Samstag, 25. Juli 2009

The story of Dan and Dave

"Oh, du meinst Dan? Dan und Jessica?"
"Das weiß ich nicht. Ich kenne sie ja nicht."
"Es müssten Dan und Jessica sein, die Briten aus meinem Sprachkurs."
"Sie sind in deinem Sprachkurs? So ein Zufall aber auch."
Das war das erste Mal, dass ich den Namen Dan hörte. Ganz zufällig in einem Gespräch mit Lee. Eigentlich hatte ich ihr nur erzählen wollen, dass es Personen gab, die man ständig sah, die einem immer wieder ins Auge fielen, die man aber letztlich doch nicht kannte. Und so hatte ich das Beispiel von dem hochgewachsenen, blonden Ausländer gebracht, der überall herausstach, sowohl mit seiner Haarfarbe, als auch mit seiner Körpergröße. Nie hätte ich in Betracht gezogen, dass eben jener Junge, der mir schon seit Wochen gleich einem déjà-vue in der Mensa und auf dem Campus über den Weg lief, gemeinsam mit Lee im Sprachkurs saß. Was für Zufälle es doch gab. Und so blieb mir der Name Dan im Gedächtnis haften und weckte in mir eine gewisse Neugier: Es gab da jemanden, dessen Namen ich kannte, der aber vermutlich gar nicht wusste, dass ich existierte.

Ich hatte mich an jenem Tag mit Lee getroffen, um gemeinsam mit ihr im Supermarkt Mittagessen zu kaufen. Und während wir zu zweit die Straße entlangliefen, hörte ich hinter mir jemanden in Englisch sprechen. Britisch um genau zu sein. Und ohne mich umzublicken wusste ich, dass Dan hinter mir lief. Für einen Moment erwog ich mich einfach umzudrehen und "Hallo." zu sagen, doch irgendwie kam mir das komisch vor, schließlich kannte er mich gar nicht. Und was hätte ich auch sagen sollen.
Es ist einer meiner wunden Punkte: Ich kann nicht auf Fremde zugehen. Es hat mir schon in meiner Schulzeit zu schaffen gemacht, dass ich Schwierigkeiten hatte jemanden einfach anzusprechen, neue Menschen kennenzulernen. In der Regel wurde ich angesprochen, die Menschen lernten mich kennen, nicht ich sie. Tak hatte mich angesprochen, Ayano hatte mich angesprochen, Nikki hatte mich angesprochen. Viele Menschen fielen mir auf, doch ich schaffte es nie von mir aus die Grenze zu einem ersten Gespräch zu überschreiten. Ich kam mir immer dämlich vor, hatte Angst, wusste nicht, was ich sagen sollte. Hätten mich in meiner Schulzeit Max und Katharina nie angesprochen, sie wären nie meine Freunde geworden, denn von mir aus hätte ich es nicht hinbekommen. Und bei einigen hatte ich es auch nie hinbekommen. Es gibt sie, die Personen aus meiner Schulzeit, die ich immer lustig, amüsant und irgendwie bewundernswert fand, die ich aber nie angesprochen hatte. Bis heute frage ich mich, welch gute Freunde und Bekannte ich hätte finden können, wenn ich mich nur getraut hätte. Und nun war ich wieder einmal im gleichen Dilemma gefangen: Ich schaffte es einfach nicht jemanden anzusprechen.
Und so lief ich gemeinsam mit Lee in den Supermarkt, hinter uns Dan und Jessica in ein Gespräch vertieft. Immer und immer wieder ärgerte ich über mich selbst, sagte mir selbst wie erbärmlich es doch wäre sich nicht einmal zu trauen jemanden anzusprechen. Und dann tat ich es einfach. Ich drehte mich auf der Stelle um, lächelte die beiden an und begrüßte sie.
"Hey, ich bin David. Ich habe euch beide schon so oft gesehen, da dachte ich mir, ich sage einfach mal 'Hallo'. Hallo!"
Jessica und Dan waren sichtlich überrascht von meinem unerwarteten Manöver mitten im Supermarkt, stellten sich aber dennoch mit knappen Worten vor. Und auch wenn wir danach kaum noch etwas sprachen, war es doch das erste Mal, dass ich mit den beiden sprach, dass ich mit Dan sprach. Und ein wenig hatte ich das Gefühl die Barriere, die mich schon seit meiner Schulzeit daran hinderte auf Fremde zuzugehen, einzureißen.

Es klingelte und ich öffnete meine Wohnungstür. Wie zu erwarten war es Lee, die mich abholte, schließlich wollten wir uns gemeinsam einen Film mit einer Freundin von ihr ansehen. Was für ein Film es sein würde? Ich wusste es nicht. Stattdessen freute ich mich jemand Neues kennenzulernen. Ich folgte Lee die Treppe hinunter und war überrascht, als sie zielstrebig auf eine Wohnung in der dritten Etage des Wohnheims zulief.
"Deine Freundin wohnt hier im Wohnheim?"
Ich deutete ein wenig verwirrt auf die Tür, an der Lee gerade geklopft hatte, hatte ich doch angenommen, dass wir in ihrer Wohnung den Film sehen würden. Lee schaute mich an und lächelte.
"Nein, meine Freundin wohnt nicht hier. Hier wohnt Dan."
"Dan? Warum gehen wir zu Dan?"
"Habe ich das nicht gesagt? Jessica und Dan schauen mit."
Und mit diesen Worten traten wir in die Wohnung von Dan ein.
Was wusste ich eigentlich über Dan? Nicht viel. Eigentlich nur Äußerlichkeiten und Stereotypen: Er war derjenige, der immer als der schwule Brite bezeichnet wurde, also nichts, was wirklich etwas über ihn aussagen würde. Ich kannte keine seiner Hobbys, keine seiner Interessen, wie auch. Und so nahm ich die Chance, die sich mir bot wahr, um Dan und die anderen Gäste ein wenig kennenzulernen.
Er saß an seinem Computer, als ich das Zimmer betrat und ihn ein wenig unsicher begrüßte. Ob er mich überhaupt noch kannte, fragte ich mich, doch die Art, mit der er mich willkommen hieß, zeigte mir, dass er mein Gesicht in Erinnerung behalten hatte. Während ich mich mit den anderen unterhielt und wartete, dass wir endlich den Film sehen konnten, schaute ich mich in Dans Zimmer um: Es war ordentlich, sehr ordentlich. Vermutlich sauberer als mein Zimmer während meines gesamten Aufenthalts in Japan je gewesen war. Neben seinem Laptop standen sauber aufgereiht gut ein dutzend Lehrbücher für Japanisch. Nicht nur Werke, die man ohnehin für den Unterricht kaufen musste, sondern eindeutig auch Literatur, die er sich selbst zugelegt hatte. Die Wand hinter dem Schreibtisch war gepflastert mit Fotos von Jungen. Eine Weile blickte ich darauf, bis ich bemerkte, dass es Dan und ein anderer Junge waren, sein Freund vermutlich. Es waren nicht jene typischen bunten, verwackelten Schnappschüsse von Freunden, von Familienmitgliedern, von Bekannten, die fast jeder hier im Wohnheim irgendwo in seinem Zimmer hängen hatte, nein, es waren professionelle schwarz-weiß Fotographien mit Stil. Ein wenig wie diese professionellen Bilder aus einem Modekatalog, schoss es mir durch den Kopf. Im Großen und Ganzen war es ein erstaunlich stilvolles Zimmer. Dafür, dass es nur für ein Semester als Unterkunft herhielt, war es sehr gepflegt und hübsch eingerichtet. Ich muss gestehen, dass ich mir nie wirklich Mühe mit dem Einrichten meines Zimmers hier gegeben hatte, wusste ich doch, dass ich schon nach einem Jahr wieder ausziehen würde.
Bevor wir begannen den Film zu schauen, machte sich Karolina, die Polin, die das gemeinsame Filmschauen vorgeschlagen hatte, am Computer zu schaffen und Dan setzte sich zu Jessica, Lee und mir aufs Bett. Und so kam es, dass ich das erste Mal ein wenig mit ihm sprach. Er studierte in Cardiff, Wales, Japanisch und Französisch und freute sich riesig über die Käse-Cracker, die Lee zum Knabbern mitgebracht hatte. Darum reichte ich während des Filmes die Tüte mit den Käse-Crackern regelmäßig zu ihm herüber und schaute ihn gemeinsam mit den anderen erwartungsvoll an, wenn im Film Französisch gesprochen wurde.
"Es war nett dich ein wenig kennenzulernen."
"Gleichfalls."
So verabschiedeten wir uns voneinander, als der Film zu Ende war und alle Dans Wohnung verließen. Ich sah wie er ein wenig neidisch auf die restlichen Käse-Cracker blickte, die Lee mir in die Hand gedrückt hatte.
"Willst du die sie?"
"Ach quatsch, behalt sie."
"Vielleicht bringe ich dir welche vorbei. Später."
Er winkte ab, dennoch sah ich wie gerne er ein paar der Cracker an sich genommen hätte. Doch ich sagte vorerst nichts und verließ mit den anderen die Wohnung.

"Ich werde an dich denken."
Das waren die Worte, die Jessica gesagt hatte, nachdem ich ihre Einladung abgeschlagen und ihr im Gegenzug zu einer anderen Unternehmung zugesagt hatte. Durch Bars und Diskotheken ziehen, das war nichts für mich, darum hatte ich abgesagt.
"Hey, kommst du mit?"
Ich hatte die Schritte auf der Treppe gehört und es doch nicht kommen gesehen: Dan kam die Stufen herauf gestürmt und lud mich überraschend enthusiastisch ein.
"Oh, ich habe bereits abgesagt, ich gehe nicht so gerne aus."
"Achso, hmm. Naja, das ist schon in Ordnung."
So wollte ich es nicht enden lassen. Nicht mit diesem betretenen Schweigen. Und so bat ich um einen kurzen Moment, verschwand in meiner Wohnung und trat kurz darauf mit einer kleinen Schachtel ins Freie.
"Ein Geschenk für dich."
"Für mich?"
Dan äugelte ein wenig misstrauisch auf die Plastikbox, die ich ihm in die Hand gedrückt hatte. Auch Jessica reckte ihren Hals, um sehen zu können, was ich Dan gegeben hatte.
"Ich habe doch gesehen, wie du sie angestiert hast."
Dan öffnete die Box und fand sie gefüllt mit den Käse-Crackern, die Lee mir einige Tage zuvor überlassen hatte.
"Wow, du hast sie extra aufgehoben? Das ist ja nett."
"Naja, ich wäre zu fett geworden, wenn ich sie alle alleine gegessen hätte. Ich schenke sie dir also nur aus reinem Selbstnutzen."
Dan musste lachen. Das erste Mal in meiner Gegenwart. Und ich hatte das Gefühl etwas Gutes getan zu haben, die dünnen Bande einer Freundschaft, die wir in unserem letzten Treffen aufgebaut hatte, zu festigen.

Es war an jenem Tag, als ich mich mit meiner Freundin Nathalie in Asakusa treffen wollte, dass ich morgens wieder einmal in Dan und Jessica rannte. Ich war gerade auf dem Weg zum Bahnhof, da liefen die beiden vor mir die Straße entlang.
"Wohin des Weges?"
"Auf dem Weg ins Fitnessstudio."
Dan deutete auf die Sporttasche, die er um die Schulter geschlungen hatte.
"Sportlich, sportlich."
"Ich glaube von mir aus wäre ich gar nicht in die Sporthalle gegangen, aber meine Mutter ist Fitnesstrainerin und kommt in ein paar Wochen nach Japan. Und wenn ich dann immer noch so fett bin, gibt's ordentlich Ärger."
"Was ist mit dir Jessica? Du trainierst auch?"
Jessica lachte hell auf.
"Ich rede mir ein, dass ich Sport betreibe, aber während Dan rennt, werde ich einfach nur im Pool liegen und aufquellen. Aber immerhin kann ich sagen, dass ich im Fitnessstudio war."
Einen Moment lief ich neben den beiden her, dann sprach ich Dan an.
"Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass wir uns immer nur per Zufall treffen? Wir rennen uns im Supermarkt über den Weg, ich gehe zum Filmschauen mit Lee und du bist da, ich rede mit Jessica und plötzlich kommst du die Treppe hochgerannt und auf meinem Weg zum Bahnhof treffe ich dich auf dem Weg zum Fitnessstudio. Irgendwie treffen wir uns immer zufällig. Ob das wohl Schicksal ist?"
"So habe ich das noch gar nicht gesehen. Wirklich lustig, wenn man darüber nachdenkt."
Und so liefen wir zu dritt in Richtung des Bahnhofs.

Es hatte geklingelt. Und sofort wusste ich, dass Lee und Jessica vor der Tür standen, um Joggen zu gehen. Darum schlüpfte ich schnell in meine abgenutzten Turnschuhe, strich mein T-Shirt glatt, sortierte die Haare unter meiner Mütze und öffnete mit einem Schwung die Tür. Doch vor mir standen nicht Lee und Jessica, sondern Lee und Dan.
"Du bist nicht Jessica."
Meine Überraschung ließ den Satz schroffer wirken, als ich beabsichtigt hatte. Dan schaute mich sichtlich erschrocken an und wusste gar nicht, was er sagen sollte.
"Was ich sagen wollte: Warum bist du hier? Joggst du mit?"
Ich hätte mir auf die Zunge beißen können. Nicht nur, weil ich Dan unbeabsichtigt angefahren hatte, sondern auch weil es offensichtlich war, dass er mit uns joggen würde. Warum sonst würde er einen dunkelblauen Jogginganzug tragen, warum sonst würde er mit einigen Bändern an seinem Oberarm einen iPod zum Musikhören befestigt haben und warum sonst würde er genau zu jenem Zeitpunkt, zu dem ich mit den anderen zum Joggen aufbrechen wollte, vor meiner Tür stehen.
"Ja, ich wollte mitkommen. Oder soll ich etwa nicht?"
"Nein, nein. Ich war nur überrascht, dass Jessica nicht da ist."
Lee drehte sich um uns eilte davon.
"Ich wollte sie gerade abholen. Ihr beiden könnt solange hier warten."
Und so ließ Lee Dan und mich alleine zurück. Zu zweit standen wir in der warmen Sommernacht im Freien, lehnten uns über die Brüstung des Wohnheims und schauten auf Soka.
"Warum bist du mitgekommen?"
"Ich bin zu faul heute ins Fitnessstudio zu laufen. Und außerdem ist es ziemlich teuer."
Eine Weile blickten wir in die Nacht hinaus. An der Straße fuhren die Autos vorbei, die Dunkelheit war mit dem Zirpen der Grillen erfüllt. Ich blickte auf meine abgenutzten Turnschuhe, mein ausgeleiertes T-Shirt und meine kurze Hose, die ich als Jogginghose benutzte, ließ meinen Blick auf Dans perfekt sitzenden Jogginganzug gleiten und schaute wieder auf mein wirres Outfit.
"Du scheinst ziemlich sportlich zu sein."
"Ach, nicht wirklich. Ich war mal sehr sportlich, aber ich bin ziemlich faul und fett geworden."
"Immerhin hast du einen coolen Jogginganzug. Ich habe keinen."
"Es zählt doch sich zu bewegen, oder? Was man dabei trägt ist doch zweitrangig."
"Ja, schon."
Für einige Momente standen wir noch an der Brüstung, schauten auf das nächtliche Soka, dann kamen Lee und Jessica und wir begannen zu joggen. Eine Viertelstunde rannten wir durch die Straßen der Stadt, vorbei an Geschäften, an Passanten, an Autobahnen, am Krankenhaus, an Wohnhäusern, in denen die Familien zu Abend aßen, dann erreichten wir schließlich einen verlassenen Spielplatz, an dem wir zur Ruhe kamen. Lee, Jessica und ich keuchten als würden wir jeden Moment zusammenbrechen, Dan schnaufte nur ein wenig uns lief über den weichen Boden, seine Arme in die Seiten gestemmt. Für einige Momente eierte jeder ziellos auf dem Gelände herum, dann fanden wir uns alle auf zwei Holzbänken ein, die um einen Baum standen. Auf der einen Bank saßen Jessica und Lee, auf der anderen Dan und ich. Und das war der Moment, in dem wir das erste Mal wirklich miteinander sprachen, nicht nur Frage und Antwort spielten, nicht nur gezwungen ein paar Worte wechselten. Wir lernten uns ein wenig kennen, knüpften an vorherige Gespräche an und tauschten uns über unsere Zeit in Japan aus.
"Wieder nur Zufall."
"Was?"
"Ich habe dich heute wieder nur durch Zufall getroffen."
"Ja, du hast recht. Ich glaube, da ist etwas dran."
"Ich glaube, wir können uns gar nicht beabsichtigt treffen."
"Wir haben es nie probiert."
"Um ehrlich zu sein, bin ich am Abend nach dem Filmschauen vorbeigekommen. Ich wollte dir die Käse-Cracker eigentlich schon viel früher zurückgeben. Zweimal stand ich an dem Abend vor deiner Tür und wollte dich einmal beabsichtigt treffen, aber es hat nicht sollen sein. Vermutlich können wir uns nur per Zufall treffen."
"Dann lass uns etwas ausmachen. Lass uns einmal ganz bewusst treffen, um dem Schicksal zu trotzen."
Und so verabredeten wir uns für einen Zeitpunkt irgendwann in den kommenden Wochen für ein geplantes, nicht zufälliges Treffen. Wir tauschten unsere Kontaktdaten aus und trafen uns am Abend über Internet, unterhielten uns vor dem Schlafengehen über Interessen, Hobbys und Belangloses. Und ich genoss es.
Als ich an diese Abend in meinem Bett lag, musste ich an jenen Tag zurückdenken, an dem ich mich überwunden hatte Dan im Supermarkt anzusprechen, an dem ich so sehr kämpfen musste meine innere Barriere zu überwinden, um einen Fremden anzusprechen. Nun kam ich vom gemeinsamen Joggen, hatte mich mit ihm übers Internet unterhalten, mich mit ihm ausgetauscht, jene Person, die ich vorher nur dem Namen nach gekannt hatte, näher kennengelernt. Ich musste ein wenig ungläubig den Kopf schütteln, als ich daran denken musste, wie weit mich dieser eine Satz damals gebracht hatte. Hätte ich mir das jemals vorstellen können? Und als ich einschlief, war ich stolz auf mich. Ja, ich war wirklich stolz auf mich. Die wehleidigen Gedanken an all die Menschen, die ich während meiner Schulzeit nie angesprochen hatte, die ich nie kennengelernt hatte, lösten sich allmählich auf. Es fühlte sich so an, als wäre die Barriere, die mich seit Jahren gehemmt hätte auf Menschen zuzugehen, allmählich gebrochen. Und statt an Gesichter von Menschen zu denken, die an meinem Leben vorüber gezogen waren, ohne auch nur die Chance zu haben daran teilzunehmen, dachte ich stolz an Dan.

Am Abend klingelte es an der Wohnungstür und in Jogginghose und T-Shirt kam ich zur Tür geschlurft. Es war meine Nachbarin Milena, die zu so später Stunde noch vorbeikam. Worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnerte mich daran, dass uns eine Wasserpfütze auf dem Boden auffiel.
"Wo kommt denn das Wasser her?"
"Ich war's nicht. Es war schon da, als ich geklingelt habe."
Ein wenig verwirrt schauten wir uns um.
"Es ist Hochsommer und bei diesen Temperaturen müsste jegliche Flüssigkeit längst verdunstet sein. Vielleicht ist irgendwo ein Rohr undicht."
Doch so sehr wir uns auch umschauten, den Boden absuchten und nach einer Erklärung suchten, wir fanden keine. Und so verschwand ich nach wenigen Minuten Gespräch mit Milena wieder in meinem Zimmer, noch immer ein wenig verwundert über das mysteriöse Wasser auf dem Boden.
Als ich mich an meinen Laptop setzte, war in meiner Abwesenheit eine Nachricht von Dan eingegangen, nichts Ungewöhnliches, schrieben wir uns in den letzten Tagen doch öfter hin und her. Also tippte ich schnell ein "Entschuldige, habe gerade mit Milena über mysteriöses Wasser auf dem Boden vor meiner Tür diskutiert." in meinen Computer. Es dauerte einen Moment, dann kam als Antwort nur ein Lachen von Dan.
"Weißt du wo das Wasser herkommt?"
"Von mir."
"Von dir? Warum schüttest du Wasser vor meine Tür?"
"Ich war auf dem Weg nach unten in meine Wohnung, als diese riesigen Insekten mitten auf dem Gang saßen. Ich habe alles probiert, aber sie gingen nicht weg. Und letztlich hat nur Wasser geholfen."
Ich musste lachen, als ich mir vorstellte wie Dan kreischend Wasser nach Insekten warf. Und dieses lustige Ereignis zum Anlass nehmend, begannen wir über Insekten und allerlei andere Themen zu sprechen. Letztlich hingen wir fast den ganzen Abend zusammen im Internet, sprachen, diskutierten, erzählten und kamen immer wieder auf Dan zurück, der Wasser nach Insekten warf. Und bevor wir unser Gespräch beendeten, verabredeten wir uns für den kommenden Abend, um gemeinsam Essen zu gehen.

Es war der Abend meines 305. Tages in Japan, als ich um Punkt acht Uhr an Dans Tür klingelte. Das war er also, der Moment, in dem wir uns das erste Mal geplant trafen, das erste Mal nicht nur zufällig übereinander stolperten. Und dann öffnete er die Tür.
"Da bin ich."
"Einmal ganz geplant und nicht nur zufällig."
"Ja, genau."
Und zu zweit liefen wir in das Sushi-Restaurant auf der anderen Seite der Straße.
Es war ein schöner Abend, ein wirklich schöner Abend. Fast drei Stunden verbrachten wir miteinander, erst im Restaurant, dann beim abschließenden Spaziergang. Und in diesen drei Stunden hatte ich ausreichend Zeit Dan näher kennen zu lernen, von mir zu erzählen und ein wenig gemeinsames Territorium zu suchen. Es war ein wenig wie ein Puzzle, dessen Teile sich zusammenfügten, als ich mich mit Dan unterhielt. Benji hieß sein Freund, der Junge, den ich auf den Fotos in seinem Zimmer gesehen hatte. Er wohnte in Frankreich und bald wollten sie zusammenziehen.
"Du magst Frankreich wohl sehr."
"Ja, ich liebe Frankreich. Definitiv mehr als Groß-Britannien. Ich bin froh, wenn ich dort zusammen mit Benji wohnen kann. Ich möchte in einer Firma arbeiten."
"Wow, du scheinst schon große Zukunftspläne zu haben."
"Nun ja, natürlich ist alles noch ein wenig wackelig, aber es ist immer gut, wenn man auf etwas zuarbeiten kann."
Und so redeten wir über unsere Zukunft, was uns unser Jahr in Japan gebracht hatte, wo es uns hinführen würde. Und nach und nach lernten wir uns besser uns besser kennen. Wir sprachen nicht nur über unsere Stärken, auch über unsere Schwächen, über Dinge, die uns verunsicherten, die an uns nagten. Und gegenseitig ermutigten wir uns unsere Träume zu verfolgen, an unseren Interessen festzuhalten, weiter voran zu kommen.
"Danke für den Abend. Ich habe es wirklich sehr genossen."
"Ich auch. Vielen Dank."
So verabschiedeten wir uns, als wir wieder am Wohnheim ankamen. Doch ich verabschiedete nicht Dan, den Briten, dessen Namen ich irgendwo einmal aufgeschnappt hatte, nein, ich verabschiedete Dan, einen guten Freund. Denn das waren wir geworden, in den letzte Wochen: Freunde. Es war jene Grenze, die man überschritt, wenn man nicht nur über jene Träume spricht, die man verfolgt, sondern auch über jene, die man aufgegeben hat, wenn man nicht nur jene Anekdoten erzählt, die einen in ein gutes Licht rückten, sondern auch jene, die einen Einblick in die Abgründe der eigenen Seele gewähren, wenn man nicht nur Fakten austauscht, sondern mit seinen Geschichten aneinander wächst, wenn man nicht nur scherzt, um die Stille zu überbrücken, sondern von Herzen lachen kann, diese Grenze war es, die den Übergang von einer bloßen Bekanntschaft zu einer Freundschaft kennzeichnete. Und heute Abend hatte ich sie überschritten.
Vielleicht wird Dan nie ein so guter Freund werden, wie Tak, Lee oder Nikki, aber darauf kommt es mir auch gar nicht an. Denn Dan wird in meinem Herzen immer einen Platz haben als der erste Freund, mit dem ich durch meine eigenen Bemühungen Freundschaft schloss. Und so ist die Geschichte von Dan und mir mehr als nur eine Aufzählung der Stationen auf dem Weg zu einer Freundschaft, sie ist ein Sinnbild dafür, wie ich hier in Japan gewachsen bin, wie ich mich verändert habe. Ich habe gelernt auf Fremde zuzugehen, Freundschaften zu schließen und über meinen Schatten zu springen. Ich habe gelernt mich von den Dämonen der Vergangenheit zu lösen und nach vorne zu blicken, mit ein wenig mehr Selbstbewusstsein und Offenheit den Lebensweg voranzuschreiten.

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