Eines muss man Tak lassen: Er schafft es mich mit seinen Besuchen immer wieder von Neuem zu überraschen. Manchmal kommt er für einen Kurzbesuch vorbei ("Überraschungen"), manchmal renne ich ihm unerwartet über den Weg ("Rückzieher") und manchmal steht er unerwartet vor der Tür und quartiert sich gleich die ganze Nacht bei mir ein ("Der nächtliche Besucher"). Immer wenn ich es am wenigsten erwarte, taucht er plötzlich auf. Immer überraschend, immer ein Erlebnis für sich.
"Wir müssen uns wieder einmal treffen. Hast du nächstes Wochenende Zeit?"
"Wie wäre es, wenn wir uns früher treffen? Zusammen mit Ayano?"
"Wann denn?"
"Ich bin in etwa zwei Stunden da, sitze schon im Zug nach Soka."
Etwa so verlief das Gespräch zwischen Tak und mir am Freitagabend. Wieder einmal hatte er es geschafft mich vollkommen unvorbereitet zu erwischen, denn ich saß in meinem Zimmer inmitten des Chaos der vergangenen Woche. Doch ich freute mich auf Besuch und so sagte ich ihm glücklich zu. Und irgendwann am späten Abend klingelte es schließlich und sowohl Tak als auch Ayano standen vor der Tür.
"Was ist denn hier los?"
Ayano blickte lachend zum Ende des Ganges, wo sich ein Haufen Ausländer und Japaner mit Bierflaschen in der Hand tummelte.
"Ist hier eine Party, oder so?"
"Willkommen in meinem Wohnheim. Hier ist dreimal die Woche irgendeine Party."
"Aber was feiern sie denn?"
"Das frage ich mich auch immer."
Bis nach ein Uhr nachts verbrachten wir unsere Zeit zu dritt in meinem Zimmer und feierten unsere eigene kleine Feier. Wir saßen auf meinem Bett, reichten uns meinen Laptop hin und her und zeigten uns gegenseitig Videos im Internet. Und was sich recht steif und langweilig anhört, war in Wirklichkeit einer der amüsantesten Abende, die ich hier in Japan verbracht habe. Ayano, Tak und ich ergänzten uns perfekt und von Anfang bis Ende unseres gemeinsamen Treffens entstand nicht ein einziger stiller Moment, in dem wir nicht gewusst hätten, was wir machen sollten. Wir lachten über die Versprecher von Politikern, über alte Musikvideos, staunten über übermenschliche Leistungen und diskutierten über die aktuelle Musik. Es waren keine tiefschürfenden Diskussionen, keine weitreichenden Debatten, die wir gemeinsam führten, es war einfach nur ein Abend unter Freunden mit jeder Menge Spass.
Schließlich war es Zeit für Ayano zu gehen und so zogen wir alle drei unsere Schuhe an, um Ayano durch die nächtliche Straßen Sokas nach Hause zu geleiten, dabei ist es in Japan nachts nicht einmal gefährlich durch die Straßen zu laufen. Dennoch fand ich es angebracht Ayano zu solch später Stunde nicht alleine laufen zu lassen und hatte mich somit dazu entschlossen sie wohlbehalten an ihrer Wohnungstür abzusetzen. Als wir zu dritt meine Wohnung verließen, rannte ich erst einmal in Paul, meinen Kommilitonen aus dem Sprachkurs, der angetrunken auf dem Gang vor meiner Wohnung stand. Sichtlich verwirrt schaute er mich an, da er mich noch nie zuvor zu solch später Stunde gesehen hatte, schon gar nicht mit japanischen Freunden im Schlepptau. Ich sah, wie es in seinem Kopf ratterte, als er mich mit einer Bierfahne fragte:
"Wollt ihr auf die Party? Wir feiern noch."
"Nein danke, wir gehen auf unsere eigene Party. Die geht jetzt erst los."
Paul überlegte einen kurzen Augenblick, dann nickte er und lief davon. Ich weiß bis heute nicht, ob er mir meine Antwort ernsthaft abkaufte, oder ob er merkte, dass ich mir nur einen Scherz erlaubt hatte. Wie dem auch sei, der nächtliche Spaziergang durch Soka war angenehm erfrischend. Es war bedeutend kühler als am Tag, allerdings nicht so sehr, dass man frösteln würde. Zudem hatte sich die drückende Schwüle der Regenzeit ein wenig gelegt, weshalb man problemlos mit einem T-Shirt bekleidet durch Soka laufen konnte, ohne zu frieren oder nach wenigen Metern vollkommen verschwitzt zu sein. Tak und ich setzten Ayano vor ihrer Wohnung ab, warteten bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann setzten wir uns Bewegung und schlenderten langsam zurück zum Wohnheim.
"Es tut mir leid."
"Was tut dir leid?"
"Dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich war so beschäftigt mit meinem neuen Job, mit meinem Führerschein, mit allem. Da bin ich kaum dazu gekommen auch nur..."
"Es ist okay. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß wie hart du arbeitest, wie sehr du bemüht bist es jedem recht zu machen."
Die sonst so befahrene Straße, an der wir entlangliefen, lag wie ausgestorben neben uns. Kein Motorenlärm, kein Fahrradklingeln, kein Rufen zerriss die Stille. Es gab nur Tak, mich und das Zirpen der Grillen.
"Ich weiß es zu schätzen, dass du dein bisschen Freizeit heute mit Ayano und mir verbracht hast. Es ist sicher nicht leicht alles in der Balance zu halten: Arbeit, Beziehung, Freunde. Ich weiß wie viel Mühe es dich gekostet hat heute hierher zu kommen, darum möchte ich nicht, dass du dich entschuldigst. Stattdessen will ich dir danken, dass wir gemeinsam so eine schöne Zeit verbringen können."
Tak strich sich mit dem Handrücken über die Augen und schüttelte lächelnd seinen Kopf.
"Jedes Mal. Jedes Mal wenn wir uns treffen und reden."
Wir mussten beide ein wenig lachen und Schulter an Schulter liefen wir zu zweit durch die warme Sommernacht zurück zum Wohnheim.
Mein Mitbewohner Yosuke nestelte mit seinem Schlüssel am Schlüsselloch unserer Wohnung herum als Tak und ich gegen zwei Uhr nachts wieder im Wohnheim eintrafen. Einen kurzen Moment standen wir höflich da und blickten uns das Schauspiel still an, bis ich schließlich fragte, ob ich nicht helfen könne. Nein, nein, das würde er schon hinbekommen. Noch einige Male versuchte er vergebens seinen Schlüssel in das viel zu kleine Schlüsselloch zu stecken, ehe er Erfolg hatte und die Tür mit einem Schwung aufriss.
"Hereinspaziert!"
Es war ein wenig zu laut, ein wenig zu gelallt, dennoch bedankte ich mich höflich und betrat mit Tak die Wohnung und schließlich mein Zimmer, während Yosuke am Eingang mit dem Ausziehen seiner Schuhe kämpfte. Es dauerte nicht lange, da hatte ich auf dem Boden neben meinem Bett einen Futon ausgerollt, bezogen und auch eine Decke sowie ein Kissen gefunden. Taks Schlafstätte für die Nacht war fertig. Und nicht einmal zehn Minuten später lag jeder von uns auf seinem Bett und ich schaltete das Licht aus.
Leise surrte die Klimaanlage in der Dunkelheit und blies kühle Luft durch den Raum. Gelegentlich hörte man ein Rumpeln und Quietschen aus Yosukes Raum, ansonsten war es still.
"Du wirst mir fehlen, wenn ich wieder nach Deutschland gehe."
Es waren jene Minuten kurz vor dem Einschlafen, jene Momente im Schutz der Dunkelheit, in denen man seine Seele, sein Herz offenlegt. Jene Augenblicke, in denen einem bewusst wird, warum Menschen nicht dazu gemacht sind alleine zu sein, wozu man Freunde hat. Eine ganze Weile lagen wir in unseren Betten und unterhielten uns, während wir an die Decke schauten. Wir sprachen über uns, über andere, über Wahrheiten, die man nur in jenen kostbaren Momenten erzählen konnte. Und als eben jene Kostbarkeit werde ich jene Minuten in Erinnerung behalten.
Die Sonne war bereits aufgegangen, als ein unbekannter Wecker klingelte und Tak und ich müde unsere Augen öffneten. Träge schaute ich zum Schreibtisch und blickte auf meine Uhr: Fünf Uhr morgens. Wir hatten noch nicht einmal drei Stunden geschlafen. Tak nestelte an seiner Tasche herum und kramte aus den Tiefen sein Mobiltelefon hervor, das auf Wecken eingestellt war. Ohne ein Wort zu sagen schaltete er das Piepsen ab, legte sein Mobiltelefon neben sich auf den Boden und lies sich mit einem Seufzen wieder in seine Decke fallen. Ebenso drehte ich mich in meinem Bett auf die andere Seite und schloss die Augen. Und so plötzlich wie wir geweckt worden waren, schliefen wir kurz darauf wieder ein.
"Entschuldigung."
Das war das Erste, was Tak sagte, als er später am Morgen wach wurde.
"Wie wäre es mit 'Guten Morgen'?"
Ich musste darüber lachen, dass Tak sich für das nächtliche Ringen entschuldigte, ehe er richtig wach war. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er aufstand, weil ich aufstand, und so orderte ich ihn freundlich aber bestimmt sich wieder hinzulegen und weiter zu schlafen, bis er wirklich ausgeschlafen war. Erst war er etwas unsicher, dann nickte er aber, legte sich wieder hin und schlief fast augenblicklich ein, während ich duschte, mir die Zähne putzte und in der Küche spülte, aufräumte und an meinem Computer saß. Und so verstrich der Vormittag bis ich gegen zwölf Uhr begann das Mittagessen vorzubereiten und Tak auch aufstand.
"Du hättest mich wecken sollen, dann hätte ich geholfen."
"Du bist hier aber Gast. Und als Gast kannst du schlafen so lange du willst und musst dich um nichts kümmern. Genieße einfach dein Zeit hier. Ich glaube du hattest in den letzten Wochen genug Stress. Du hast dir ein wenig Ruhe und Entspannung verdient."
"Was würde ich nur ohne dich machen."
Es dauerte nicht lange, da kam auch Ayano wieder vorbei und wir drei saßen zusammen am Tisch und aßen zu Mittag. Es dauerte nicht lange, da setzten wir unsere kleine Feier vom Vortag fort, saßen zu dritt vor meinem Computer und zeigten uns gegenseitig Videos aus dem Internet, fast so als hätten wir uns zwischendurch nie getrennt. Und so verglichen wir die Serien, mit denen wir groß geworden waren, schüttelten den Kopf über mach eine moderne Kinderserie und zeigten uns allerlei Kurioses aus dem weltweiten Netz, bis wir uns gegen zwei Uhr mittags voneinander verabschiedeten.
"Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal solch einen entspannenden Tag hatte. Danke David."
Mit einem Lächeln drückte ich Ayano und Tak, ehe sie sich winkend entfernten. Dann lies ich die Tür ins Schloss fallen und stand erst einmal einen kurzen Moment mitten in der Wohnung und war glücklich. Ich spülte das Geschirr vom Mittagessen, packte meinen Laptop weg und räumte den Futon zusammen, auf dem Tak geschlafen hatte, ehe ich mich schließlich noch einmal ins Bett legte und für ein paar Stunden schlief.
3 Kommentare:
Wow, du solltest Schriftsteller werden!
Es ist bemerkenswert, wie du über die kleinen Dinge des Alltags berichtest!
Ich liebe deine Berichte über die Treffen mit Tak!
Pass auf, dass du dir nicht dein Image ruinierst. Nicht dass du bald der coole Partygänger bist, der erst um 1 Uhr nachts anfängt, zu feiern ;-).
Vielen lieben Dank für das positive Feedback. Da macht es doch gleich viel mehr Spass zu schreiben. : )
Und Paul hat mich nie wieder auf meinen nächtlichen Kommentar angesprochen. Ich glaube er hat ihn schon längst vergessen...
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