Sonntag, 26. Juli 2009

Mein letzter Schultag

Es war schon ein seltsames Gefühl als ich heute das letzte Mal im Unterricht saß. Zwei Semester lang hatte ich die Schulbank an der Dokkyo-Universität gedrückt, zwei Semester lang war ich jeden Morgen den Weg zum Unterricht gegangen, zwei Semester lang hatte ich mich an dieser Universität heimisch gefühlt. Doch heute war mein letzter regulärer Schultag. Noch einmal würde ich zu meiner Abschlussprüfung den Campus betreten, dann wären meine Tage an der Dokkyo-Universität gezählt. Und so kam war es fast schon ein wenig nostalgisch, als ich am Morgen die große Halle der Universität betrat, wie jeden Morgen die Stufen bis in den fünften Stock erklomm und wie gewohnt als einer der Ersten im Lehrraum Platz nahm.
Es war meine letzte Mittagspause an der Dokkyo-Universität und so wollte ich nicht alleine in der Mensa sitzen, nicht einsam in den Supermarkt gehen, um dann im Lehrraum zu essen, nein, ich wollte mit der Person zu Mittag essen, mit der ich in den vergangenen zwei Semestern die meiste Zeit an der Dokkyo-Universität verbracht hatte: Lee. So oft hatten wir uns in der Mensa getroffen, waren in den Supermarkt gegangen, hatten zusammen im Klassenraum gesessen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit war mit ihr auch meine letzte Mittagspause zu verbringen. Folglich trafen wir uns nach dem Vormittagsunterricht auf dem Campus und verbrachten meine letzte Mittagspause zusammen mit Lees thailändischer Freundin Vitano auf einer Bank im Schatten der Bäume.
Es war geradezu so als wollte die Atmosphäre um uns meine letzte Mittagspause unterstreichen, denn es war angenehm warm, nicht zu heiß, nicht zu schwül, es wehte ein sanfter Wind und nicht unweit von uns entfernt fand eine Tanzaufführung statt. Und so lauschten wir zu dritt der Musik, schauten den Tänzern zu und jeder aß sein Bento-Set ("Ein Gericht für jeden Tag"). Und immer wieder unterhielten wir uns nebenbei auf Japanisch, schwelgten in Erinnerungen und kommentierten den schönen Tag.


Bild1: Lee und ich bei meinem letzten Mittagessen an der Dokkyo-Universität. Wir wollten eigentlich cool posen, aber leider kann das keiner von uns so wirklich.


Bild2: Lee und ihre thailändische Freundin Vitano. Ich habe Vitano zwar nicht oft erwähnt, aber wir haben im vergangenen Semester doch gut ein dutzend Mittagspausen miteinander verbracht.


Irgendwann kam ein Trupp von Unibediensteten an unseren Tisch gelaufen und fragte uns vorsichtig, ob sie uns zugunsten des uniinternen Datenmaterials filmen und fotografieren dürften. Zwar war es ein wenig überraschend und wir waren nicht wirklich auf ein Fotoshooting vorbereitet, doch wir sagten zu. Warum auch nicht. Und so kam ein Mann mit einer klobigen Kamera auf uns zu, stellte sich neben uns an den Tisch und begann uns zu filmen und fotografieren, während wir aßen und uns unterhielten.
"Seien sie ganz natürlich. So als wären wir gar nicht da."
Das war leichter gesagt als getan, wenn jemand mit einer Kamera in der Hand am Tisch stand und jede Bewegung filmte ("Unterricht wie immer"), doch wir drei nahmen es mit Humor, grinsten über die ungewohnte Situation, scherzten wenn einem von uns vor laufender Kamera etwas von den Essstäbchen fiel und fingen an zu lachen, als eine Böe kam und beinahe unser gesamtes Essen hinfortgeweht hätte. Und so war meine letzte Mittagspause wohl eine der unterhaltsamsten, die ich hier an der Dokkyo-Universität innerhalb des vergangenen Jahres hatte.
Es war ein wenig Ironie des Schicksals, dass ich am Nachmittag meine letzte Unterrichtsstunde ausgerechnet bei Frau Sakatani hatte, war sie doch die Lehrerin, die auch meine erste Unterrichtsstunde vor knapp zehn Monaten gehalten hatte ("Mein erster Schultag"). War es wirklich schon fast ein Jahr her, dass Frau Sakatani in den Raum gestürzt war und während der Begrüßung beinahe ihre eigene Tasche vom Lehrerpult geworfen hätte? Es kam mir in dieser Stunde so vor, als wäre es erst vor wenigen Wochen gewesen und doch hatte ich paradoxerweise das Gefühl Frau Sakatani schon immer zu kennen. Zehn Monate lang hatte mich ihr Unterricht begleitet, zehn Monate lang war sie eine meiner Lieblingslehrerinnen an der Dokkyo-Universität gewesen ("Frau Sakatani blüht auf").
Es war meine letzte Unterrichtsstunde nach einem Jahr und dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an die Verabschiedung, an die letzten Worte, die Frau Sakatani an den Sprachkurs richten würde ("Erinnerungen an Frau Hara"). Und ich muss sagen, dass ich nicht enttäuscht wurde, im Gegenteil, ich hätte sogar beinahe eine Träne vergossen, als Frau Sakatani in den letzten fünf Minuten eine flammende Rede hielt. Sie gratulierte uns obligatorisch zum Abschließen des Semesters, zum Meistern des Oberkurses und wünschte uns Glück für die anstehende Abschlussprüfung. All dies hatte ich auch erwartet und so überraschte es mich ein wenig, als Frau Sakatani weitersprach.
"Letzte Woche haben wir über Träume gesprochen ("Nette Japaner") und ich wünsche Ihnen allen von ganzem Herzen, dass sie an ihren Träumen festhalten, dass sie für sie kämpfen, dass sie alles geben und ihre Träume eines Tages wahr werden. Werden Sie Profifußballer, gründen Sie ihre eigene Firma, schwimmen Sie eines Tages im Geld oder werden Sie ein erfolgreicher Übersetzer. Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie glücklich werden mit dem, was Sie machen. Und ich hoffe inständig, dass sie alle etwas aus ihrer Zeit hier in Japan, aus ihrer Zeit an dieser Universität mitnehmen werden. Es ist eine so kostbare Zeit ihre Lebens, die sie hier verbringen, es sind so wichtige Erfahrungen die sie hier erwerben, es sind so große Chancen, die sich Ihnen allen in der Zeit hier eröffnet haben. Nehmen Sie alles mit! Alle Erinnerungen, alle Erfahrungen! Versprechen Sie mir das! Halten Sie fest an ihren Erinnerungen hier und blicken Sie nach vorne. Und ich bin mir sicher, dass Sie alles schaffe werden, was Sie in Zukunft anpacken werden."
Mit diesen Worten verabschiedete uns Frau Sakatani aus unserer letzten Unterrichtsstunde.
Um einige letzte Angelegenheiten an der Dokkyo-Universität zu erledigen, trafen sich Jessica, Dan, Lee und ich nach dem Unterricht im Zentrum für internationale Angelegenheiten. Was mir in Erinnerung blieb war aber nicht mein Gespräch mit den Mitarbeitern dort, sondern die Kleidung von Dan und Lee, denn beide trugen ein grellpinkes T-Shirt mit dem Logo der Dokkyo-Universität.
"Wo habt ihr denn die T-Shirts her?"
"Die kann man hier auf dem Campus kaufen. Es gibt ein Reisebüro, dort werden sie angeboten."
Für einige Zeit dachte ich nach. In Deutschland wäre ich nie auf die Idee gekommen mir ein T-Shirt von meiner Universität zu kaufen, einerseits weil ich gar nicht wüsste, ob es soetwas überhaupt gibt, andererseits weil ich nicht wirklich stolz war ein Teil der Universität Marburg zu sein. Doch nach einem Jahr hier in Japan war die Dokkyo-Universität zu meiner Universität geworden. Ich fühlte mich ihr verbunden, ich fühlte mich hier heimisch und bedauerte es sie zu verlassen. Und so entschied ich mich als Andenken an all meine Lehrer, an all meine Kommilitonen und an all meine Freunde hier an der Dokkyo-Universität ein T-Shirt mit dem Dokkyo-Logo zu kaufen. Und während Dan und Jessica zurück zum Wohnheim liefen, ging ich mit Lee in das uniinterne Reisebüro und kaufte mir zwei T-Shirts der Dokkyo-Universität. Noch auf dem Campus zog ich mir mein Andenken an und lief stolz im Partnerlook mit Lee zurück zum Wohnheim. Dort klingelten wir an die Tür von Dan und ließen uns zu dritt im Partnerlook fotografieren.


Bild3: Lee, Dan und ich mit dem gleichen grellpinken T-Shirt der Dokkyo-Universität. Jeder von uns dreien war stolz dort ein Student gewesen zu sein. (Danke an Lee für das Bild)


Bild4: Mein zweites Dokkyo-T-Shirt. Diesmal nicht in grellem Pink, sondern in Dunkelblau mit roter Schrift. (Danke an Milena für das Bild)


Und so ging für mich die Unterrichtszeit an der Dokkyo-Universität zu Ende. Es war eine schöne Zeit, nicht immer leicht, aber doch lehrreich und unterhaltsam. Ich werde sie in Ehren halten. Ebenso all die Lehrer, die ich in den vergangenen zwei Semestern kennenlernen durfte, die mich alle auf ihre ganz persönliche Weise erfreuten oder in den Wahnsinn trieben. Ich werde sie nicht vergessen:

Frau Ezoe, die etwas langweilige Lehrerin, die immer stur dem Lehrbuch folgte und den Satz "Wardasjetztverständlichjadaswarverständlich." zu ihrem Markenzeichen machte.
Frau Fukuda, die gestrenge, fordernde Lehrerin aus dem ersten Semester, die mir nach meiner hervorragenden Präsentation plötzlich unerwarteten Respekt zollte.
Frau Hara, die junge Lehrerin, die gerne auch einmal über das Lehrbuch herzog und uns in ihrer letzten Unterrichtsstunde mit ihrer Schwangerschaft überraschte.
Herr Ikuta, der einzig männliche Lehrer, der mich mit seinem langweiligen Unterricht zu Beginn des Semesters in den Wahnsinn trieb, mir gegen Ende der Vorlesungszeit aber doch ans Herz wuchs.
Frau Kitamura, die Lehrerin mit dem meisten Lehrpotential, die bei mir zu Beginn des Semesters noch Angstschweiß verursachte, durch ihren informativen und strukturierten Unterricht letztlich aber zu einer meiner Lieblingslehrerinnen wurde.
Frau Nakanishi, die Lehrerin mit dem perfekten Lächeln und autoritären Auftreten, die es liebte uns Prüfungen schreiben zu lassen und unser Können gerne mal überschätzte.
Frau Nomura, die alte Dame, die uns so gerne einen Einblick in die japanische Kultur und das Alltagsleben gab und immer bemüht war jedem jederzeit Hilfestellungen zu geben.
Frau Sakatani, die motivierte und doch etwas schusselige Lehrerin, die gerne Mal etwas durcheinander warf oder vergaß, letztlich aber doch wie keine andere Lehrerin einen Draht zu uns jungen Studenten fand.
Frau Takeda, die ältere Lehrerin mit der Energie einer Zwanzigjährigen, die es wie keine andere Lehrerin verstand den Unterricht zu einer Show zu machen. Sie erzählte so viele Anekdoten und verteilte so viele Süßigkeiten, wie alle anderen Lehrer zusammen.

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