Ich würde mich selbst nie als einen Vogelexperten bezeichnet, doch wenn ich einen Moment innehalte und nachdenke, dann fällt mir auf, dass ich schon seit meiner Kindheit viel mit den gefiederten Tieren zu tun gehabt habe. Ich hatte beispielsweise ein Memory mit Vogelbildern zum Lernen der verschiedenen Arten, ein Vogelbuch, mit dem ich immer Vögel in der Wildnis oder auf dem Balkon nachschlug, und verkleidete mich zu Fasching sogar einmal als Vogelkundler mit Fernglas, Kappe und passendem T-Shirt. Einmal fand ich im Garten meiner Oma ein Vogeljunges, das ich gemeinsam mit einer Freundin versuchte aufzuziehen, leider starb es aber schon am nächsten Tag. Irgendwie hatte ich immer angenommen, dass jeder solche oder ähnliche Erlebnisse mit Vögeln hatte und deswegen zumindest die häufigsten heimische Vogelarten benennen kann wie beispielsweise Amseln, Spatzen, Tauben, Krähen oder Schwalben. Doch heute stellte ich fest, dass ich aufgrund meiner wenigen Kindheitserlebnisse mit Vögeln zu einem regelrechten Vogelexperte geworden war.
Es war die erste Unterrichtsstunde, in der wir nicht mehr mit dem Buch, sondern mit einer frei zusammengestellten Sammlung von Zeitungsartikeln arbeiteten. Und der erste jener Artikel war ein Bericht über Schwalben. Zum Aufwärmen waren auf der Seite vor dem eigentlichen Artikel Vogelarten abgebildet, die man auf japanisch benennen sollte, doch leider übersprangen wir diesen Teil, war Frau Kitamura doch der Ansicht, dass niemand der Kursteilnehmer sich mit Vogelarten auskennen würde, geschweige denn die entsprechenden japanischen Bezeichnungen parat hätte. Ich warf einen Blick auf die Bilder und benannte die Vogelarten in Gedanken: Spatz, Krähe, Schwalbe, Taube. Das war nicht wirklich schwer. Und dann ratterte ich in Gedanken die japanischen Namen herunter: suzume, karasu, tsubame, hato. Es ging erstaunlich gut und ich begann in Gedanken alle japanischen Vogelnamen aufzulisten, die mir spontan einfielen, und ich war selbst überrascht wie viele es waren. Wo ich wohl all die Vogelnamen aufgeschnappt hatte? Ich wusste es nicht.
Ich mochte den Text, den wir lasen. Während sich die anderen abmühten all die Vokabeln zu übersetzen, konnte ich den Test aus dem Stand fast fehlerfrei und ohne Verständnisprobleme lesen. Ich kannte bereits fast alle Wörter, darunter auch Ausdrücke wie Nest, Küken oder Schnabel, und wieder einmal kratzte ich mich nachdenklich am Kopf und wunderte mich zu welchem Zeitpunkt ich mir wohl all dieses Vokabular angeeignet hatte. Es wurde das Brutverhalten von Schwalben beschrieben, dass sie ihre Jungen bevorzugt an geschäftigen Orten aufzogen, um vor ihren natürlichen Feinden wie Schlangen, Krähen, Mardern und Katzen zu schütze, und zum Brüten Holzhäuser bevorzugten. Wie ein Schwamm sog ich alles auf und hatte das Gefühl nicht einfach nur einen Text zu lesen, um Japanisch zu lernen, sondern dies aus Interesse zu tun, die Sprache trat in den Hintergrund. Bis auf einige Ausdrücke und Wörter konnte ich den Text so flüssig lesen, dass ich zeitweise sogar völlig vergaß, dass ich keinen deutschen oder englischen, sondern einen japanischsprachigen Text las.
Über die Schwalben kamen wir schließlich auf andere Vogelarten zu sprechen und hier bestätigte sich meine Vermutung: Niemand im Kurs kannte sich mit Vögeln aus. Ob die anderen denn früher keine Vögel beobachtet hätten, beim Spaziergehen nicht öfters den Vögeln zusehen und lauschen würden, sie nicht als Kinder irgendetwas mit ihnen zu tun gehabt hätten, fragte Frau Kitamura. Die anderen schüttelten verständnislos den Kopf. Eine Koreanerin schüttelte sich sogar vor Ekel. Vögel? Wer beschäftigt sich denn freiwillig mit Vögeln? Und so kam es, dass ich fast der Einzige war, der etwas über heimische Vogelarten erzählen konnte.
"Das ist ja interessant. Es gibt in Deutschland auf öffentlichen Plätzen Tauben? Füttert man die denn?"
"Nicht wirklich. Sie essen Essenreste, die auf dem Boden liegen."
"Das habe ich ja noch nie gehört."
Frau Kitamura war fasziniert und hakte sogleich im Kurs nach, ob es in anderen Ländern auch so viele Tauben in der Öffentlichkeit gab. Es herrschte Stille, bis sich schließlich Ma räusperte.
"In China essen wir Tauben einfach."
Dies war so ziemlich das Einzige, was die anderen über heimische Vogelarten berichteten, und so lauschte ich schließlich Frau Kitamura, die über Vögel in Japan sprach: In Japan gäbe es auch Tauben, doch man träfe sie meist nur an Schreinen. Auf unerklärliche Weise würden sie buddhistische Tempel meiden. Ich musste über diese Kuriosität grinsen und mir fiel ein, dass ich Tauben bisher auch nur auf dem Gelände von Schreinen gesehen hatte ("Auf dem Weg der zehntausend Tore", Bild20). Spatzen träfe man oft in der japanischen Literatur und Lyrik, weil sie ja so klein und flauschig wären, schwärmte Frau Kitamura und erfreute sich an der Vorstellung von einem Schwarm Spatzen, die mit kleinen Sprüngen über den Boden hüpften. Nach Krähen hingegen kann man in der Lyrik lange suchen, schließlich sind sie groß und plump. Über die schreibt niemand. Stattdessen veranstalten sie einen unerträglichen Lärm, reißen die Müllsäcke auf und verteilen den Inhalt auf der gesamten Straße ("Brennbar oder nicht. Das ist die Frage."). Interessiert lauschte ich jeder Anekdote, die Frau Kitamura erzählte, und war fasziniert davon wie sich die Sicht auf verschiedene Vogelarten zwischen Deutschland und Japan unterschieden.
Am Nachmittag hatten wir schließlich Grammatikübungen. Man könnte nun erwarten, dass wir Übungen zur Grammatik machten, doch die Bezeichnung "Grammatikübungen", die bei und im Lehrplan vermerkt war, ist ziemlich irreführend, denn letztlich bereiteten wir uns nur auf einen Test vor. Aber nicht auf irgendeinen Test, nein, auf einen der weltweit anerkanntesten Tests zur Überprüfung der Japanischkenntnisse. In vier Stufen war er aufgeteilt, die unterste für Anfänger, die oberste für Professionelle. Wir trainierten für die oberste Stufe.
"Es ist Frau Nakanishis Einschätzung, dass sie bereits das Potential haben die oberste Stufe zu bestehen. Darum gehen wir diese Testbögen durch. Sie haben zwanzig Minuten zum Bearbeiten."
Frau Kitamura verteilte sichtlich unwohl die Testbögen an die schockierten Kursteilnehmer und ließ uns zwanzig Minuten alleine vor ihnen sitzen. Und in diesen zwanzig Minuten bemerkten wir alle, wie schlecht wir doch noch im Japanischen waren. Das Wählen der Antwortmöglichkeiten kam einem Glücksspiel gleich: Wir hatten kaum eine der grammatischen Formen je gehört, kannten das Vokabular nicht und hatten somit keinen Clou welche Antwort man wählen sollte. Und so kreuzten wir wild durcheinander eine Antwort nach der anderen an. Das Überprüfen der richtigen Antworten war so sinnlos, dass Marvin und ich irgendwann nur noch lachten, weil es eher wie Bingo oder Schiffe Versenken war: Man traf mit Glück und ein wenig Strategie, aber nicht mit Wissen. Und so kam ich schließlich bei einer Trefferquote von dreißig Prozent an, eine magere Ausbeute, bedenkt man, dass ich ohne Lernen und nur mit Raten rein statistisch bereits bei fünfundzwanzig Prozent angekommen wäre.
"Ich sehe, dass die oberste Stufe wohl noch zu kompliziert für sie ist."
Man sah Frau Kitamura an, dass die unglücklich mit dem war, das sie Lehren musste, doch sie zog den Stoff dennoch durch. Frau Nakanishi, die autoritäre Lehrerin mit dem makellosen Lächeln, die verantwortlich für diese wenig sinnvollen Grammatikübungen war, hatte es schließlich vorgeschrieben. Die Übungen sollten uns zeigen wie kompetent wir bereits im Japanischen waren, doch in Anbetracht der Ergebnisse, wirkt dieser Satz geradezu höhnisch.
"Das war so sinnlos. Ich habe gar nichts gelernt. Wenn wir wenigstens einige der neuen grammatischen Formen eingeübt und sie nicht einfach nur stumm abgehandelt hätten..."
"Ja, du hast recht. Wer wohl auf die Idee gekommen ist, dass wir aus dem Stehgreif schon die Aufgaben für die oberste Stufe lösen können? Frau Nakanishi hat doch echt einen Vogel."
4 Kommentare:
Spatzen in der Poesie... Kann man Sumi-e als bildhafte Poesie durchgehen lassen? http://janzaremba.com/Sumi-e/FF/files/ksparrow-head-bent.jpg
Das ist zwar nicht ganz das Bild, was ich irgendwann mal gesehen hab, aber doch schon sehr schön. Ich hoff, deine Klausur heute morgen war erfolgreich :)
oh, das hier ist auch toll: http://www.pogledaj.name/sparrow-sumi-e-drawing/video/Ri-LEBbDJP4
Haha, Ich glaube sumie als Poesie zu bezeichnen, ist doch schon sehr weit hergeholt. Nichtsdestotrotz sind die Bilder ganz hübsch. Ich bewundere ja immer Menschen, die Dinge können, die ich nicht kann : )
Was wohl rauskäme, wenn WIR so ein Bild versuchen würden....nun...besser nicht dran denken...
wieso findest du das weit hergeholt?
es gibt doch vieles an poesie, das einfach nur versucht einen augenblick oder eine stimmung einzufangen. und sumie leisten doch nichts anderes.
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