Die drei Stunden Unterricht bei Frau Ezoe am Montag sind einfach nur langweilig. Man kann es nicht anders sagen. Vermutlich deswegen, weil man einfach nicht zu denken braucht. Man sitzt an seinem Platz, lauscht ihren monotonen Monologen, ihrem gelegentlichen Markenspruch "Wardasjetztverständlichjadaswarverständlich." und muss nur etwa einmal die Stunde etwas sagen. Selbst wenn man das Wort öfter ergreifen wollen würde, kommt man nicht dazu, weil Frau Ezoe uns entweder der Reihe nach drannimmt oder eine Aufgabe zur Bearbeitung gibt, die jeder bearbeiten und anschließend vorstellen muss. Ein anderes Unterrichtsformat scheint sie nicht zu kennen und so sitzt man da und zählt entweder ab wann man an die Reihe genommen wird oder hat zwanzig Minuten Zeit seinen Kurzvortrag vorzubereiten, für den man eigentlich nur fünf Minuten gebraucht hätte. Das Niveau ist nicht sehr hoch, darum hat man keine Motivation zuzuhören. Neues erzählt sie ohnehin nicht, sie liest nur eins zu eins die Texte und Aufgabenstellungen aus dem Buch ab. Nicht eine lustige Anekdote kommt über ihre Lippen. Und so rauscht Woche für Woche der Unterricht an einem vorbei, ohne dass man das Gefühl hätte Lernfortschritte zu machen. Vermutlich wäre auch dieser Montag im Grau des Alltags versunken, wenn wir nicht einen Test bei Frau Ezoe geschrieben hätten. Denn dieser Test hatte es in sich.
Wenn man den Unterricht bei Frau Ezoe berücksichtigt, dann würde man einen Test erwarten, der diesen in irgendeiner Weise widerspiegelt: Simple textbezogene Aufgabenstellungen, die kein Nachdenken, sondern das Kopieren von Textpassagen aus dem Lektionstext erfordern, die Abfrage von Basisschriftzeichen, die ohnehin jeder kennt, und schließlich Grammatikübungen, die eins zu eins aus dem Buch kopiert sind. Das hatte wohl jeder erwartet, als wir am Montag unsere Testbögen ausgeteilt bekamen. Doch was wir in die Hand gedrückt bekamen, war ein wahres Feuerwerk an Unmöglichkeiten. Allen voran die Überprüfung der Schriftzeichen: Für gewöhnlich weiß man, was man zu lernen hat: Man macht sich ein grobes Bild welche Schriftzeichen eine zentrale Rolle spielten und darum höchstwahrscheinlich abgefragt werden. Zudem sieht man einigen Schriftzeichen an, ob man sie nur wiedererkennen sollte, also lesen können muss, oder ob man auch in der Lage sein sollte sie selbst schreiben zu können. Frau Ezoe fragte alles ab. Sie schien keinen Wert darauf gelegt zu haben, welche Schriftzeichen neu und welche alt, welche einfach und welche kompliziert und welche nützlich und welche vollkommen unbrauchbar waren. Es war einfach nur ein buntes Potpourri aus Schriftzeichen und Lesungen, die ich mitunter noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich war die letzte Woche krank gewesen und hatte die erforderlichen Texte nicht so gut wie sonst vorbereitet, doch ich merkte, dass bei der Abfrage der Schriftzeichen ein System fehlte. Sonst gab es immer ein System: Man hatte eine Liste an Zeichen, die man lernen musste, mal nur lesen, mal nur schreiben. Aber es gab immer eine Liste, ein System. Doch seitdem wir mit dem neuen Lehrbuch arbeiteten, gab es kein System mehr, man wusste nicht mehr was man lernen sollte. Im Unterricht lasen wir nur noch Texte, einen nach dem anderen. Wenn man eine Vokabel nicht wusste, schlug man sie nach. Niemand sagte einem mehr welche Zeichen man für den Test beherrschen musste. Am sichersten wäre es wohl alle Schriftzeichen zu lernen, doch dafür waren es einfach zu viele: Jede Woche rund fünf Texte, jeweils etwa drei Seiten lang. Würde man alle Vokabeln herausschreiben, die man nicht kennt, man hätte pro Text mehr als drei Seiten mit Wörtern, jedes zehnte davon geschrieben mit einem unbekannten Schriftzeichen. Vielleicht kann man erahnen welche Menge an Vokabular sich so innerhalb kürzester Zeit anhäuft. Und wenn dann jegliche Anweisungen oder Einschränkungen zum Lernen fehlen, sitzt man als Student vor einem Berg an Material und weiß weder ein noch aus. Frau Sakatani hatte uns letzte Woche eine einfache Regel zum Lernen mit auf den Weg gegeben: Sie sollten alle neuen Wörter aus dem Text lesen und alle fettgedruckten Schlüsselbegriffe schreiben können. Damit konnte man etwas anfangen, man hatte sich vorbereiten können. Man hatte ein System. Doch beim heutigen Test fehlte dies gänzlich. Nach dem Zufallsprinzip schien Frau Ezoe Begriffe aus den aktuellen, vorangehenden und sogar zukünftigen Texten, gelegentlich sogar aus den Aufgabenstellungen abzufragen. Mal wollte sie die Lesungen haben, dann wieder die Schreibung. Und so saß ich da, knabberte an meinem Bleistift und zerbrach mir den Kopf. Dies war kein Denksport mehr, dies war größtenteils ein zielloses Raten und Malen von Strichen.
Es wunderte mich nicht, dass jeder, der den Raum verließ, sich aufregte. Marvin schüttelte den Kopf, Paul fluchte vor sich hin und auch Nikki machte ihrem Ärger Luft. Jeder wusste, dass der Test nicht gut gelaufen war, und beklagte sich über ein fehlendes System zum Lernen. Da wunderte es auch niemanden, dass Frau Ezoe über unsere schlechten Leistungen vollkommen verwundert war, als sie uns am Nachmittag unsere Testbögen zurückgab. Dass ihr Test möglicherweise zu schwer sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Ich blickte ein wenig missmutig auf mein Ergebnis: Normalerweise kämpfte ich darum einhundert Prozent zu bekommen, dieses Mal war ich nur knapp über siebzig Prozent gekommen, dennoch war ich immer noch Kursbester. Wirklich aufregen tat sich aber niemand, die meisten nahmen es mit Humor, verglichen ihre schlechten Ergebnisse und rissen Witze über ihre Fantasielesungen und erfundenen Schriftzeichen. Ich schüttelte auch nur schmunzelnd den Kopf, ärgerte mich aber doch ein wenig über diesen Ausreißer nach unten, schließlich würde das schlechte Ergebnis meine Endnote nach unten drücken. Aber immerhin wurde neben jedem Zwischentest der Kursdurchschnitt notiert, was mich ein wenig tröstete, denn jeder würde sehen können, dass dieses Testergebnis nicht meine Schuld, sondern ein Fehler in der Konzeption des Testes war.
Den Rest des Tages verbrachten wir dann mit Konversationsunterricht bei Frau Ezoe. Das heißt, sie sprach und wir hörten zu. Thema für die heutige Stunde war das Beschreiben von Mechanismen, insbesondere Bewegungsabläufen. Und wie hätte man diese einfacher veranschaulichen können, als sie selbst vorzuführen. Darum stand Frau Ezoe den Großteil des Unterrichts vor ihrem Pult, streckte ihre Arme aus, machte Kniebeugen, kletterte eine imaginäre Leiter hoch und faltete ihre Hände, ganz zur Belustigung des Kurses. Es war ein wenig Genugtuung Frau Ezoe nach dem morgendlichen Desaster so peinlich herumzappeln zu sehen und so machten alle Teilnehmer des Kurses das, was sie am besten konnten: Sich dumm stellen. Und so führte Frau Ezoe einen Bewegungsablauf nach dem anderen aus, ohne dass die Klasse zu verstehen gab, dass sie es verstanden hätte. Deshalb blieb Frau Ezoe nichts anderes übrig als immer und immer wieder ihre Arme kreisen zu lassen, sich zur Seite zu neigen und so zu tun, als würde sie einen Purzelbaum zu vollführen. Und seit langer Zeit konnte ich den Unterricht von Frau Ezoe einmal wirklich genießen: Ich lehnte mich mit verschränkten Armen zurück und schaute zu, wie sie sich vor allen Teilnehmern zum Affen machte.
2 Kommentare:
Dass du nach einer Woche krank sein immer noch Kursbester bist... Dafuer wuerdest du jetzt im Skype ein (^) und ein (dance) bekommen ;) Schade, dass das hier nicht angezeigt wird.
Tja, jedes Medium hat eben seine Vorteile.
Trotzdem vielen Dank für dein (^) und das (dance).
: )
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