Es sind nur noch wenige Woche, dann gehe ich bereits zurück nach Deutschland. Und so denke ich immer häufiger daran, was nach einem Jahr in Japan letztlich bleibt. Ich habe Vieles erlebt, Vieles gelernt, das mir in Erinnerung bleiben wird, doch es gibt Dinge, die nicht nur in der Erinnerung leben: Zum Beispiel Freundschaften. Ich habe in meiner Zeit hier in Japan so viel neue Menschen kennengelernt, so viele Freundschaften geschlossen, so viele Menschen an meinem Leben teilnehmen lassen, dass ich stets ein wenig traurig werde, wenn ich daran denke, wie ich mich von all jenen Menschen verabschieden muss. Der Gedanke all meine Freunde hier zurückzulassen nagt an mir und am liebsten würde ich jeden von ihnen mitnehmen, jeden von ihnen um mich haben. Ich kann mir kaum noch vorstellen nicht mit Lee in die Universität zu laufen, keine Spaziergänge mehr mit Milena zu unternehmen, nicht mehr mit Tak in meinem Zimmer zu sitzen und über Gott und die Welt zu reden, mich nicht mehr im Unterricht zu Nikki umzudrehen und zu schwatzen, nicht mehr abends übers Internet mit Ayano zu sprechen. Ich habe jeden von ihnen ins Herzen geschlossen und fürchte mich ein wenig vor jenem Zeitpunkt, wenn sich all unsere Wege trennen, denn es ist nicht wie mit meinen Freunden in Deutschland: Ich bin nicht nur ein Jahr weg und komme wieder, nein, einige von meinen Freunden hier in Japan werde ich vielleicht nie wieder sehen. Wer weiß, ob ich jemals zu Lee in die U.S.A. reisen werde, zu Nikki in die Philippinen? Werden Ayano und Tak noch stets in Japan sein, wenn ich wieder einmal komme? Das sind Gedanken, die in meinem Kopf kreisen. Doch je mehr ich Angst davor bekomme, dass eine Freundschaft nach der anderen verbleichen könnte, desto entschlossener werde ich auch, eben dies nicht passieren zu lassen.
"Irgendwann werde ich dich in den Philippinen besuchen kommen. Das verspreche ich dir."
"Wirklich?"
"Vielleicht nicht nächstes Jahr, vielleicht nicht in drei Jahren, aber irgendwann werden wir uns wieder sehen."
Ich sah wie Nikki strahlte, als wir gemeinsam in der Mensa beim Mittagessen saßen.
"Du willst wirklich unsere Freundschaft aufrecht erhalten?"
"Natürlich möchte ich das. Du etwa nicht?"
"Doch! Doch, natürlich! Aber ich habe schon so viele Studenten hier kennengelernt, die mir versprochen haben Freunde zu bleiben, und dann doch den Kontakt abbrachen, nie auf meine Emails und Briefe antworteten. Viele denken nur daran, dass sie ihre Freunde in Japan zurücklassen müssen und sind betrübt, was ja auch verständlich ist, aber kaum jemand denkt an mich. Ich studiere schon seit zwei Jahren hier an der Dokkyo-Universität und Semester für Semester sehe ich neue Studenten kommen und gehen, neue Freunde kommen und gehen. Sie kommen für ein Semester, manchmal zwei, dann sind sie wieder weg und ich bin wieder alleine."
Nikki schaute eine Weile lang auf ihren Teller und stocherte mit ihren Stäbchen im Reis herum. Ich blickte zu ihr herüber.
"Lass unseren Kontakt nie einfach so abbrechen. Es passiert so oft, dass man sich Freundschaft schwört und dann irgendwann keine Emails mehr schreibt, keine Pakete mehr schickt, nicht mehr anruft. Gar nicht weil man sich nicht versteht, sondern weil man denkt, dass es nichts zu berichten gäbe, weil man zu schüchtern ist nach einigen Wochen Pause die Initiative zu ergreifen. Darum lass uns heute schwören, dass wir auch Emails schreiben, wenn der andere dran wäre, wenn vielleicht einige Wochen Funkpause waren. Lass uns niemals Angst haben dem anderen eine Email zu schreiben, niemals zu schüchtern sein um einige Zeilen um die Welt zu senden."
Ich blickte zu Nikki und sie erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln.
"Lass uns nicht "vielleicht" sagen, nicht "irgendwann". Lass uns sagen: Wir werden und wiedersehen. Ganz sicher."
"Wir werden uns wiedersehen. Ganz sicher."
Bild1: Ein Bild von meiner Freundin Nikki im Unterricht.
Wie oft habe ich es erlebt, dass Bekanntschaften mit der Zeit verbleichen, man sich aus den Augen verliert, irgendwann der Kontakt einfach abbricht. Dabei ist niemand wirklich schuld. Und so verbleichen mit den Jahren all die guten Freundschaften, die wir einst hatten, und mit ihnen die Erinnerungen an ganze Abschnitte unseres Lebens. Ich habe einmal gehört, dass die Freundschaften, die man in der Kindheit und Jugend schließt, jene sind, die uns am meisten prägen, die am tiefsten gehen. Ich weiß nicht, ob es stimmt, noch nicht, aber falls dem so ist, sollten wir an jedem guten Freund festhalten, sie an uns binden und nicht gehen lassen, denn wer weiß wie viele von ihnen wir noch finden werden. Was gibt es Wichtigeres als jene Freunde, neben denen wir nachts im Dunkeln wachliegen und sprechen, die uns lehren Dinge in einem anderen Licht zu betrachten, jene Freunde mit denen wir lachend durch den Regen rennen, an deren Schulter wir weinen können. Natürlich kann man neue Freunde finden, wenn man nur sucht, doch ob sie jemals an jene Freunde heranreichen werden, die wir aus Kindertag kennen? Vielleicht, vielleicht nicht. Wer kann das schon sagen?
"Möchtest du nicht mit uns ausgehen?"
Jessica stand vor meiner Wohnungstür und blickte fragend zu mir.
"Ich? Warum ich?"
"Es war nett mit dir beim Filmschauen. Ich dachte du würdest gerne mit uns ausgehen."
Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, dass Jessica mich fragte, ob ich nicht mit dem Briten Dan, ihr und einigen anderen ausgehen wollte, schließlich hatte ich die beiden vor einigen Tagen das erste Mal getroffen ("Anderssein").
"Danke, dass ihr mich einladet, aber ich gehe nicht wirklich in Diskotheken und Clubs. Aber wenn ihr mal etwas anderes planen solltet, also Filmschauen, Ausgehen oder Ähnliches, bin ich gerne dabei."
Jessica nickte lächelnd.
"Ich werde an dich denken."
Obwohl ich abgesagt hatte, war ich doch gerührt. Wir kannten uns kaum und doch war ich eingeladen worden. Es sind jene Momente, in denen die anderen die ersten zarten Fühler einer Bekanntschaft ausstrecken. Die ersten Anzeichen, dass an jener Stelle vielleicht irgendwann einmal eine Freundschaft erblühen wird. Und wenn man sie geduldig hegt und pflegt, wird sie vielleicht eines Tages so stark und wundervoll wie jene mit meinen Freunden aus Deutschland, Japan und all den anderen Teilen dieser Welt.
"Hast du dich extra hübsch gemacht?"
"Ich trage nur einen Rock, weil es so schwül ist."
Lee musste lachen, als ich sie auf ihren Rock ansprach, während wir gemeinsam mit Milena zur Sushi-Bar auf der andere Seite der Straße liefen. Ja, es war wirklich schwül und warm, doch wir hatten uns schon so lange darauf gefreut einmal zu dritt in die Sushi-Bar auf der anderen Seite der Straße zu gehen, dass es uns nicht störte. Ich erinnerte daran mich wie ich vor knapp zwei Wochen schon einmal in diesem Laden war, damals aber zusammen mit allen Deutschen bei ziemlich angespannten Atmosphäre. Doch mit diesem Eindruck wollte ich nicht nach Hause zurückkehren und so hatte ich mich entschlossen noch einmal im gleichen Laden Essen zu gehen, diesmal aber mit wirklich guten Freunden, von denen ich mir einen unterhaltsamen und spassigen Abend versprach. Darum hatte ich Lee und Milena eingeladen, die freudig zusagten und mit mir das Sushi-Restaurant betraten und am Fließband Platz nahmen. Und es trat alles so ein, wie ich es mir gewünscht hatte: Keine gespannte Atmosphäre wie noch damals, nein, ein unterhaltsamer, spassiger und vorallem unvergesslicher Abend, wie man ihn nur unter guten Freunden erleben kann.
Bild2: Meine Freunde Lee und Milena beim gemeinsamen Essen im Sushi-Restaurant auf der anderen Seite der Straße.
Was bleibt von all diesen Freundschaften und den Erinnerungen, die mit ihnen verbunden sind? Das ist die Frage, über die ich in letzter Zeit immer öfter nachdenke. Ich kann es nicht sagen, schließlich kann ich nicht in die Zukunft blicken. Doch ich bin entschlossen sie aufrecht zu halten, alles zu geben, um keine der wichtigen Freundschaften, die ich hier in Japan geschlossen habe, im Sand verlaufen zu lassen. Ich habe sie wirklich ins Herz geschlossen, meine Freunde hier. Jeden Einzelnen von ihnen. Und ich hoffe, dass das Band der Freundschaft uns alle ewig verbinden wird.
"Ich lade dich von ganzem Herzen in die Philippinen ein."
"Und du bist immer mit offenen Armen in Deutschland willkommen."
Nikki und ich lächelten uns an, während wir die letzten Reste von unseren Tellern aßen.
"Du hast gesagt, dass du die neuen Sieben Weltwunder sehr beeindruckend fandest, oder?"
"Ja, stimmt."
"Dann lass sie uns alle zusammen ansehen."
Ich musste lachen.
"Ja, lass uns das machen. Zusammen reisen wir um die Welt und werden alle neuen Sieben Weltwunder bestaunen."
Bild3: Eine Einladung nach Machu Picchu, einem der neuen Sieben Weltwunder, die Nikki wenige Tage nach unserem Gespräch in der Mensa heimlich in meinen Rucksack steckte.
2 Kommentare:
Ich weiß, wie das ist. Auch wenn sich meine Freundschaften "nur" über Europa erstrecken. Seit der Rückkehr habe ich etwas ganz profantes gemacht: mich bei Facebook angemeldet. Und siehe da - plötzlich waren alle ganz präsent. Dadurch, dass man neue Fotos von dem anderen sieht, sich ein Bild von ihm machen kann, andere (harmlose) Einträge auf seiner Pinnwand lesen kann, ist man selbst animiert, selbst auch kurz hallo zu sagen.
So habe ich eine Freundin kontaktiert, die ich vor 4 Jahren in Regensburg kennen gelernt hatte! Ich habe ihre Email-Adresse, aber einfach so hätte ich ihr nie geschrieben, eben aus all den Ängsten, die du auch beschreibst (sie kennt/mag mich nicht mehr etc)
Ja, Facebook scheint eine Option zu sein. Ich habe mich immer ein wenig gesträubt mich dort anzumelden, weil es wie das studiVZ ist: Man hat eine Gallerie an Bekanntschaften, zu denen man kaum eine Beziehung hat. Und um tiefe Freundschaften zu entwickeln, taugt es nicht viel. Doch dann dachte ich mir: Es kommt darauf an, was man daraus macht. Und so werde ich mich wohl bald dort anmelden, um Kontakte zu meinen Freunden außerhalb Deutschlands herzustellen. Es ist ja nicht so, als gäbe es zusätzlich nicht auch Emails, skype und die gute, alte Post. Und die guten Freundschaften habe ich ja bereits. Ich muss sie nur beibehalten.
Vielleicht kommst du auch in die Liste meiner Freunde. Schließlich bist du ja im Moment nicht in Deutschland : )
Liebe Grüße aus Japan,
David
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