Es war Tag 215 in Japan, als ich meinen ersten Test des neuen Semesters schrieb. Viel hatte sich nicht geändert: die Aufgabenstellungen waren größtenteils die Gleichen, das Pensum war etwa identisch und auch die zur Verfügung gestellte Zeit hatte sich im Vergleich zum letzten Semester nicht verändert. Und all dies, obwohl ich nun einen Kurs höher eingestuft worden war. Was sich allerdings geändert hatte, waren die Konversationsprüfungen, in denen man fortan keine vorbereiteten Dialoge mehr vortragen sollte, sondern sich in freier Konversation beweisen musste. Und darum widmete ich in den Tage vor der Prüfung meine Zeit nicht nur dem Erlernen neuer Schriftzeichen und Worte, dem Büffeln von grammatischen Konstruktionen und dem Durchlesen und Verstehen von Texten, sondern erstmals auch dem auswendig lernen von festen Wortkonstruktionen, die für das Konversationsthema dieser Lektion gefragt waren. Diese Woche waren dies Ausdrücke zum Zögern und Überzeugen und so wiederholte ich immer wieder Satzbauteile, die entweder ausdrückten, dass ich unentschlossen war, oder Konstruktionen, die ich benutzte, wenn ich Gründe aufzählen wollte, um jemanden zu überzeugen. Und als ich schließlich im Klassenraum saß und Frau Sakatani den Raum betrat, hatte ich das erste Mal seit langer Zeit ein gutes Gefühl wegen der anstehenden Konversationsprüfung, da ich mich für gewappnet hielt. Die Freude hielt aber nicht lange, denn wie sich herausstellte hielten wir keinen Dialog mit dem Lehrer, sondern mit einem Partner. Und dieser Partner war jene Person, mit der wir zwei Tage zuvor bereits Konversationstraining hatten. Also Ma.
Ich weiß, dass mein gesprochenes Japanisch nicht perfekt ist, ich einige Fehler einbaue und für Muttersprachler gelegentlich schwer zu verstehen bin. Das ist aber kein Vergleich zu dem Japanisch, das Ma spricht. Er ist nämlich bekannt dafür nicht verstanden zu werden, oftmals nicht einmal von den Lehrern, die darauf trainiert sind mit Ausländern zu arbeiten und Hilfestellungen zu geben. Dabei ist das Schlimmste an Mas Japanisch nicht sein abenteuerlicher Satzbau, seine vollkommen falsch verwendeten Ausdrücke und das Fehlen jeglichen Gefühls für Intonation, sondern seine wirklich unvergleichlich schlechte Aussprache. Er spricht mit solch einem starken Akzent, dass der Kurs regelmäßig in Kichern ausbricht, wenn Ma im Unterricht eine Bemerkung einwirft, da niemand etwas versteht und der Lehrer oftmals ratlos an der Tafel steht und dreimal Nachhaken muss. Und mit eben jenem Ma hatte ich nun Konversationsprüfung und sollte einen freien Dialog führen, in dem es vor allem darauf ankam auf das Gesagte des anderen zu reagieren.
Hilflos saß ich in der Konversationsprüfung und Frau Sakatani und Ma blickten mich erwartungsvoll an. In meinem Kopf drehte ich die Silben, die ich glaubte verstanden zu haben, hin und her und versuchte sie in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Was nützte es mir all die hilfreichen Ausdrücke eingeprägt zu haben, wenn ich einfach nicht verstand, was mein Gegenüber mir sagte. Ich hatte ihn zu einem Konzert eingeladen und er müsste laut Aufgabenstellung aus irgendeinem Grund zögern. Doch aus welchem Grund? Wie sollte ich ein Gegenargument finden, wenn ich nicht wusste wozu? Also tat ich, was mir in dieser Situation angemessen schien und bat Ma seinen Satz noch einmal zu wiederholen. Da blickte er selbstgefällig zu mir hinüber und aus seinem Mund strömte ein Schwall abgehackter, unzusammenhängender Silben, mit dem ich ebenso wenig anfangen konnte, wie zuvor. Ich blickte verunsichert und überlegte, was ich antworten sollte, bis ich mich entschied einfach noch einmal nachzufragen und bat ihn diesmal ausdrücklich langsam und deutlich zu sprechen. Ich sah bereits wie Frau Sakatani etwas auf meinem Bewertungsbogen vermerkte, als Ma einmal mehr irgendwelche Silben von sich gab. Und so saß ich da und war in der schlimmsten Situation, in der man sich in einer Konversationsprüfung befinden konnte. Und da mir nichts anderes übrig blieb, ergriff ich die Flucht nach vorne und spulte einfach einen nichtssagenden Fluss von Floskeln ab. "Das ist aber schade. Tja, da kann man wohl nichts machen. Kannst du denn nichts ändern? Du hast doch gesagt, du würdest mitkommen wollen, nicht?". Frau Sakatani zog eine Augenbraue hoch und begann eifrig auf meinen Bewertungsbogen zu kritzeln, während der Dialog irgendwie zu einem Ende kam.
Auf dem Rückweg von der Konversationsprüfung wurde Ma nicht müde auf meinem Nichtverstehen herumzureiten. "Ich habe XXX gesagt.". Und weil ich immer noch nicht verstand, was er mir sagen wollte, fragte ich noch einmal höflich nach. "XXX.", sagte Ma und schaute mich aufdringlich an. "Tut mir leid, das verstehe ich nicht.". "XXX.", wiederholte er von neuem und ich wunderte mich, dass ihm dieses Spiel nicht langweilig wurde. Konnte er es denn nicht verständlicher ausdrücken? "Das habe ich noch nie gehört.". Mit großen Augen blickte er mich an: "XXX!". So freundlich es ging, versuchte ich es möglichst klar und verständlich zu formulieren: "Ich verstehe es nicht.". "XXX!", rief Ma und es hätte mich nicht gewundert, wenn jeden Moment jemand die Tür aufgemacht und um Ruhe gebeten hätte. "Ich habe das noch nie gehört. Ich verstehe es nicht!". Da ergriff Ma gewaltsam meinen Arm, zerrte mich gegen die Wand und brüllte mir von neuem "XXX!!!" ins Ohr. Ich riss mich los und ohne noch ein Wort zu sagen lief ich zurück in den Klassensaal und schrieb den Test zu Ende. Und ich hoffte inständig nie wieder mit Ma zusammenarbeiten zu müssen.
Am Nachmittag führte uns Frau Sakatani in eine neue Lektion ein und bei dieser Gelegenheit erklären die Lehrenden stets das neue Vokabular. Ein recht sinnloses Unterfangen, wie ich finde, da die Erklärungen meist so unverständlich, allgemein oder irreführend sind, dass man hinterher doch nicht weiß, was für Wörter man vor sich stehen hat. Aus weiser Voraussicht schlage ich die Wörter darum stets vor dem Unterricht nach und gleiche die Lösungen dann mit den Erklärungen der Lehrer ab, um mir regelmäßig an den Kopf zu greifen, wenn ich bedenke, dass die Erklärung des Lehrers zu jenem Wort führen soll, dass ich mir bereits im Vorhinein notiert habe. Manchmal sind die Erklärungen so allgemein, dass man eigentlich jedes Wort in den Beispielsatz des Lehrers einfügen könnte, beispielsweise die Erklärung: "X bedeutet, nun, also man kann zum Beispiel sagen 'ein X Problem'. Ist das klar?". "Ein X Problem" könnte so ziemlich alles bedeuten. Ein schwerwiegendes Problem, ein gelöstes Problem, ein umstrittenes Problem, vielleicht sogar ein Problem mit Kriminalität, der Gesetzgebung oder der Regelung zu Überstunden. Wer hätte gedacht, dass das gesuchte Wort "nahliegend" sein sollte? Ebenso hilfreich war auch die lautmalerische Erklärung "Aaargh!!" mit dem hilfreichen Zusatz "Auf dem Meer. Klar oder?". "'Aaargh' auf dem Meer", eine scheinbar einleuchtende Erklärung für das Wort "ertrinken" oder "versinken". Ernsthafte Versuche diese Erläuterungen zu verstehen, unternehme ich nicht mehr, stattdessen lehne ich mich gedanklich zurück und erfreue mich an den komödiantischen Darbietungen der Lehrenden.
Am Abend kam ich mit meinem Mitbewohner Yosuke ins Gespräch und er fragte, ob ich abends immer laut Musik hören würde. "Nun, Musik höre ich schon des öfteren, stört dich das?", antwortete ich unsicher und bot sofort an meine Musik leiser zu machen. "Ach, du hast jetzt Musik laufen? Nein, dann ist das nicht die Musik, die ich meine.". Wie sich herausstellte hörte wohl irgendjemand im Wohnheim stets laute Technomusik, von der ich allerdings noch nie etwas mitbekommen hatte, wahrscheinlich weil ich leise immer meine Musik hörte. Yosuke wurde aber nicht müde sich über den Unbekannten aufzuregen, dessen Musik offensichtlich stets zu hören war, wenn ich nicht darauf achtete. "Beschwer dich doch einfach mal, wenn du die Musik wieder hörst. Orte einfach die Quelle und frag nach, ob der Betreffende nicht ein wenig leiser hören könnte.". Yosuke druckste ein wenig herum und regte sich weiter auf, doch ich verstand, dass er nicht die Absicht hatte sich zu beschweren, sondern sich lieber darüber ausließ. Ein wenig musste ich lächeln und schüttelte den Kopf: "Ich höre zwar wie er sich aufregt, aber ich verstehe nicht, warum er dann nichts unternimmt." Und so zuckte ich mit den Schultern und ging zurück in mein Zimmer. Und obwohl ich die Technomusik bis heute noch nicht gehört habe, verstehe ich dennoch wie sehr sie Yosuke stören muss.
2 Kommentare:
Die Konversationsprügung war ja ein wahrer Albtraum! Hoffentlich bleibst du in Zukunft von Ma verschont.
Schön wäre es gewesen...
Aber es kommen noch so einige Geschichten um Ma auf dich zu.
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