Montag, 27. Juli 2009

Dokkyo-Coda

Es war das letzte Mal, dass ich an diesem Tag die Stufen zum Klassensaal emporstieg, das letzte Mal, dass ich morgens auf meinem Stuhl Platz nahm. Zwei Semester lang war ich regelmäßig zum Unterricht gekommen, hatte eifrig gelernt, in jedem Test mein Bestes gegeben, doch nun kam alles zu einem Ende: Es war die letzte Prüfung dieses Semesters, der Abschlusstest meines Jahres in Japan.
Offensichtlich schien aber nicht jeder diesem letzten Test solch eine hohe Bedeutung beizumessen, denn es waren nicht einmal alle Kursteilnehmer da, als die Testbögen ausgeteilt wurden. Die Koreanerin Chu und der Chinese Riku fehlten ("Die elf Anderen"), beide aus unterschiedlichen Gründen: Chu fehlte, weil sie offensichtlich keine Motivation hatte, schließlich war sie bereits während der letzten Tage kaum im Unterricht anwesend gewesen, Riku fehlte traditionsgemäß, weil er zu spät kam. Und auch Cassy, die Kanadierin chinesischer Herkunft, kam an diesem Tag erst in den Raum gehastet, als die Prüfungszeit bereits begonnen hatte.
"Man hätte ja erwarten können, dass die Teilnehmer unseres Kurses zumindest zur Abschlussprüfung alle einmal pünktlich anwesend sein würden."
Ich schaute zu Marvin, der auch nur die Schultern zuckte und resigniert den Kopf schüttelte.
Genau genommen war dieser Test keine Abschlussprüfung, schließlich war eine Abschlussprüfung dazu da den gesamten Lehrstoff des vergangenen Semesters zu rekapitulieren und einen Bogen vom Anfang zum Ende zu schlagen. Zum Ende des Mittelkurses hatte es solch einen Abschlusstest gegeben ("Dokkyo-Finale"), doch der heutige Test war ein wenig komplizierter konzipiert: Einerseits wurden die Zeitungsartikel, die wir in den vergangenen Tagen gelesen hatten überprüft ("Einen Vogel haben"), andererseits das Konversationsbuch, das wir bereits seit der zweiten Hälfte des Semesters bearbeiteten. Der Test war somit in einen regulären Textteil mit Übungen zum Textverständnis und zum Vokabular, sowie einen umfassenden Konversationstest unterteilt. Doch da ich keinen passenden Begriff für diese Art von Test wusste und es mir zu aufwendig war jedes Mal eine minutenlange Erklärung zu meiner letzten Prüfung abzugeben, hatte ich mir angewöhnt von einem Abschlusstest zu sprechen. Schließlich war es ein Test zum Abschluss des Semesters, somit erschien es mir angemessen den Ausdruck Abschlusstest zu benutzen.
Ich glaube, dass Herr Ikuta den schriftlichen Prüfungsteil erstellt hatte, doch genau wusste ich es nicht, denn es war keiner unserer Lehrer anwesend. Nur eine Hilfskraft, die von nichts eine Ahnung zu haben schien, war mit uns im Raum und achtete pingelig darauf, dass wir weder abschauten, noch auffällige Gegenstände auf unserem Tisch liegen hatten. Und so verbrachte ich den knapp einstündigen Textteil alleine mit einem Bleistift, einem Radiergummi und meinem Prüfungsbogen.
Im Vorhinein hatte ich mich ein wenig daran gestört, dass niemand uns auch nur einen Clou zu unserem Test gegeben hatte. Natürlich wusste man, dass die Zeitungsartikel der vergangenen Tage behandelt werden würden, doch was genau sollte man lernen? Keine Ahnung. Knapp zwanzig Artikel hatten wir gelesen, mitunter Kurzartikel von nur wenigen Zeilen, mitunter fast zweiseitige Exzerpte von Artikeln aus diversen Zeitschriften. Es hatte Texte gegeben, die man fast ohne Hilfsmittel herunterlesen konnte, doch es gab auch jene Artikel, die man sechzig Minuten lang mit dem Lehrer bearbeitet hatte ohne auch nur zu verstehen, um welches Thema sich der Artikel überhaupt drehte. Am Vortag hatte ich mich darum fast zwei Stunden lang mit Marvin zusammengesetzt, um eine einzelnen Artikel durchzuarbeiten, den keiner von uns auch nur im Ansatz verstanden hatte. Doch trotz unseres intensiven Lernens, dem Nachschlagen jeder zweite Vokabel, dem Heraussuchen relevanter Grammatik und dem langwierigen Übersetzen jedes einzelnen Satzes, hatten wir den Text letztlich nicht verstanden. Was sollte man also lernen? Wie sollte man sich vorbereiten? War es sinnvoll alle unbekannten Vokabeln auswendig zu lernen? Nein, das waren viel zu viele. War es sinnvoll alle Texte zu bearbeiten, bis man sie durch und durch verstanden hatte? Eine gute Idee, doch aus oben genannten Gründen leider nicht immer möglich. Und so hatte ich mich für die Querfeldein-Methode entschieden: Ich las alle Texte am Vortag noch einmal durch, versuchte den gröbsten Inhalt zu verstehen, mir die zentralen Begriffe zu merken und übersprang zwei der kompliziertesten Texte, weil sie mir die Zeit für die Vorbereitung der anderen Texte geraubt hätten. Und letztlich fuhr ich mit dieser Methode recht gut. Es wurden größtenteils die Lesungen der zentralen Begriffe abgefragt und das Textverständnis bezog sich meist auf die Gesamtaussage des Textes, nicht auf Detailfragen. Natürlich gab es sie: Schriftzeichen, die ich nicht benennen konnte, Textpassagen, die ich nicht ganz verstand, Fragestellungen, die ich nicht sicher beantworten konnte, doch insgesamt war es ein recht gelungener schriftlicher Teil der Abschlussprüfung. Ich war zufrieden.
Zum Beginn der zweiten Stunde öffnete sich die Tür des Lehrraums und eine ältere Dame kam mit schnellen Schritten in den Raum gewatschelt. Um ihren Hals trug sie eine ausladende Kette, ihre Haare waren aufwendig toupiert. Es war Frau Iwazawa, die Prüferin für den Konversationstest. Warum wohl keiner der regulären Lehrer die Prüfung abhielt, fragte ich mich insgeheim und versuchte einen möglichst guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Frau Iwazawa überprüfte die Anwesenheit, mittlerweile war jeder der Kursteilnehmer anwesend, und blieb bei meinem Namen hängen. Sie warf einen Blick auf die Liste, einen Blick auf mich, wieder einen Blick auf die Liste und letztlich wieder einen Blick auf mich.
"Das T-Shirt, das sie tragen, ist sehr pink."
"Das ist mein Dokkyo-Shirt."
Mit glühenden Augen blickte Frau Iwazawa auf mein grellpinkes T-Shirt, das ich mir erst am Vortag gekauft hatte ("Mein letzter Schultag").
"Fabelhaft. Wirklich fabelhaft."
Ich nickte zustimmend und lehnte mich stolz zurück. Der erste Eindruck war gut verlaufen, dachte ich mir zufrieden.
Insgeheim hatte ich gehofft, dass die Konversationsprüfung in zwölf Einzelgespräche unterteilt werden, jeder Teilnehmer also seine individuelle Prüfung haben würde. Doch schon recht schnell wurden meine Hoffnungen zerschlagen, da Frau Iwazawa Partnergespräche ankündigte. Nun gut, dachte ich mir, dann lasse ich mich eben zusammen mit Nikki prüfen, das ist auch in Ordnung. Doch auch dies war mir nicht vergönnt, denn Frau Iwazawa schrieb nacheinander sechs Prüfungstermine an die Tafel und ließ daraufhin Zettel mit Nummern ziehen. Und da jede Nummer von eins bis sechs zweimal vorhanden war, wurde anhand der Zettel per Zufall nicht nur die Reihenfolge, sondern auch der Prüfungspartner bestimmt. Wie jeder andere zog ich einen Zettel.
"Eins. Na toll. Wer wohl mein Konversationspartner ist?"
Da drehte sich Ma um und hielt mir seinen Zettel vor die Nase, auf dem ebenfalls eine fette, dicke Eins geschrieben stand. Und so musste ich nicht nur als Erster in die Prüfung, nein, ich hatte meine Prüfung auch noch zusammen mit Ma, dem Chinesen, mit dem ich schon seit zwei Semestern auf Kriegsfuß stand.
Eigentlich ist es ja passend, dachte ich mir, hatte ich im vergangenen Semester doch schließlich mehr als jede zweite Konversationsprüfung und fast jede Konversationsübung mit Ma gemeistert und war mittlerweile an ihn gewöhnt ("Hochzeit in China", "Die Fehler der Anderen", "Hören und Verstehen", "Einer für alle, alle für sich!", "Überraschungen", "Sein und Schein"). Und wenn ich einmal ehrlich war, so war er mir doch ein wenig ans Herz gewachsen in den vergangen Wochen und Monaten. Wer wäre wohl angemessener gewesen für meine letzte Konversationsprüfung?
Als die anderen den Raum verlassen hatten, waren Frau Iwazawa, Ma und ich alleine. Wir rückten ein paar Tische hin und her, nahmen Platz und begannen kurz darauf mit der Konversationsprüfung, die letzte Überprüfung während meiner Zeit an der Dokkyo-Universität. Sie war in zwei Teile gegliedert: Einen Teil, in dem man sich selbst vorstellen musste, und einen Teil, in dem wir uns gegenseitig zu vorgegebenen Themen interviewen sollten. Den ersten Teil, also eine Selbstvorstellung auf Japanisch, hatte ich bereits erwartet, und so war es für mich kein Schweres ein wenig auf Japanisch über mich zu plaudern: Wo ich herkam, wieso ich nach Japan gekommen war, was ich studierte, was ich später einmal machen wollte und welche Hobbys ich hatte. Ich konnte meinen Text recht flüssig, fast ohne Versprecher oder längere Pausen, und mit den richtigen Floskeln und Redewendungen vortragen und Frau Iwazawa nickte anerkennend. Sie schien zufrieden mit meiner kurzen Rede zu sein, da ich sowohl Themen wie meine Zukunftsplanung angesprochen, als auch Gründe für meinen Japanaufenthalt genannt hatte, denn eben dies waren die Dinge, die sie bei Ma nachfragte, als er meinem Beispiel folgte. Der zweite Teil, also das gegenseitige Interview, verlief ebenfalls sehr gut. Thematisch musste ich über meine Träume reden, ein Thema, das erst vor kurzem bei Frau Sakatani im Unterricht ausgiebig behandelt worden war ("Nette Japaner"), darum hatte ich noch alles, was ich damals gesagt hatte, was ich mir zurecht gelegt hatte, im Kopf. Im Gegenzug musste ich Ma über seinen Lieblingssport befragen, was auch ein glücklicher Zufall war, da wir erst vor wenigen Wochen zu genau diesem Thema im Unterricht von Herrn Ikuta schon einmal zusammenarbeiten mussten ("Sein und Schein"). Somit wusste ich genau auf welche Fragen Ma nur schwer antworten konnte, wo seine Interessen lagen und wozu er ausschweifend erzählen konnte. Im Vorhinein hatte ich mit Ma vereinbart langsam und deutlich zu sprechen, war es doch immer das Hauptproblem mit Ma, dass man sein Japanisch nie verstand. Und zu meiner Überraschung hielt sich Ma an unsere Vereinbarung, sprach für seine Verhältnisse langsam und betont, leicht verständlich, wiederholte Sätze mit anderem Vokabular, wenn ich mit einem ratlosen Blick signalisierte, dass ich nicht verstanden hatte, worauf er hinauswollte und fiel mir weder ins Wort, noch brachte er seine Standardeinwürfe wie "Lüge!" oder "Ich denke gerade.", die er sich im vergangen Semester angewöhnt hatte.
"Das war eine sehr gelungene Prüfung."
Frau Iwazawa schaute Ma und mich lächelnd an und notierte einige letzte Bemerkungen auf ihrem Bewertungsbogen.
"Sie haben beide sehr deutlich und betont gesprochen. Ich fand es sehr schön, wie sie im Dialog aufeinander reagiert haben. Ihre Fragen haben sich an den Antworten des Gegenüber orientiert, sie haben nicht einfach nur einen Katalog von Fragen abgespult. Und am wichtigsten: Sie haben Rücksicht aufeinander genommen. Sie haben nicht versucht sich zu profilieren, sie haben sich gegenseitig unterstützt, Hilfestellungen gegeben. Das fand ich ganz toll. Eine wirklich sehr gute Prüfung. Herzlichen Glückwunsch."
Sowohl Ma als auch ich waren sichtlich erfreut diese warmen Worte von Frau Iwazawa zu hören. Und so freuten wir uns zusammen, beglückwünschten uns gegenseitig und gaben uns die Hand auf diese erfolgreiche Konversationsprüfung. Und nach all dem Ärger, nach all den schlechten Erfahrungen, die ich mit ihm gesammelt hatte, fühlte ich mich Ma doch verbunden. Er war mir im Verlauf des letzten Jahres ans Herz gewachsen. Und insgeheim dachte ich mir, was ich mir bereits zuvor gedacht hatte: Eigentlich hätte ich mit niemand anderem meine letzte Prüfung teilen wollen, mein Semester beenden wollen, als mit Ma.
Als ich den Prüfungsraum letztlich verließ, warteten bereits Marvin und Paul auf mich, um mich neugierig zu meiner Prüfung zu befragen: Was abgefragt wurde, was man noch einmal schnell wiederholen sollte und ob Frau Iwazawa eine strenge Prüferin gewesen wäre. Und so erzählte ich von meiner Prüfung, während ich das letzte Mal die Stufen vom fünften Stock herunterstieg, das letzte Mal durch die Eingangstür des Gebäudes lief, den Campus überquerte und schließlich das Unigelände verließ. Zwei Semester lang war ich regelmäßig zum Unterricht gekommen, hatte eifrig gelernt, in jedem Test mein Bestes gegeben, doch nun war alles zu einem Ende gekommen. Von einem Augenblick zum Nächsten war es vorüber. Noch einmal drehte ich mich um, warf einen Blick auf die Gebäude, auf den Campus, der mich ein Jahr meines Lebens begleitet hatte, der für ein Jahr lang zu meinem zu Hause geworden war. Dann drehte ich mich um und lief mit Paul und Marvin in Richtung des Wohnheims und ließ die Dokkyo-Universität, meine Universität, hinter mir zurück.

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