Montag, 13. Juli 2009

Der Anfang vom Ende

Ich habe mich immer gefragt, wann er kommen würde: Jener Moment, in dem ich realisieren würde, dass sich meine Zeit hier in Japan dem Ende zuneigt. Irgendwann hatte er kommen müssen. Unausweichlich. Denn ich wusste zwar schon lange, dass meine Zeit hier in Japan nur begrenzt war, doch ich hatte es noch nicht realisiert. In meinem Kopf war die Zeit nach meiner Rückkehr nach Deutschland ein verschwommenes Grau irgendwo am Horizont des Bewusstseins. Man sagt Sätze wie "Lass und Dieses tun, wenn ich wiederkomme." oder "Ich sollte daran denken Jenes zu machen, wenn ich wieder in Deutschland bin.", aber bisher waren es doch nur Luftschlösser irgendwo am weiten Himmel, irgendwo da draußen in der Ungewissheit. Zumindest bis heute, denn heute kam schließlich der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass es schon bald zurückgehen würde. Der Anfang vom Ende war gekommen.
Ich schlug das Lehrbuch mit einem Seufzen zu und legte es vor mir auf den Tisch. Es war mir erst wie gestern vorgekommen, dass ich das erste Lehrbuch beendet und ein Neues begonnen hatte ("Zurückblicken"), doch nun war auch das zweite Lehrbuch schon Vergangenheit. Mit Riesenschritten waren wir in den vergangenen vier Wochen durch ein ganzes Buch voller Aufsätze und Kurzgeschichten gerast, hatte einen Test nach dem anderen geschrieben und nicht eine einzige kurze Pause eingelegt. Und so waren schließlich die finalen Wochen des Semesters eingeläutet worden. Ich blickte ein wenig wehmütig auf das nun ausgediente Lehrbuch und musste lächeln, als ich mich selbst daran erinnerte stolz darauf zu sein ein weiteres Buch abgeschlossen zu haben. Das hatte ich mir schließlich vorgenommen: Auch einmal zurück zu blicken. Es war ein wenig das Gefühl dem Ende des Semesters ganz nah zu kommen, bald nicht mehr die Schulbank drücken zu müssen. Doch eines war es nicht: Das Gefühl bald nach Deutschland zurückkehren zu müssen.
Ich markierte mir den neunten August in Gedanken. Dies war das Datum, das ich soeben für meinen Rückflug erhalten hatte. Da man Flüge ausschließlich für ein Jahr im Voraus buchen konnte, hatte ich meinen Rückflug aus Japan vor über einem Jahr auf einen beliebigen Tag gelegt. Bereits damals hatte ich gewusst, dass ich dieses Datum irgendwann verlegen und erst dann den tatsächlichen Tag für meinen Rückflug erhalten würde. Bis dahin war die Datumsaufgabe auf meinem Ticket nur ein namenloses Datum irgendwann im Juli gewesen, das ich mir nicht einmal gemerkt hatte. Doch nun kannte ich den Tag, an dem es wieder zurück gehen würde: Der neunte August. Ich blickte auf den Kalender und sah, dass es bis dahin nur noch knappe sechs Wochen waren, drei davon Unterrichtszeit an der Dokkyo-Universität. Das ließ drei Wochen zur freien Verfügung übrig, fast wie ein normaler Japanurlauber. Es hört sich so wenig an, dachte ich mir, aber vielleicht lag es nur daran, dass ich nun schon fast ein ganzes Jahr hier in Japan gewesen war und im Vergleich dazu fast jede Zeitangabe sehr kurz wirkte. Doch an eines dachte ich nicht: Daran, dass es nach diesen letzten drei Wochen vorüber war.
Da mir hier in Japan meine Finger gebunden sind, regelte netterweise mein Freund Dominic die Umbuchung des Rückfluges für mich. Und als wir uns an diesem Abend übers Internet unterhielten, fragte er mich folgende Frage:
"Was hast du denn für deine Rückkehr geplant?"
"Das weiß ich noch gar nicht. Darüber habe ich mir noch keine wirklichen Gedanken gemacht."
"Du kannst dir ja überlegen wer dich am Flughafen abholen soll und wo du danach hingehst. Ob du erst einmal zu deiner Mutter gehst oder gleich nach Marburg fährst."
Ich nickte stumm.
"Hier erwarten dich schon alle."
Und nun war er schließlich gekommen: Der Moment, in dem ich realisierte, dass es bald zurück nach Deutschland ging. Es war das nicht das Ende des Semesters, nicht mein Rückflug, vielleicht nicht einmal der Gedanke an meine Ankunft in Deutschland, es war der Moment, in dem ich daran dachte, dass andere auf mich warteten, in die Arme schließen, neugierig befragen würde, in dem mir schließlich bewusst wurde, dass sich meine Zeit in Japan dem Ende zuneigte. Noch knappe sechs Wochen, sagte ich mir stumm, dann war bereits ein ganzes Jahr in Japan vorüber. Für einen kurzen Moment hielt ich inne: Der Anfang vom Ende war gekommen.

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