Es war Tag 305 in Japan als offiziell meine letzte Woche an der Dokkyo-Universität begann. Noch drei Tage Unterricht und ein letzter Tag mit den finalen Prüfungen standen mir bevor, dann wäre zumindest meine Unterrichtszeit in Japan vorüber. Und in Anbetracht dieses nahenden Endes war ich ein gespannt wie meine Lehrer ihre letzten Unterrichtsstunden beenden würden, ob sie uns Ratschläge und Glückwünsche mit auf den Weg geben, ob sie ein abschließendes Resümée ziehen oder ob sie einfach nur in gewohnter Manier den Raum verlassen würden.
Der letzte Unterricht bei Frau Hara, der jungen Lehrerin, die immer ein wenig wie eine Referendarin wirkte ("Dokkyo-Reprise"), war erstaunlich gut. Das heißt nicht, dass er sonst langweilig oder unnütz gewesen wäre, ganz im Gegenteil, die allmorgentliche Stunde bei ihr war im vergangenen Semester immer angenehm und informativ gewesen, auch wenn sie nie wirklich aus der Masse der Unterrichtsstunden der anderen Lehrer hervorgestochen war. Doch in Anbetracht der letzten Woche des Semesters hätte es mich nicht gewundert, wenn einige Lehrer den Unterrichtsstoff gekürzt und uns mit einem "Genießt eure Ferien!" aus dem Raum geschickt hätten. So kannte ich es zumindest aus der Universität und der Schule in Deutschland. Die erste und letzte Unterrichtswoche des Schuljahres, beziehungsweise des Semesters, war sinnlos. Man sitzt tatenlos herum, unterhält sich über Belangloses und lernt nichts Neues. Gerade darum war ich so überrascht, dass Frau Hara sich für die letzte Unterrichtsstunde noch einmal richtig ins Zeug gelegt hatte: Sie hatte eigens für das zu behandelnde Thema eine Sammlung mit Ausdrücken für unseren Kurs zusammengestellt, denn die Liste, die im Buch vorgegeben war, war ihres Erachtens nämlich veraltet. Es ging darum wie man seinem Gesprächspartner gekonnt beipflichtet, wie man sein Interesse am Erzählten des anderen bekundet.
"Ich denke, dass machen sie alle von Natur aus besser, als es im Lehrbuch erklärt wird."
Und mit diesen Worten teilte sie uns ihre Liste mit ein paar umgangssprachlichen Ausdrücken aus, die sie aus dem Internet und aktuellen Zeitschriften zusammengesucht hatte.
"Ich denke diese Formulierungen werden ihnen in Gesprächen mit Gleichaltrigen öfter begegnen, als jene im Buch."
Sie warf einen Blick ins Buch und lachte auf, während sie leicht ihren Kopf schüttelte.
"Nein, kein Mensch benutzt heutzutage noch die Ausdrücke aus dem Lehrbuch. Insbesondere niemand in ihrem Alter."
Frau Hara schloss das Buch und statt mit den vorgegebenen Materialien, arbeiteten wir mit der Liste, die sie selbst zusammengestellt hatte.
Und so hätte meine letzte Unterrichtsstunde bei der jungen Frau Hara zu Ende gehen können, ohne dass noch etwas Nennenswertes passiert wäre. Vermutlich wäre sie mir für immer als die junge, engagierte, wenn auch etwas kindlich wirkende Sprachlehrerin in Erinnerung geblieben. Zumindest für einige Monate, vielleicht auch Jahre, dann hätte ich sie voraussichtlich nach und nach vergessen. Doch so kam es nicht, denn kurz vor dem Ende des Unterrichts, verkündete Frau Hara ganz nebenbei, dass sie schwanger war.
Für einen Moment herrschte erst einmal ungläubige Stille, weil niemand so recht wusste, ob Frau Hara soeben wirklich gesagt hatte, dass sie schwanger sei. Doch schon nach wenigen Sekunden brach eine Welle an Glückwünschen und Fragen über sie herein. Wann das Baby denn zur Welt käme, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei, ob es denn schon einen Namen gäbe. So viele Fragen hagelten in der kurzen Zeit auf Frau Hara ein, dass ich nicht einmal mehr weiß, was sie auf all die Fragen antwortete. Doch ich erinnere mich an dies: Das Lächeln von Frau Hara, als der Kurs sich für sie freute, wie ihr Gesicht strahlte, als alle ihr gratulierten, und wie glücklich sie schien, als sie unsere ehrliche Freude und unser ehrliches Interesse spürte. Nicht nur ihre Freude rührte mich, nein, ich war auch ein wenig ergriffen davon, dass Frau Hara diese Neuigkeit mit unserem Kurs geteilt hatte, schließlich hätte sie auch ohne ein Wort zu sagen den Raum verlassen können. Doch sie hatte sich dazu entschlossen ihr Glück mit unserem Kurs zu teilen. Eine Ehrlichkeit, die von allen Mitgliedern des Kurses belohnt wurde.
Und so schlugen Frau Haras letzte Worte wie eine Bombe ein. Es waren jene letzten Momente der Ehrlichkeit, der Offenheit und ehrlichen Freude, mit denen mir Frau Hara letztlich im Gedächtnis geblieben ist. Binnen weniger Momente verblasste das bisherige Bild, das ich von Frau Hara hatte: Ein etwas zu großes Mädchen, das hinter dem Lehrerpult Platz saß, mit einem frechen Lächeln ihre Haare mit Spangen festklemmte und sich gelegentlich mit einem kindlichen Kichern über das Lehrbuch lustig machte. Stattdessen habe ich nun ein anderes Bild im Kopf, wenn ich an Frau Hara zurückdenke: Eine junge Frau, die mit einem strahlenden Lächeln hinter dem Lehrerpult sitzt und überwältigt von den Reaktionen der Kursteilnehmer mit einem Lächeln und Strahlen in den Augen auf die Fragen antwortet, die ihr gestellt werden. Dabei ist mir ein Augenblick im speziellen wie ein Foto ins Gedächtnis eingebrannt: Der Moment, in dem Frau Hara den Raum verließ, sich ein letztes Mal umdrehte und uns anlächelte. Wie sich alle bei ihr bedankten, ihr von Herzen alles Gute wünschten und Paul neben mir sagte: "Und passen Sie gut auf Ihr Baby auf.". Und für einen kurzen Moment glaubte ich eine kleine Träne in Frau Haras Augen aufblitzen zu sehen. Das ist das Bild, das mir in den Kopf kommt, wenn ich an Frau Hara, meine Sprachlehrerin an der Dokkyo-Universität zurückdenke.
2 Kommentare:
Das ist ja sehr ergreifend. Bei dem vielen Glück kommen einem beim Lesen schon fast selbst die Freudentränen in die Augen :-).
Das mache ich für meine Stammleser doch immer wieder gerne : )
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