Sonntag, 5. Juli 2009

Was die anderen denken

Wie gerne würden wir wohl wissen, was die anderen denken. Vor allem von uns. Ich glaube ich grübele oft über diese Frage nach, über andere. Was sie über sich, über ihre Mitmenschen und nicht zuletzt von mir denken. Oft erfährt man es natürlich nie, man weiß nicht, ob man von anderen als freundlich oder nervig empfunden wird, ob man wie ein bunter Hund ins Auge sticht oder in der Masse von Menschen untergeht. Der Sprachkurs an der Dokkyo-Universität ist ein typisches Beispiel hierfür: Ich sitze Tag für Tag da und stelle mir immer wieder die Frage, was die Lehrer von uns denken, ob sie sich über einzelne Studenten austauschen, ob sie lästern, tratschen oder ganz diskret ihre Meinungen für sich behalten. Wenn eine Koreanerin wieder einmal betrunken in den Unterricht von Frau Takeda gekommen ist, teilt diese dies den anderen Lehrern mit? Wenn Nikki wieder einmal den Unterricht von Herrn Ikuta geschwänzt hat, erzählt er dies seinen Kollegen? Und wenn Frau Ezoe vermutet, dass Paul seine eigene Präsentation ein zweites Mal gehalten hat, hängt sie ihre Bedenken im Lehrerzimmer an die große Glocke? Was denken die Lehrer wohl von mir, diese Frage stelle ich mir oft.
"Sind sie auch wirklich wieder gesund?"
So begrüßte mich Frau Takeda am Mittwoch, Tag 278 in Japan, als sie die Anwesenheitsliste überprüfte. Es war eine angebrachte Frage, dennoch musste ich eine Weile überlegen, warum sie mir so befremdlich vorkam. Und dann fiel es mir ein: Die Lehrer hatten bisher noch nie nachgefragt, ob jemand wieder gesund sei. Warum? Die Antwort war offensichtlich: Weil niemand in unserem Kurs zuvor krank gewesen war. Wenn jemand fehlte, dann war es klar dass diese Person nicht krankheitsbedingt, sondern aus Faulheit dem Unterricht fernblieb. Doch ich war gefragt worden und war ein wenig stolz darauf, dass die Lehrer Vertrauen in mich hatten.
"Ich weiß noch genau wie Frau Sakatani letzte Woche nach der dritten Stunde ins Lehrerzimmer gestürzt kam und 'Der Kraft war heute nicht im Unterricht!' rief. Das wollte keiner glauben, denn sie waren ja bisher immer im Unterricht gewesen. In jeder Stunde, nie auch nur zu spät. 'Der Kraft? Das kann nicht sein. Wirklich?' und jeder dachte es wäre etwas passiert. Und dann kamen sie auch am Donnerstag und Freitag nicht, da haben wir uns alle wirklich ernsthaft Sorgen gemacht. Aber jetzt sind sie ja wieder da. Und hoffentlich haben sie sich auch gut auskuriert."
Ich war gerührt und doch ein wenig peinlich berührt, als ich hörte wie meine Wenigkeit allem Anschein nach zum Gesprächsthema des gesamten Lehrerzimmers geworden war. Und es zeigte mir nicht nur, dass sich die Lehrer tatsächlich über uns Studenten austauschten, es zeigte auch, dass sie sich um ihre Schützlinge sorgten. Vielleicht sehe ich fortan einige Lehrer mit anderen Augen, wissend, dass ihnen durchaus auffällt, wie sehr ich mich anstrenge, wie fleißig und wie verlässlich ich bin.
Am Abend traf ich mich mit meiner Nachbarin Milena, um gemeinsam durch Soka zu spazieren. Nur selten war ich in den letzten Woche aus dem Zimmer gekommen und so fanden ich es praktisch, dass wir uns gegenseitig ermuntern auch mal den Laptop oder das Lernbuch hinter sich zu lassen und einfach die Umgebung zu erkunden. Und weil wir weder durch die sengende Hitze laufen, noch unser Lernpensum vernachlässigen wollten, verabredeten wir uns erst am späten Abend, einer Zeit, zu der man ohnehin nichts Vernünftiges mehr zustande bringt. Es muss irgendwann nach neun Uhr abends gewesen sein, als wir uns in Bewegung setzten und durch die schwüle, aber doch angenehme Sommernacht liefen und fast zwei Stunden lang Soka erkundeten. Und ich muss sagen, dass ich überrascht war, was wir alles entdeckten bei unserer Erkundungstour. Nicht nur kleine Gässchen mit schönen Häusern und Vorgärten, nein, wir fanden mitunter ganze Vergnügungsviertel und Gewerbegebiete, die ich nie zuvor gesehen hatte. Eine kleine Perle, die wir entdeckten, war ein großer Supermarkt, irgendwo jenseits des Bahnhofs von Soka. Dabei waren es gar nicht die günstigen Preise und die große Auswahl, die mich faszinierten, es war eine integrierte Bäckerei, die echte Backwaren anbot. Echte Backwaren, nicht diese schwammigen Weißbrote die überall in Japan als Brot verkauft wurden. In Japan gibt es kein Bäckereihandwerk wie bei uns ("Einfach nur kochen"), weshalb ich mich die letzten Monate damit abgefunden hatte weder ein Frühstücksbrötchen, noch ein Brot für zwischendurch zu haben und nur gelegentlich einen vollkommen überteuerten Toast zu essen. Doch nun lagen tatsächliche Backwaren vor mir, die sogar fast hart waren. Und da man in Japan für gewöhnlich Backwaren meist mit Kaffeestückchen verband, nahm ich mir überglücklich ein Knoblauchbaguette von dem kleinen Tisch, dass zwischen den übrigen süßen Backwaren lag. Ein kleines Juwel, schließlich hatte ich schon seit Monaten weder ein Baguette, noch Knoblauch gegessen. Und ich vermisste beides von ganzem Herzen. Überglücklich lief ich mit meinem Knoblauchbaguette zur Kasse und bezahlte, dicht gefolgt von Milena, die sich eine kleine Flasche Ginger Ale gekauft hatte.
"Ist das Bier?"
"Nein, das ist Ginger Ale."
"Sieht wie eine Bierflasche aus."
Als wir durch die nächtlichen Straßen Sokas allmählich zum Ausgangspunkt unseres Spaziergangs zurückkamen, durchquerten wir ein Vergnügungsviertel, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Straßen waren nicht überfüllt, es war schließlich erst Mittwoch, doch man sah einige wenige Nachtschwärmer durch die Straßen laufen. Und während Milena und ich in ein Gespräch vertieft von einer Straße in die nächste spazierten, übersah Milena einen Bordstein, stolperte, strauchelte für einen Moment, konnte sich aber wieder fangen und stand lachend vor Überraschung mitten auf der Straße. Ihr Ginger Ale hatte sie sich über den Arm und das T-Shirt geschüttet und aus dem Flaschenhals quoll noch der Schaum, der sich durch die ruckartige Bewegung gebildet hatte. Und als ich Milena mit hochroten Kopf, lauthals lachend, vollgespritzter Kleidung und ihrer vermeintlichen Bierflasche in der Hand über die Straße torkeln sah, konnte ich nicht mehr und musste auch lachen. Eine paar junger Japaner kamen vorbeigelaufen, warfen einen Blick auf das Geschehen, das sich ihnen bot, und schüttelten leicht angewidert den Kopf. Was sie wohl über uns denken mussten?

2 Kommentare:

MLD hat gesagt…

Du übertreibst ;P
Das Ginger Ale ist mir nur über die Hand gelaufen. Der dunklere Fleck auf meinem T-Shirt ist das Muster!!! ;D

David Kraft hat gesagt…

Im Deutschunterricht habe ich gelernt: "Übertreibung ist ein stilistisches Mittel zur Verdeutlichung." : )

Ich glaube ich muss mal ein Bild von deinem T-Shirt mit der dunklen Stelle machen, damit jeder hier selbst bewerten kann, ob es wie ein Aufdruck oder wie ein Fleck aussieht.
Letztlich ist ja nur wichtig, was die passierenden Japaner gedacht haben. Und das werden wir wohl nie wirklich erfahren...