Es war elf Uhr morgens an meine 303. Tag in Japan, als wir uns vor dem Wohnheim trafen. Wir, das sind Lee, Milena, Milenas Mitbewohnerin Christa aus Österreich und ich. Gemeinsam wollten wir nach Kamakura reisen, einer Stadt südlich Tokyos, die für ihre zahlreichen Zen-Tempel, sowie eine riesige Buddha-Statue bekannt ist. Eigentlich hatten wir unseren Ausflug bereits eine Woche zuvor geplant, doch irgendwie war es zeitlich dann doch zu knapp geworden. Und so hatten wir uns entschieden bis zu diesem Wochenende zu warten, um unserem Ausflug nach Kamakura einen ganzen Tag zu widmen. Frohen Mutes liefen wir zum Bahnhof von Soka, gabelten Lees japanische Freundin Tomomi auf ("Heiligabend in Soka") und fuhren zu fünft zum Bahnhof des Stadtteil Shibuya, an dem wir die Sechste im Bunde treffen sollten: Die Polin Karolina, die ich beim gemeinsamen Filmschauen mit Lee und den Briten vor knapp zwei Wochen kennengelernt hatte ("Anderssein"). Doch als wir ankamen, war Karolina weit und breit nicht zu sehen und so warteten Milena, Tomomi, Lee, Christa und ich nahe des Bahnhofs und vertrieben uns die Zeit mit Fotografieren, Unterhalten und dem Erkunden der näheren Umgebung.
Bild1: Es gab einmal einen Hund namens Hachikou, der sein Herrchen, einen Professor der Tokyo-Universität, jeden Tag zum Bahnhof von Shibuya begleitete, verabschiedete und dort wartete bis er am Abend wiederkam. Und auch als sein Herrchen verstarb, kam Hachikou jeden Tag zum Bahnhof und wartete. Elf Jahre lang. Dann verstarb auch Hachikou. Zu Ehren jenes treuen Hundes, der zu einer eigenen kleinen Attraktion geworden war, wurde eine Statue vor dem Bahnhof von Shibuya errichtet, vor der Tomomi, Lee und Milena auf diesem Bild posen.
Bild2: Nahe des Bahnhofs fand eine Wahlveranstaltung statt, die für die Politikerin warb, die auf dem Foto in einem weißen Anzug zu sehen ist. Doch viel interessanter war für viele wohl der Mann, der im weißen Hemd neben ihr stand. Das war nämlich Herr Abe, der ehemalige Premierminister Japans, der vor knapp zwei Jahren von seinem Amt zurücktrat.
Mit fast einer Stunde Verspätung kam Karolina schließlich in Shibuya an und obwohl alle zunächst ein wenig entnervt waren, entspannte sich die Atmosphäre doch recht schnell wieder und zu sechst fuhren wir schließlich von Shibuya in den Süden, vorbei an der Großstadt Yokohama, die ich vor knapp vier Monaten besucht hatte ("Ein Tag in Yokohama - Wolken und Meer"), bis an den winzigen Bahnhof Nord-Kamakura. Und sobald wir ausgestiegen waren, merkten wir, dass wir nicht mehr in Tokyo waren. Es war viel ländlicher, viel ruhiger. Die Sonne schien, während ein leichter Wind durch die Blätter der unzähligen Bäume fuhr. Und obwohl wir inmitten eines Distriktes waren, in dem sich buchstäblich ein Tempel an den anderen drängte, herrschte doch Stille und Ruhe, die auch andauerte, als wir uns zum ersten Tempel aufmachten, den wir für den heutigen Tag eingeplant hatten: Den Engaku-Tempel. Nicht weit entfernt des Bahnhofs lag er mitten im Grün, umgeben von Wäldern und Hügeln. Und während ich mit den anderen fünf durch das weitläufige Gelände wanderte, genoss ich ein Flair, das sich mir noch in meinem Tempel in Tokyo oder Kyoto geboten hatte: Es war die Abgeschiedenheit, die Ruhe, geradezu so, als würde man durch ein kleines, grünes Paradies laufen.
Bild3: Unterwegs auf dem Gelände des Engaku-Tempels in Kamakura, einem der ältesten Zen-Tempel Japans.
Bild4: Ein Blick in einen jener Räume, in denen Interessierte meditieren konnten. Viele Touristen kamen extra zum Engaku-Tempel, um unter der Anleitung der Mönche einen Tag oder zumindest ein paar Stunden mit Meditation zu verbringen.
Bild5: Unsere kleine Truppe (von links nach rechts): Meine Nachbarin Milena, ihre Mitbewohnerin Christa, Lee und ihre Freundin Tomomi. Im Vordergrund ist Karolina.
Bild6: Ich denke das Bild gibt einen guten Eindruck von dem Ambiente am Engaku-Tempel. Mitunter hatte man das Gefühl fast schon durch eine Mischung aus Parkanlage und Wald zu laufen. Angesehen von unseren Gesprächen hörte man das Rauschen der Blätter, das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und das Summen der Insekten.
Bild7: Eine wunderschöne Lilie, die am Wegesrand wuchs und dazu einlud fotografiert zu werden.
Bild8: Auf einem kleinen Hügel des Tempelgeländes stand diese riesige Glocke, die zum Weltkulturerbe gehört. Vom Hügel aus hatte man eine schöne Aussicht über den Norden Kamakuras, der von zahlreichen Bäumen, kleinen Häusern und gelegentlichen Straßen geprägt war.
"Sie sprechen Englisch?"
Die alte Dame, die neben mir lief, hatte mich ganz unerwartet angesprochen. In einem etwas abgetragenen Kleid humpelte sie eilig den Weg entlang, ihre Handtasche fest umschlungen, den Blick nach vorne gerichtet.
"Ja, das tue ich."
Und so kamen wir ins Gespräch. Wie es mir in Japan gefallen würde, insbesondere hier in Kamakura. Was ich mir schon angesehen hätte, was ich mir noch anschauen wollte. Ein wenig erzählte ich und interessiert hörte die alte Dame zu, während sie weiter den Weg entlang humpelte.
"Der Engaku-Tempel? Der ist ganz nett, aber ich kann Ihnen den Meigetsu-Tempel ans Herzen legen."
"Ich werde auf jeden Fall vorbeischauen."
Wir unterhielten uns und die Frau erzählte mir, dass sie eine Zeit lang in den U.S.A. gelebt hatte, irgendwann um 1968 muss es gewesen sein. Ihr Mann war Arzt und sie hatte ihn ins Ausland begleitet.
"Man kann sich überall zu Hause fühlen. Aber jetzt auf meinen alten Tage, habe ich mich hier nach Kamakura zurückgezogen."
Ein Stück des Weges lief ich noch neben ihr her und lauschte ihren Erzählungen, dann verabschiedete ich mich. Sie bog in eine kleine Nebenstraße ein und hätte mich wohl noch zu ihr nach Hause eingeladen, hätte ich mich nicht damit verabschiedet, dass meinen Freunde auf mich warten würden. Und so wartete ich einige Momente, bis die andern mich eingeholt hatten, dann bog ich in eine kleine Seitengasse ein.
"Müssen wir nicht geradeaus?"
"Ja, schon. Aber dort vorne ist der Meigetsu-Tempel. Ich habe jemandem versprochen dort einmal vorbeizugehen."
Bild9: Ich vor dem Eingang des Meigetsu-Tempels in Kamakura, den mir die alte Dame ans Herzen gelegt hatte. Leider hatten wir nicht genug Zeit, um ihn zu betreten, weshalb ich nur dieses einzelne Bild von mir vor dem Eingang habe.
Wenn es eines gab, was ich am heutigen Tag genoss, dann war es unsere Gruppe. Nur zu oft hatte ich mich in der Vergangenheit daran gestört dass ich mit den falschen Leuten unterwegs war und nicht dazu kam mir alles anzusehen, was ich gerne sehen würde, weil Einzelne immer zu lange brauchten, keine Lust hatten, ständig Pause machen wollten oder ewig diskutierten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen ("Verschenkte Zeit", "Freitags vom Montag lernen"). Doch heute war es anders: Unser Sechsergruppe war perfekt aufeinander abgestimmt. Jeder kam mit jedem aus und so liefen wir immer in drei kleinen Zweiergruppen umher und lernten uns gegenseitig besser kennen. Mal lief ich neben Milena und wir suchten zu zweit nach Fotomotiven und planten den weiteren Tagesverlauf, mal lief ich neben Christa, entdeckte ähnliche Interessen und Hobbys und kam ins Gespräch über künftige Reisen, mal lief ich mit Tomomi und ließ mir ein wenig die kulturellen Hintergründe Kamakuras erklären, mal lief ich neben Karolina und tauschte mich lachend und mit Esprit in gleichem Maße über Philosophie als auch über Belangloses aus und mal lief ich neben Lee und genoss es einfach zu zweit die Umgebung zu erkunden. Es passte einfach alles zusammen. Niemand geriet mit jemand anderem aneinander, es gab keine größeren Diskussionen um den weiteren Tagesverlauf, keiner setzte sich maulend an den Straßenrand und wollte nicht mehr weitergehen und jeder zeigte ein reges Interesse an allem, was wir sahen. Und so genoss ich den weiteren Tagesverlauf nicht nur wegen der Attraktionen, nein, ich genoss vor allem das Beisammensein mit den anderen.
Bild10: Ein Blick in eine der vielen Straßen Kamakuras, durch die wir wanderten. Man macht oft so viele Bilder von den Sehenswürdigkeiten, dass man solch banale Dinge wie eine Ansicht der Stadt vollkommen aus den Augen verliert.
Bild11: Der Tsurugaoka Hachimangu-Schrein im Herzen Kamakuras. Er steht erhöht auf einem kleinen Hügel, abseits des Geschehens.
Bild12: Der Vorplatz des Tsurugaoka Hachimangu-Schreins, auf dem eine traditionelle, shintoistische Hochzeit abgehalten wurde.
Bild13: Wenn man heiratet, hat man in Japan zwei Optionen: Man kann entweder christlich heiraten, wie bei uns, oder shintoistisch. Heutzutage ist eine christliche Zeremonie die Regel, doch gelegentlich wird man auch noch Zeuge einer shintoistischen Hochzeit, wie hier in Kamakura. Mitten auf einem öffentlichen Platz wurde die Zeremonie abgehalten und dutzende von Interessierten schauten zu, darunter auch ich und die anderen fünf.
Film1: Ein kleiner Mitschnitt von der shintoistischen Hochzeitszeremonie.
Bild14: Ein Foto von Lee, Karolina, Christa, Milena und Tomomi auf dem Schreingelände. Ich denke man kann sehen wie glücklich wir alle waren.
Bild15: Karolina und Tomomi vor der Kulisse eines angrenzenden Seerosenteichs.
Bild16: Als wir gerade dabei waren das Gelände zu verlassen, kam das Hochzeitspaar von vorhin angelaufen und poste für die Hochzeitsbilder. Und so stellte mich mich frech zu den Fotografen und drückte auch ab. Und so machte ich sowohl Bilder vom Brautpaar...
Bild17: ...als auch vom Rest der Hochzeitsgesellschaft. Interessant anzumerken ist, dass trotz des Rahmens der traditionellen Hochzeit, keine Kleiderordnung besteht. Man sieht sowohl Frauen im Kimono, also traditioneller japanischer Kleidung, als auch Frauen in Hosenanzügen. Das Alter spielt hierbei keine Rolle.
Bild18: Ein weiteres Bild einer Blume, die am Straßenrand blühte.
Es war bereits spät geworden, als wir das Gelände des Tsurugaoka Hachimangu-Schreins verließen, schließlich waren wir wegen Karolinas anfängliche Verspätung viel später als erwartet angekommen und hatten weitaus mehr Zeit im Engaku-Tempel verbracht, als geplant. Zudem wollten wir uns die einmalige Chance eine traditionelle, japanische Hochzeit zu beobachten nicht entgehen lassen. Doch langsam drängte die Zeit und wir hatten die größte Attraktion von Kamakura noch gar nicht gesehen. Und so liefen wir in die Innenstadt, bestiegen nach einer kurzen Mittagspause zum Essen und Trinken den nächsten Bus und fuhren direkt bis vor das Eingangstor des Wahrzeichen Kamakuras: Dem Großen Buddha.
Bild19: Milena und der Große Buddha von Kamakura. Er ist nach dem Buddha von Nara ("Die Hirsche von Nara") die zweitgrößte Buddhastatue Japans
Bild20: Auf dem vorherigen Bild wirkte er ein wenig klein, doch eigentlich war der Buddha beeindruckend groß. Gegen einen geringen Aufpreis konnte man ihn sogar von innen begehen, doch leider wurde der Zugang gerade geschlossen, als wir ankamen.
Bild21: Christa und der Große Buddha. Ja, wir beiden sind an diesem Tag wirklich gute Freunde geworden und haben viele gemeinsame Interessen entdeckt. Wir werden gemeinsam wohl noch so machen Kurztrip unternehmen, bevor wir beide in wenigen Wochen Japan verlassen.
Einen Wunsch hatten Christa und ich schon den ganzen Tag: Wir wollten das Meer sehen. Mittlerweile war ich über zehn Monate in Japan, doch nur ein einziges Mal hatte ich einen Blick auf das Meer werfen können. Recht dürftig, dachte ich mir, schließlich ist Japan eine Insel. Und da Kamakura am Meer lag und sogar einen großen Strand hatte, hatte wir unsere Wanderroute bewusst so gelegt, dass wir im Norden starteten und unsere letzte Attraktion im Süden, nicht weit entfernt des Meeres, lag. Und so war es ein Leichtes nach dem Besuch des Großen Buddha eine breite Straße bis zum Meer hinunter zu bummeln und mit dem Rauschen des Meeres den Tag ausklingen zu lassen. Es wurde merklich frischer, als wir am Strand entlang spazierten, und schon nach einem kurzer Zeit begann es zu dämmern. Und so nahmen wir nach einem anstrengenden, aber spassigen Tagesausflug in einem Restaurant direkt am Meer platz und aßen in fröhlicher Runde zu Abend, während am Strand die Fackeln brannten und das gelegentliche Kreischen der Möwen und das Rauschen der Wellen uns umgab.
Bild22: Ein Blick auf den Strand von Kamakura. Im Meer kann man die unzähligen Surfer sehen, die alle auf eine passende Wellen warteten. Am Strand spielten Jugendliche Frisbee, bauten Sandburgen oder malten Smileys in den Sand.
Bild23: Lee, Tomomi, Milena, Christa und Karolina mit dem Pazifik im Hintergrund.
Bild24: Beim gemeinsamen Essen in einem Restaurant am Strand.
Bild25: Der große Salat, den ich mir mit Christa teilte.
Bild26: Was wie eine harmlose Pizza aussieht, war mit unzähligen kleinen Fischen bedeckt, dennoch habe ich munter gegessen. Und auch wenn es für meinen Geschmack ein wenig zu fischig war, hat es doch gut geschmeckt.
Bild27: Ein letztes Gruppenbild am späten Abend, kurz bevor wir den Strand verließen und mit dem Zug zurück fuhren. Tomomi, die hier ganz vorne im Bild steht, hatte an diesem Tag übrigens Geburtstag. Ich glaube sie genoss es sehr solch einen angenehmen und unterhaltsamen Tag zu verleben.
Bild28: Die Göttin und das Feuer. Ein Bild von Karolina und einer Fackel am Strand. Ja, es gibt sie noch: Schnappschüsse, die Gold wert sind.
2 Kommentare:
Hey!
1. Du stellst zu viele Fotos von mir rein! ;P
2. Das weiße Blümchen war eine Lilie und keine Orchidee.
3. Besonders gut hat mir der Satz: "Im Vordergrund ist Karolina." gefallen ;D
LG^^Lena
Tja, die Leser wollen eben wissen, wie die Hauptprotagonisten aussehen. : )
Und vielen Dank für deinen Hinweis mit den Lilien, ich werde es wohl nie lernen. Vielleicht sollte ich mir in Deutschland ein Buch zur Bestimmung von Blumen holen.
Viele Grüße nach Nebenan,
David
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