Es war wieder einer jener Abende. Von meinem Zimmer aus hörte ich die anderen Studenten gröhlen und feiern und durch meine Balkontür wehten in unregelmäßigen Abständen Schwaden von Zigarettenqualm hinein. Es war schon fast zehn Uhr und obwohl ich bereits am frühen Morgen etwas geplant hatte, vertrieb ich mir die Zeit mit dem Fertigstellen meiner Präsentation und hielt mich tapfer wach. Ich hatte es ihr versprochen. Und als ich schon dachte, dass niemand mehr kommen würde, klingelte es an der Tür. Noch einmal warf ich einen Blick in mein säuberlich aufgeräumtes Zimmer, dann schlurfte ich in T-Shirt und Jogginghose zur Tür. Und dort stand Nikki mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen.
"Ich hoffe es ist nicht zu spät. Wenn ich störe, gehe ich wieder."
"Nein, komm herein. Ich habe dir doch versprochen, dass du vorbeikommen kannst, wenn du eine Ausrede brauchst, um von der Party zu verschwinden."
"Und die habe ich auch gebraucht. Grundsätzlich habe ich nichts gegen Feiern, zumindest nicht, wenn man mit Freunden und guten Bekannten etwas unternimmt. Aber auf den Partys hier im Wohnheim sind nur Leute, die ich nicht kenne, da fühle ich mich ziemlich unwohl."
Durch die Küche führte ich Nikki in mein Zimmer und bat ihr an auf dem Bett Platz zu nehmen, eine andere Sitzgelegenheit gab es in meinem Zimmer nicht. Aufmerksam schaute sie sich um und musterte interessiert jede Ecke meines Zimmers.
"Du hast eine ziemlich saubere Wohnung für einen Jungen."
"Ich habe vorhin aufgeräumt. Sonst ist es um einiges chaotischer hier."
"Also ich habe hier im Wohnheim schon einige Wohnungen von ausländischen Studenten gesehen, schließlich bin ich schon seit fast zwei Jahren hier in Japan, und so eine saubere Wohnung habe ich bisher nur sehr selten gesehen. Finde ich gut."
Und so saßen wir zu zweit in meinem Zimmer und unterhielten uns. Neugierig befragte ich Nikki zu ihrer Heimat den Philippinen und sie erkundigte sich im Gegenzug interessiert über mein Leben in Deutschland. Und so tauschten wir uns über die Gegensätze der beiden Länder aus und lernten voneinander.
"Es macht so viel Spass sich mit dir zu unterhalten. Wenn andere hören, dass ich aus den Philippinen komme, sind sie immer vollkommen desinteressiert. Sie wissen nichts über mein Land und wollen es auch nicht. Viele kommen mit dem engstirnigen Interesse hierher etwas über Japan zu lernen, dabei gibt es so vieles mehr zu entdecken. Ich finde es toll, dass du so aufgeschlossen bist auch so großes Interesse an anderen Kulturen zeigst."
"Bevor ich hierher gekommen bin, dachte ich immer, dass ich hier nur etwas über Japan lernen würde, aber schon recht schnell ist mir aufgefallen, dass sich unzählige Möglichkeiten bieten, um zahlreiche andere Kulturkreise kennenzulernen, nicht zuletzt seine eigene Kultur. Noch nie habe ich so viel über mein eigenes Land nachgedacht, denn man hat selten die Möglichkeit Aspekte seines Landes mit anderen Ländern zu vergleichen, um Dinge an seinem Land schätzen zu lernen oder Sachen, die man aus Gewohnheit seit Jahren hingenommen hat, zu hinterfragen."
"Du sagst es. Ich hatte schon immer ein Interesse an fremden Kulturen, wollte raus aus meinem Land und die Welt sehen, aber erst wenn man einmal woanders war, merkt man, was einem an dem eigenen Land fehlt, was einem wichtig ist, aber auch wo Missstände im eigenen Land sind. Ich dachte immer, dass es jedem so ginge, musste aber feststellen, dass viele Studenten leider nur diesen Tunnelblick haben. Sie kommen aus Interesse an einem Aspekt des Landes hierher und kümmern sich nicht um den Rest. Weder um ein umfassendes Bild des Landes, noch um all die anderen Kulturen."
"Das ist mir auch aufgefallen. Einige kommen hierher und zeigen so gar kein Interesse an all den Dingen, die man entdecken, an denen man wachsen kann. Vielleicht sind wir wirklich Ausnahmen, weil wir uns bewahrt haben noch ein kindliches Interesse an Dingen zu zeigen. Ich bin fasziniert von allem, was ich mitnehmen kann aus meinem Japanjahr. Nicht nur über Japan, auch über China, über die U.S.A., Laos, Korea, die Philippinen und nicht zuletzt mein eigenes Land."
Und so tauschten wir uns über unsere Heimatländer aus. Ich lernte die geografischen und kulturellen Grundlagen der Philippinen: Wo sie lagen, aus welchen Hauptinseln sie bestanden, wo sich die Hauptstadt befand und wie sie hieß, welchen Bezug die Bevölkerung zu Religion hatte, was man aß, welche Einflüsse die ehemaligen Kolonialherren auf die Kultur hinterlassen hatten und vieles, vieles mehr. Und im Ausgleich dazu erzählte ich über Deutschland und seine Eigenarten: Wo es lag, was die Hauptstadt war, wie sich verschiedene Traditionen und Bräuche innerhalb des Landes stark unterschieden, welchen Stellenwert Religion hatte, welche Auswirkungen der zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, wie sich die zunehmende Globalisierung auf das Alltagsleben, die Kultur und die Sprache auswirkte und viele andere Dinge. Und so wuchsen wir aneinander, tauschten uns aus und verglichen unsere Heimatländer mit dem, was wir über Japan gelernt hatten: Deutschland hatte den schlechtesten Service und die unfreundlichsten Menschen, aber ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein und viel Freiraum für die individuelle Entfaltung, Japan ein ausgeprägtes Bewusstsein und einen Stolz für die eigene Kultur, eine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft im Umgang miteinander, wenn auch oft recht aufgesetzt, und viele Probleme im Umgang mit Ausländern, während die Philippinen die herzlichsten und direktesten Menschen waren, insbesondere im Umgang mit Ausländern, dafür aber kaum eine eigene Identität als Nation hatten und kulturell, politisch als auch wirtschaftlich unter den Kolonialherren und Regimen der Vergangenheit litten.
"Ich habe dir ein Buch mitgebracht."
"Du liest?"
"Wenn immer ich dazu komme. Es kommt oft nicht sehr gut an, wenn ich jemandem sage, dass ich lese, aber ich denke dir kann ich es erzählen. Es scheint heutzutage ein wenig aus der Mode gekommen zu sein sich für Bücher zu interessieren, aber wenn ich ehrlich bin, kann ich Tage mit meinen Büchern verbringen. Manchmal muss ich mich abends dazu zwingen mein Buch aus der Hand zu legen, um zu lernen oder schlafen zu gehen."
"So ging es mir früher auch. Seit dem Studium habe ich aber kaum noch Zeit zum Lesen. Das ist eigentlich ziemlich schade. Vielleicht sollte ich wieder damit anfangen. Zum Beispiel mit deinem Buch: Ist es dein Lieblingsbuch?"
"Nicht mein Lieblingsbuch, aber es steht recht weit oben in meiner Rangliste. Ich fand es sehr gut und es regt zum Nachdenken an."
"Das hört sich gut an. Ich hoffe ich werde die Zeit finden es durchzulesen, bevor ich nach Hause gehe."
Und so redeten wir noch eine ganze Weile lang, bis Nikki gegen halb zwölf schließlich aufbrach. Ich hatte eine Menge gelernt, nicht nur über die Philippinen, und stellte gedankenverloren Nikkis Buch auf meinen Schreibtisch. Dann machte ich mich fertig zum Schlafen, stellte meinen Wecker und bereitete mich auf eine kurze Nacht vor. Schließlich würde ich schon bald wieder Besuch bekommen.
Um halb vier Uhr morgens klingelte mein Wecker und ich war überrascht wie leicht es mir fiel aufzustehen, obwohl ich gerade einmal vier Stunden geschlafen hatte. Ich schlüpfte in mein T-Shirt und meine Jogginghose, baute meinen Laptop auf dem Schreibtisch auf, stellte Essen und Trinken zurecht, baute mein Bett zu einem bequemen Sofa um und wartete. Schon recht lange hatte ich auf diese Nacht gewartet, da kam es auf die letzten paar Minuten auch nicht mehr an. Vor knapp zwei Wochen hatte ich durch Zufall im Internet gelesen, dass es wieder einmal jene Zeit des Jahres war, in der die Länder Europas im musikalischen Wettstreit gegeneinander antraten: Der Eurovision Song Contest stand vor der Tür. Eigentlich war es mehr ein Kultereignis, als ein ernstzunehmender internationaler Gesangswettbewerb, doch das tat meiner Vorfreude keinen Abbruch und so hatte ich mich bereits vor einer Woche mit einer Freundin übers Telefon bis spät in die Nacht hinein über die Beiträge der teilnehmenden Länder ausgetauscht und Listen mit Favoriten erstellt. Doch nun war der Abend gekommen, an dem in Europa wieder Millionen von Fernsehzuschauern das Spektakel anschauen würden, um den Star des Abends zu küren, und ich war von Japan aus dabei. Dank einer Liveübertragung im Internet konnte ich die gesamte Sendung mitverfolgen, für einige Stunden wieder in Europa sein und in Gedanken mit all meinen Freunden und Bekannten mitfiebern, die auch eingeschaltet hatten. Doch ein Abend mit einem der größten Fernsehspektakel wäre sehr trostlos, hätte ich die ganze Zeit alleine dagesessen, und so hatte ich meine deutsche Nachbarin Milena eingeladen ("Vorboten"), die selbst ein bekennender Fan des alljährlichen, internationalen Gesangswettbewerbes war. Mit Vorfreude hatten wir uns einige Tage zuvor für die Liveübertragung bei mir verabredet, um den Spass und die Spannung teilen zu können. Und nun war es soweit. Pünktlich um kurz vor Vier Uhr morgens kam Milena leise in die Wohnung geschlichen, in ihrer Hand eine Tüte mit Trinken und Essen, welches wir noch auf den Berg türmten, den ich bereits vorbereitet hatte. Dann setzten wir uns auf mein Bett und warteten gespannt, bis die Sendung startete.
In gewohnter Manier saßen wir die ganze Zeit aufmerksam da, schauten uns kritisch jeden einzelnen Auftritt an, tauschten unsere Meinungen aus und machten uns auf einem Zettel Notizen zu unseren Favoriten. Mal mehr, mal weniger treffend brachten wir die Auftritte auf den Punkt: "Eisprinzessin im Wolkenmeer", "DJ Bobo, finnischer Eminem", "Schwiegermuttersöhnchen mit Geige und tollen Tänzern" oder "Bauchtanz mit viel Rot" sind nur einige der Stichpunkte, die ich mir notiert hatte, und die nicht nur die Auftritte an sich, sondern auch Milena und meine scherzhaften Diskussionen um jeden einzelnen Beitrag widerspiegeln. Und irgendwo zwischen den Vergleichen von Kostümen, Stimmen, Tänzern und Bühneneffekten, kamen wir auf einen nahliegenden Kulturvergleich zu sprechen: Japan und Deutschland. Und wie schon vor einigen Stunden mit Nikki, tauschte ich mich mit Milena über die beiden Länder aus, diesmal aber nicht über das große Bild, sondern über die kleinen Dinge, persönliche Erfahrungen: Wie es uns ergangen war in den ersten Tagen und Wochen, womit wir zu kämpfen hatten, was uns fremd vorgekommen war, was uns gestört hatte, was und gefallen hatte. Und so wurde aus einem Treffen zum gemeinsamen Fernsehen ein Beisammensein zum Kennenlernen und Austauschen.
"Das müssen wir unbedingt wieder einmal machen."
"Uns um vier Uhr nachts bei mir treffen und mit Süßigkeiten vollstopfen?"
"Nein, natürlich das Austauschen und Erzählen. Naja, und das Süßigkeiten essen."
Nachdem Norwegen den diesjährigen Eurovision Song Contest gewonnen, Milena die Wohnung verlassen und ich das gröbste Chaos beseitigt hatte, ließ ich mich auf mein Bett fallen und schaute mich um. Auf dem Schreibtisch lag Nikkis Buch, auf dem Boden eine leere Packung mit Knabbersachen, daneben meine Liste mit den Bewertungen der Auftritte. Durch das Fenster schienen die Sonnenstrahlen des neues Tages ins Zimmer hinein, denn irgendwann während der Übertragung war die Sonne aufgegangen und hatte Licht und Wärme mit sich gebracht. Ich war eigentlich gar nicht müde, zu viel hatte ich erlebt, zu viele Dinge, die in meinem Kopf kreisten: Bauchtänzerinnen aus der Türkei, unfreundliche Kassierer in Deutschland, finnische Rapper, Fastfood aus den Philippinen, Momentaufnahmen von Eisprinzessinnen aus Island, Weihnachten in den U.S.A., Bilder vom strahlenden Siegern aus Norwegen und Erinnerungen an meine ersten Tage in Japan. All die Eindrücke und Gedanken vermengten sich in meinem Kopf zu einem bunten, multikulturellen Strudel, der mich tiefer und tiefer in die Abgründe der Müdigkeit einsog, bis ich schließlich eingeschlafen war.
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