An Tag 223 in Japan war ich nicht wirklich auf der Höhe: Ich hatte nicht wirklich gut schlafen können, fühlte mich unwohl und wäre am liebsten im Bett liegen geblieben und hätte den Tag über Tee getrunken und Reis gegessen. Vielleicht hätte ich das auch gemacht, wenn ich nicht ausgerechnet heute einen Test hätte schreiben müssen. Doch so blieb mir nichts anderes übrig als mich in die Universität zu schleppen, unterwegs noch einmal den Lernstoff anzuschauen und in der ersten Stunde den Test von Herrn Ikuta zu schreiben. Und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass es der schwerste Test hier in Japan war, den ich je schreiben musste. Herr Ikuta quetschte aus den zweieinhalb Lektionen, über die sich der Test erstreckte, alles an Fragen heraus, was ging. Und so saß der gesamte Kurs mit qualmenden Köpfen über den Kanji-, Textverständis- und Grammatikbögen und hoffte irgendwie durchzukommen. Wenigstens hatten wir keine Konversationsprüfung, weshalb man seine Aufmerksamkeit ganz den Aufgaben widmen konnte und sich nebenbei keine Gedanken über Dialoge und Redewendungen machen musste. Ein weiterer positiver Nebeneffekt der fehlen Konversationsprüfung war, dass Herr Ikuta während unserer Prüfung die ganze Zeit im Raum saß und schon einmal die abgegebenen Bögen korrigierte, während die Studenten noch an den restlichen Bögen zu knabbern hatten, was dazu führte, dass wir unsere korrigierten Bögen bereits in der Stunde nach der Klausur zurückbekamen.
"Ich lehre bereits seit zehn Jahren an dieser Universität und so etwas ist mir noch nie passiert.", sagte Herr Ikuta in einer Mischung aus Murmeln und feierlichem Verkünden, als er die Bögen zurückgab. "Noch nie habe ich es erlebt, dass ein Student in einem Test sowohl bei den Schriftzeichen, als auch in der Grammatik einhundert Prozent erreicht hat.". Und mit einem anerkennenden Blick legte er meine Bögen vor mir auf den Tisch: "Wirklich ganz außergewöhnlich.". Überrascht und auch ein wenig peinlich berührt blickte ich auf meine perfekten Aufgabenbögen und spürte die Blicke der anderen auf mir lasten. Ich hörte ein "Wow!" von Nikki, einige erstaunte Quietschlaute von einer Koreanerin und ein "Das ist eine Lüge!" von Ma. "Da geht wohl einer in die Geschichte der Dokkyo-Universität ein.", sagte Marvin offensichtlich ironisch und warf einen interessierten, aber auch neidischen Blick auf meine Aufgabenbögen. Ich zumindest war nach meiner anfänglichen Überraschung sehr stolz und freute mich, dass sich das Lernen ausgezahlt hatte.
In der Pause traf ich dann überraschend auf Ayano und so unterhielten wir uns eine Weile lang über meinen Unterricht, ihre Jobsuche und schließlich über Tak und Nobuko, um die es in den letzten Wochen sehr still geworden war. Eine Freundin hat mir einmal erzählt, dass die Geschichte um Tak ein wenig wie eine Seifenoper sei: Ich lernte ihn kennen, während er noch mit seiner Freundin aus Großbritannien zusammen war ("Theorie und Praxis"), baute ihn auf, als er sich von ihr trennte ("Hinter der Maske"), sah wie eifersüchtig Nobuko bei einem gemeinsamen Essen auf Cassy war ("Die Frau an seiner Seite") und bekam schließlich erzählt, wie er mit Nobuko zusammengekommen war und deswegen seine Pläne für einen Auslandsaufenthalt aufgegeben hatte ("Rückzieher"). Und so bekam man immer etwas von Taks Geschichte mit, während ich meine Geschichte in Japan erzählte, und war nicht nur gespannt wie es bei mir, sondern auch wie es denn bei ihm weitergehen würde. Und genau das erfuhr ich heute im Gespräch mit Ayano. "Hast du etwas von Tak gehört?", fragte mich Ayano ganz unschuldig, woraufhin ich genau das wiedergab, was Tak mir erzählt hatte: "Er ist beschäftigt mit der Jobsuche und rennt von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten. Deswegen hat er kaum Zeit sich zu melden, geschweige denn sich zu treffen.". "Ja, er hat sich sehr rar gemacht.", kommentierte Ayano meine Aussage und ich hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte, als nur ein höfliches Beipflichten. "Cassy aus dem Sprachkurs hat mich auch schon nach Tak gefragt, weil er sich nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Aber du hast doch sicher noch Kontakt zu ihm.", neugierig blickte ich Ayano an, die nur ein wenig düster zurückblickte: "Mit mir redet er auch nicht mehr. Er ist ja zu beschäftigt.". "Ach, die Jobsuche ist aber bestimmt auch stressig.", versuchte ich Tak ein wenig zu verteidigen. Ayano blickte mich forsch an und kniff die Augen ein wenig zusammen: "Das erzählt er jedem. Das mit der Jobsuche. Aber in Wirklichkeit ist er ist eher mit Nobuko beschäftigt.". "Na sie sind frisch verliebt, da verstehe ich es, wenn sie möglichst viel Zeit zusammen verbringen wollen. Da kann es schon mal vorkommen, dass man seine Freunde ein wenig vernachlässigt.", dachte ich laut, doch Ayano schüttelte nur den Kopf: "Nobuko hat ihm ja verboten, dass er mit mir redet. Sie ist aus irgendeinem Grund eifersüchtig auf mich. Deswegen kontaktiert er mich kaum noch und treffen tun wir uns schon gar nicht.". "Was?", fragte ich überrascht nach und war ein wenig baff. Die Seifenoper in meinem Kopf nahm plötzlich eine unerwartete Wendung, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. "Nobuko ist eifersüchtig auf dich? Aber du und Tak, ihr ward doch immer nur Freunde, oder?". "Ja natürlich!", Ayano nickte heftig und ihr Blick wurde ganz trüb und wehleidig. "Tak war ein guter Freund und Nobuko eine meiner besten Freundinnen. Aber jetzt ist ganz plötzlich der Kontakt zu beiden abgebrochen und ich verstehe überhaupt nicht warum. Nobuko und ich waren doch immer so ein gutes Team.". "Hmm, ich kenne Nobuko leider nicht so gut.", antwortete ich ein wenig hilflos und dachte darüber nach wie oft ich Nobuko überhaupt getroffen hatte. Viermal vielleicht? Und so kamen Ayano und ich ins Gespräch und das erste Mal fiel mir auf, dass Ayano, die für mich immer eine taffe Powerfrau gewesen war, sich ziemlich einsam fühlen musste. Viel Zeit zu sprechen hatten wir aber nicht, mein Unterricht hatte schon wieder begonnen, und so verabredeten wir uns zu einem abendlichen Telefonat übers Internet.
Wenn man einmal von freier Konversation absieht, sind die Aufsätze, die wir regelmäßig im Unterricht schreiben müssen, das, was mich so ziemlich am meisten stört. Das liegt nicht daran, dass ich so ungern schreibe, Wörter nachschlage oder keinen Spass daran hätte die neue Grammatik anzuwenden, nein, es sind schlicht und ergreifend die Themen, die diese Aufsätze immer wieder zu unerträglichen Torturen machen. Schon letztes Semester hatte ich mich an Themen wie "Wo sehe ich mich in zehn Jahren?" gestoßen, die uns Studenten abverlangten fundamentale Lebensfragen in einer Stunde zu diskutieren ("Glaubensfragen"). Auf Japanisch. Und auch dieses Semester waren die Fragen nicht besser geworden, nun, zumindest bis heute. Denn ausgerechnet im Unterricht der ewig lächelnden, übermotivierten Frau Nakanishi sprachen wir über das Thema "Mein eigenes Abenteuer". Und im Gegensatz zum Rest der Kurses, der gelangweilt wie immer vor sich hin döste, war ich voller Eifer dabei und konnte es gar nicht abwarten meinen Aufsatz zu schreiben.
Wer mich ein wenig kennt, der weiß um mein Interesse an Fantasiewelten und Abenteuergeschichten. Schon als Kind verschlang ich begierig ein Abenteuerbuch nach dem anderen und kreierte in meinem Kopf Fantasiewelten, in denen ich mit meinen Freunden Abenteuer erlebte. Als ich dann älter wurde, erfreute ich mich an verschiedenen Tisch- und Computerspielen und entdeckte meine Leidenschaft für meinen mittlerweile schon oft genannten Lieblingsmanga "One Piece", eine Abenteuergeschichte rund um eine Bande von Piraten. Kurz bevor ich nach Japan ging, hatte ich mit einer Freundin sogar begonnen eine eigene Fantasiewelt voller fremder Kulturen und phantasievoller Dinge zu schaffen. Viele meiner Ideen hatte ich nie aufgeschrieben oder weiterverfolgt, doch seit meinem Jahr in Japan begann ich allmählich all meine Ideen und Inspirationen aus den letzten Jahren zusammenzutragen und zu einer ganz eigenen Welt zusammenzufügen und eine Geschichte zu spinnen, wie ich sie mir immer gewünscht hätte als Buch zu lesen. Ob diese Geschichte jemals den Weg auf Papier finden wird, wage ich fast zu bezweifeln, obwohl ich mich in einem Gespräch mit einem Freund dazu habe breitschlagen lassen noch vor meinem siebzigsten Lebensjahr ein Buch zu schrieben, doch eigentlich kommt es darauf auch gar nicht wirklich an. Was mich immer viel mehr reizte war das Kreieren eigener Dinge, das Nutzen meines Einfallsreichtums und meiner Fantasie und das gedankliche Ausleben meiner kindlichen Sehnsucht nach Abenteuern, Helden und der Idee die Welt zu verändern. Da ich bereits seit meiner Kindheit in meinem Kopf eine Abenteuergeschichte nach der anderen erlebt hatte, kam mir das Aufsatzthema wie eine Offenbarung vor: "Mein eigenes Abenteuer". Eifrig schrieb ich all das, was ich auch nun geschrieben habe, und hatte so viel Spass bei einem Aufsatz, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht sogar wie noch nie.
Als ich am Mittag nach Hause kam, fiel ich in mein Bett und schlief erst einmal über zwei Stunden. Bei all dem Trubel und den Erlebnissen, hatte ich fast vergessen, wie schlecht es mir ging und dass ich eigentlich hatte zu Hause bleiben wollen. Den Rest des Tages blieb ich dann auch im Bett liegen und hing meinen Gedanken nach. Zum Lernen und Schreiben war ich zu erschöpft und ausgelaugt. Und so verstrich der restliche Tag recht ereignislos und irgendwann zwischen Gedanken an Fantasiewelten, Bestnoten und Seifenopern aus dem realen Leben schlief ich dann ein.
4 Kommentare:
ich vermisse dich...
vielleicht weil ich selbst etwas schlecht drauf bin, schon die ganze Woche. Und fast schon fleißig am bloggen. In meinem anderen "Tagebuch"Angefangen mit bei den Eltern vergessenen Hausschlüßeln, wo ich als Folge hin und her den ganzen Tag Zug fahren durfte... Aber dann macht mich ein Abenteuer lächeln. Und das Wissen von einem wichtigen Menschen.
Ich hoffe bald wieder mit dir sprechen zu können:)
Ich freue mich, wenn ich dir nach einem harten Tag ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Was mehr kann man sich wünschen, als Menschen zu berühren und ihnen in irgendeiner Weise zu helfen?
Vielen Dank!
Herzlichen Glückwunsch zu deinem augezeichneten Testergebnis :-)
Vielen Herzlichen Dank : )
Man freut sich doch immer über Lob.
Und ich werde nun auch nicht herunterspielen, was ich geleistet habe. Manchmal muss man auch stolz sein können auf das, was man erreicht hat.
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