust mehr Essen zu gehen.". Nobuko ließ sich für mein Empfinden viel zu heftig über das unbekannte Mädchen aus und schaffte es kaum ihre Verletztheit zu kaschieren. Auch als ich versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, begann Nobuko immer und immer wieder damit sich über das unbekannte Mädchen auszulassen, dass sich ihrer Meinung nach vollkommen ungerechtfertigt an Tak vergehen würde. Und so regte sich in mir der Verdacht, dass Nobuko heimlich in Tak verliebt war. Während Nobuko ausgiebig alles schlecht redete, was sie im Telefonat mit Tak über die Frau an seiner Seite erfahren hatte, wurde Katharina und mir allmählich bewusst, dass das Mädchen über welches sie sich so furchtbar aufregte, niemand anderes war, als Cassy, das Mädchen aus unserem Sprachkurs. Und so sah ich bereits einen Abend auf mich zukommen, an dem ich zwischen zwei Fronten geraten würde.
Am Bahnhof von Soka trafen sie dann aufeinander. Als Nobuko Cassy verbissen lächelnd die Hand schüttelte, konnte ich sehen wie sie versuchte mit ihren Blicken ihre neuerklärte Erzfeindin zu töten. Und auch als wir kurze Zeit später im Restaurant saßen, spürte ich förmlich die eisige Kälte, die von Nobuko ausging. Offenbar war ich allerdings der Einzige, denn weder Tak, noch Katharina schienen etwas von dem stummen Krieg mitzubekommen, der eigentlich ein Ein-Mann-Krieg war, da Cassy keine erkennbare Abneigung gegenüber Nobuko hegte. Mir entging allerdings nicht, wie Nobuko sich in ihrer Ecke abkapselte und immer wieder begann Tak in japanische Gespräche zu verwickeln, bei denen selbstverständlich weder Katharina, ich noch Cassy etwas verstehen konnten. Tak versicherte an diesem Abend mehrmals, dass Cassy und er nur Freunde seien, doch dies schien Nobuko nicht wirklich zufrieden zu stellen und trotz meiner ständigen Bemühungen sie stärker in unsere Gespräche einzubinden, blieb sie eher für sich.
Dennoch hatte ich einen sehr angenehmen Abend. So wie ich es bereits von Taks Geburtstag her gewohnt war, bestellten wir alles Mögliche durcheinander und jeder konnte alles probieren. Natürlich machte ich regen Gebrauch von meiner Freiheit und probierte jedes Gericht, das mir vor die Stäbchen kam. Um alle an meinen kulinarischen Genüssen teilhaben zu lassen, habe ich versucht jedes Gericht mit meiner Kamera zu fotografieren. Zudem habe ich ein kurzes Video von allen Anwesenden gemacht, um Momente wie diesen Abend festzuhalten. Erst gegen elf Uhr verließen wir das Lokal und nach einem abschließenden Gruppenbild verschwanden Tak und Nobuko im Bahnhof, um nach Hause zu fahren, während Katharina, Cassy und ich gemeinsam ins Wohnheim liefen. Auch wenn Nobuko sie bis zuletzt nicht ausstehen konnte, verstand ich mich mit Cassy sehr gut und auf eine seltsame Weise verbindet uns dieser gemeinsame Abend.


Bild1: Vor den georderten Gerichten bekommt man in japanischen Restaurants immer eine kleine Vorspeise gereicht: In diesem Fall eine Kombination aus mariniertem Fisch (mittleres Schälchen), einer Art Gemüse (linkes Schälchen) und irgendeiner Art Seegetier mit Paprika und Zwiebel (rechtes Schälchen)


Bild2: Tak bewirbt ein Gericht, das aus Fisch und einer Art deftigem Pudding bestand. Obendrauf natürlich reichlich Soße. Im Hintergrund sieht man eine japanische Speisekarte, in der alle Gerichte farbig abgebildet sind.



Bild3: Für alle die denken japanisches Essen würde nur aus extravaganten Gerichten bestehen: Im Vordergrund Tomatenspieße, dahinter Kroketten mit Käsefüllung.



Bild4: Tak, Katharina, Nobuko...


Bild5: ...Cassy und ich.


Bild6: Gebratener Fisch mit "taikon", einem Mus aus irgendeiner Rübe.


Bild7: Nudeln in Sahnesoße. Ja, auch so etwas ist in Japan verbreitet.



Film1: Tak und die Nudel. Danach eine Kamerafahrt über alle Anwesenden: Tak, danach Katharina, Nobuko und zuletzt Cassy.


Bild8: Ein gelungener Schnappschuss von mir, während ich versuche den deutschen "sch"-Laut zu erklären.


Bild9: Mein Nachtisch: heißer Schokokuchen mit Vanilleeis und Soße aus Waldfrüchten.


Bild10: Ein Gruppenbild zur Erinnerung: Ich, Nobuko, Katharina, Tak und Cassy.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

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