Es war Tag 294 in Japan als Milena mich am Mittag zu einem Spaziergang einlud. Doch weil ich noch ein wenig Zeit brauchte, schoben wir unser Vorhaben eine Stunde auf und Milena widmete sich solange der Reparatur ihre Rades. Als ich schließlich nach knapp einer Stunde für den Spaziergang bereit war, kniete Milena vor dem Wohnheim noch immer vor ihrem Rad und bastelte daran herum.
"Kannst du mir ein wenig zur Hand gehen? Du musst mir nur diese Schraube lockern."
Ich kannte mich nicht wirklich gut mit Rädern aus, es war schon bestimmt acht Jahre her, dass ich das letzte Mal mit einem Rad gefahren war. Herumgebastelt hatte ich daran fast nie. Dennoch bot ich Milena meine Hilfe an und setzte ihren Anweisungen folgend den Schraubenzieher an, um die besagte Schraube zu lösen. Allerdings mit wenig Erfolg. Die alte, verrostete Schraube bewegte sich keinen Millimeter und ganz gleich mit welcher Kraft ich auch an ihr herumdrehte, sie weigerte sich sich zu bewegen.
"Das ist ja eine ganz schöne Klapperkiste, die du hier hast."
Mit zusammengebissenen Zähnen und zusammengekniffenen Augen versuchte ich mit aller Kraft die Schraube zu drehen. Schließlich gab ich auf.
"Oh, das ist nicht mein Rad. Nun ja, zumindest nicht ursprünglich. Der Vorgänger meiner Wohnung hat es mir überlassen und der hat es wiederum von jemand anderem erhalten. Wer weiß seit wie vielen Jahren es bereits weitergegeben wird."
Milena kniete selbst vor dem Rad nieder, den Schraubenzieher zwischen ihren Fingern, das Gesicht angespannt und alle Kraft fixiert auf die widerspenstige Schraube.
"Wahrscheinlich hat es niemand je gewartet. Nun, es ist ja auch nur dazu da in die Uni zu fahren."
Ja, auf dem Rad hatte ich Milena morgens oft auf dem Weg zur Universität getroffen. Und sie war nicht die Einzige. Auch viele der Koreaner und Chinesen im Wohnheim bestiegen allmorgendlich ihren Drahtesel, nicht zuletzt mein Mitbewohner Yosuke. Und fast alle ritten sie auf heruntergekommenen, ausrangierten Drahtgestellen durch Soka.
Räder scheinen hier in Japan wirklich populär zu sein. Nicht nur für hunderte von Studenten, die Morgen für Morgen vom Wohnhaus zum Bahnhof oder vom Bahnhof zur Universität pendeln, nein, auch für die Hausfrauen, die in der Umgebung ihre täglichen Pflichten erledigen. Ich kann mich kaum daran erinnern eine Hausfrau gesehen zu haben, die mit Tüten in der Hand durch Soka gelaufen wäre, stattdessen ist es nicht selten eine ganze Kolonne von älteren Damen anzutreffen, die alle einen Korb mit Eingekauftem vor sich auf dem Lenkrad befestigt haben. Das Rad ist hier in Japan ein Gebrauchsgegenstand, der seinen Nutzen erfüllen soll und nicht schick sein muss. Darum ist es manchmal ein wenig irritierend, wenn man schick gekleidete Geschäftsmänner oder junge, gestylte Japanerinnen sieht, die auf einem abgenutzten, klapprigen Rad durch die Straßen eiern. Und entsprechend deren reger Nutzung, findet man überall in den Städten unzählige Abstellplätze. Vor Supermärkten, vor Banken, am Bahnhof oder sogar in Parkhäusern für Autos. Es ist nicht so, als gäbe es bei uns in Deutschland keine Abstellplätze für Räder, doch die Ausmaße hier in Japan sind ganz andere. Läuft man entlang der Bank oder der Post, ist eine Seite des angrenzenden Bürgersteiges vollgestellt mit Rädern von Bediensteten und Kunden. Nahe des Bahnhofes gibt es ganze Gassen und Plätze, die mit abertausenden Rädern von Pendlern vollgestellt sind. Man kann sogar ganze Anlagen finden, in denen man sein Rad unter Beaufsichtigung kostenpflichtig abstellen kann, ganz wie ein Auto im Parkhaus.
Bild1: Räder so weit das Auge schauen kann. Ein Blick auf den Vorplatz des Bahnhofs von Soka.
Ich bin hier in Japan nie Rad gefahren. Nicht weil ich es unpraktisch fände, sondern weil ich nie ein Rad in die Finger bekommen habe. Ich habe mich immer gefragt, wo all die Räder herkommen, denn obwohl man sie an jeder Ecke stehen sieht, kann ich mich nicht erinnern jemals ein Fahrradgeschäft gesehen zu haben. Nur ein einziges Mal wurden in einem Großmarkt auch Räder angeboten. Vermutlich werden die abgenutzten Räder stets weitergereicht, sich ein Neues zu kaufen, scheint offensichtlich nicht sehr verbreitet zu sein. Aber warum auch? Solange die alten Räder noch fahren, erfüllen sie ihren Zweck. Schön müssen sie ja schließlich nicht aussehen. Letztlich hat es mich aber nicht gestört, dass ich hier in Japan ohne Rad unterwegs gewesen war, schließlich mag ich es zu laufen, meine Umgebung zu bestaunen und gelegentlich stehen zu bleiben, ein Foto zu schießen und einfach nur den Moment zu genießen.
2 Kommentare:
Du warst wahrscheinlich noch nie in Münster :)
http://picasaweb.google.com/lh/photo/fFgzj8_KYvjp5zhcJdKttQ
Nein, war ich wirklich noch nicht. Und ich bin überrascht, dass es dort offensichtlich auch solch einen Fahrrad-Boom gibt. In Marburg sieht man zwar auch Radfahrer, aber nicht in dem Maße, wie hier in Soka oder in Münster.
Tja, was man hier so alles lernen kann...
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