Sonntag, 19. Juli 2009

Nette Japaner

Es stürmte an meinem 300. Tag in Japan, dennoch wollte ich mir in der Mittagspause im nahliegenden Supermarkt mein Mittagessen kaufen. Und so griff ich mir meinen Regenschirm, setzte meine Mütze auf und verließ das Gebäude, in dem ich bis kurz zuvor noch Unterricht gehabt hatte. Der Himmel war bewölkt und kleine Regentropfen, die von den starke Böen zwischen den Gebäuden der Universität mitgerissen wurden, peitschten mir auf die Haut. Wie ein Schutzschild versuchte ich den aufgespannten Regenschirm vor mich zu halten, um mich vor den kleinen Nadeln zu schützen, doch ich konnte mich nicht überall abschirmen, schließlich war es trotz des stürmischen, regnerischen Wetters doch heiß und schwül und ich trug nur ein T-Shirt und eine kurze Hose. Immer wieder versuchte der Wind mir den Regenschirm aus den Händen zu reißen und so festigte ich meinen Griff und stemmte mich gegen die Böen, die mir entgegenwehten. Der Schirm wollte nicht so recht in der Position bleiben, in der er sein sollte, und so zerrte und zog ich an ihm, bis er plötzlich unter dem Druck des Windes umknickte. Und so stand ich mitten auf dem Campus im Nieselregen und versuchte trotz des Windes meinen Schirm wieder zurechtzubiegen.
"Warten Sie, ich helfe Ihnen."
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass eine Frau zu mir gelaufen war. Mit einem Lächeln bat sie mich ihr zu folgen und so lief ich hinter ihr her, bis wir eine nahgelegenen Garage erreichten.
"Das passiert oft bei diesem Wetter. Warten Sie kurz, ich hole Ihnen einen stabileren Regenschirm."
Eine kurze Weile stand ich unter dem Vordach der Garage und versuchte meinen Regenschirm wieder zurechtzubiegen, doch vergebens. Er war kaputt. Und so wartete ich geduldig, bis die junge Dame wieder kam und mir einen neuen Regenschirm in die Hand drückte.
"Nehmen Sie den hier. Ihren Alten können sie dort vorne entsorgen."
Sie drückte mir einen neuen Regenschirm in die Hand und deutete auf einen nahgelegenen Container, der bereits mit beschädigten Regenschirmen gefüllt war. Ich gab zu verstehen, dass ich alles verstanden hatte, und lief mit einer Mischung aus Verbeugen, Nicken und Bedanken zum Container, warf meinen alten Schirm hinein und setzte den Weg zum Supermarkt mit meinem neuen, besseren Regenschirm fort.
Japaner sind unfreundlich. Und wenn schon nicht unfreundlich, dann doch aufgesetzt und unecht. Diese und andere Meinungen habe ich im vergangenen Jahr oft zu hören bekommen. Insbesondere zu Ausländern sollen sie distanziert und voreingenommen sein. Selbst in unseren Breiten liest man immer wieder vom geheimnisvollen Lächeln der Japaner, das keine Emotionen verraten soll: Ein mystisches Lächeln, das uns Ausländern ein ewiges Rätsel bleibt. Immer wenn ich solche Äußerungen lese und höre, dann muss ich ein wenig Lachen und den Kopf schütteln. Sicher, es mag sie geben: Unfreundliche Japaner, die insbesondere Ausländern gegenüber voreingestellt sind, Japaner mit einem ständigen Lächeln, das entweder vollkommen aufgesetzt oder nichtsagend aussieht, aber in welcher Nation gibt es diese Menschen nicht? Wer kennt sie nicht, die Dame, die über alle Türken schimpft, den alten Mann, der im Krieg gegen die Franzosen gekämpft hat und sich mit Vorurteilen nicht zurückhält. Wer könnte sagen, dass er noch nie eine Angestellte gesehen hat, deren Job es ist, dem Kunden gegenüber ein freundliches Lächeln aufzusetzen, ganz gleich wie ausfallend dieser sein mag? Überall kann man sie treffen, sowohl die distanzierten, voreingenommenen Menschen, als auch die herzlichen, interessierten Menschen. Man kann eine ganze Nation nicht in ein einziges Muster pressen. Es gibt nicht "den Japaner".
Als ich an diesem Tag von der Universität zurücklief, wartete neben der Ampel eine ältere Dame, die mich für einen Moment musterte.
"Studieren Sie an der Dokkyo-Universität?"
"Ja, ich lerne dort Japanisch."
"Wo kommen Sie her? Aus Europa?"
"Aus Deutschland."
"So ein Zufall. Meine Kinder studieren Deutsch an der Dokkyo-Universität."
"Oh wirklich? Das klingt interessant. Ist Deutsch nicht sehr schwer."
Die Frau lachte auf.
"Da müssen Sie meine Kinder fragen. Aber sie lernen sehr fleißig und kommen gut voran. In welchem Semester sind Sie?"
"Hier in Japan bin ich im zweiten Semester. In Deutschland bereits im Sechsten. Ich lernen insgesamt also schon seit knapp vier Jahren Japanisch. Dennoch bin ich noch nicht sehr flüssig."
"Ihr Japanisch ist sehr gut."
Ich lachte ein wenig und winkte ab.
"So gut bin ich wirklich nicht."
"Nein wirklich. Ihr Japanisch ist sehr gut."
Die Ampel schaltete auf Grün und nachdem ich mich herzlich bedankt und verabschiedet hatte, trennten sich unsere Wege. Und während ich nach Hause lief und das Gespräch in Gedanken noch einmal durchging, wurde mir bewusst, dass ich wirklich ein ganzes Gespräch flüssig und fehlerfrei gesprochen hatte. Mein Japanisch war wirklich sehr gut gewesen.
Gespräch wie diese sind keine Seltenheit. Ich wurde schon des Öfteren von interessierten Japanern angesprochen: Während ich Spazieren ging, im Restaurant saß, an der Supermarktkasse wartete oder wie oben beschrieben nach Hause lief. Es ist nicht so, als würde man als Ausländer ignoriert werden, als würden einem viele Menschen bewusst aus dem Weg gehen, ganz im Gegenteil: Man wird zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Einige Leute schauen nur zu dem Riesen aus Europa, doch andere suchen den Kontakt, sprechen bewusst Japanisch mit mir und lauschen interessiert meinen Eindrücken zu Japan. Seit ich hier bin, habe ich das Gefühl von vielen Japanern herzlich empfangen zu werden. Natürlich gibt es auch jene, die sich im Zug nicht neben mich setzten wollen, die mich immer und immer wieder auf Nationalsozialismus ansprechen oder einfach nur mit offenem Mund anstarren, und insbesondere meine Freundin Ayano wird nie müde sich über eben jene Landsleute aufzuregen. Doch solche Menschen gehören dazu, zu einer vielfältigen Nation. Ich habe nicht das Gefühl, dass man Ausländern gegenüber auffällig unfreundlich eingestellt wäre, aber ebenso ist Japan kein Land, in dem jeder jedem mit Freundlichkeit begegnet. Es gibt sowohl die Voreingenommenen und Distanzierten, als auch die Aufgeschlossenen und Interessierten. Es gibt jene, die mich lächelnd auf Japanisch ansprechen, und jene, die sich trotz meiner Bemühungen im Japanischen lieber versuchen in gebrochenem Englisch zu unterhalten. Es gibt jene, die im Zug zu mir schauen und lächeln, wenn sie sehen, dass ich ein japanisches Buch lese, und jene, die mich beobachten und hinter hervorgehaltener Hand "Ausländer" tuscheln. Und so sind die Japaner letzten Endes doch kein ganz so überfreundliches oder ausländerfeindliches Volk, wie uns mach eine Reportage oder manch ein Buch verkaufen möchte, denn letztlich sind die Menschen hier so mannigfaltig, wie überall auf der Welt auch. Und letzten Endes ist man doch oft selbst dafür verantwortlich, wie man behandelt wird: Wer sich weigert Japanisch zu sprechen, sich unangebracht verhält und offensichtlich kein Interesse an Japan zeigt, muss sich nicht wundern, wenn ihm die Japaner distanziert erscheinen. Und ebenso wird jener belohnt, der willens ist vorurteilsfrei in eine fremde Kultur einzutauchen, der Japaner nicht nur als Japaner abstempelt, sondern als Menschen behandelt, und bemüht ist sich den Verhaltensmustern und unausgesprochenen Regeln der Gesellschaft anzupassen.
"Was ist Ihr Traum für die Zukunft?"
Frau Sakatani blickte mich interessiert an. Ein wenig hatte ich das Gefühl, dass sie sich von meiner Antwort mehr erhoffte, als von den vorausgehenden Äußerungen wie "Fussballspieler." oder "Eine eigene Firma eröffnen und im Geld schwimmen.". Also begann ich ein wenig zu erzählen.
"Ich möchte gerne Übersetzer werden, denn ich habe oft mitbekommen, dass Menschen anderen Kulturen gegenüber erhebliche Vorurteile haben. Und vielleicht kann ich mit einigen Büchern einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung beitragen."
Frau Sakatani horchte auf und schaute mich interessiert an.
"Vorurteile? Welche Vorurteile haben die Menschen denn über Japan?"
"Nun, man hört immer von dem geheimnisvollen Lächeln der Japaner. Von Menschen, die jedem gegenüber eine Maske tragen. Von einer Gesellschaft ohne Konflikte, ohne Kriminalität. Einem Land, in dem bis heute Samurai und Geisha leben, einem Land der Spiritualität und Naturverbundenheit. Einer Nation, die in sich abgeschlossen ist. Einer Kultur geprägt von Traditionen, von schönen Künsten wie Teezeremonien, Kalligraphie und Dichtung. Aber auch von einem Land, in dem jeder Manga ließt, in dem jeder Videospiele spielt. Eine Nation, die geprägt ist von Robotern, modernen Technologien und Trends."
Hätte Frau Sakatani noch stärker mit ihrem Kopf genickt, er wäre vermutlich abgefallen. Mit einem breiten Grinsen lauschte sie meinen Ausführungen und musste sogar auflachen, als ich von Samurai, Geisha und Manga redete.
"Ja, das höre ich auch immer wieder. So viele Ausländer denken genau dies von Japan. Warum nur? Werden Sie also unbedingt Übersetzer und übersetzen Sie ganz viele Bücher. Ganz, ganz viele Bücher. Und versuchen Sie ein paar von diesen Vorurteilen aus den Köpfen der Menschen zu verbannen."
Frau Sakatani strahlte und lachte schließlich.
"Und wenn Sie dann mal berühmt sind, kann ich sagen, dass Sie mal mein Schüler waren. Dass Sie bei mir im Unterricht gesessen und Japanisch gelernt haben."

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