Mittwoch, 27. Mai 2009

Die Kunst zu Lehren

Der Unterricht von Herrn Ikuta ist langweilig. Man kann es nicht anders sagen. Selbst ich, mit meinem eisernen Bestreben jedem Lehrenden und Vortragenden Interesse entgegenzubringen, komme an meine Grenzen und ertappe mich gelegentlich dabei gedanklich vollkommen abzuschalten und in meinem Lehrbuch kleine Kunswerke zu kritzeln. Jedes Mal wenn ich wieder einmal bei ihm im Unterricht sitze, frage ich mich, warum ich mir das eigentlich antue. Es ist nicht so, dass sein Unterricht einfach nur einschläfernd wäre, das würde ich ja in Kauf nehmen, nein, man kann einfach nichts Lernen, denn Herrn Ikutas Lehrmethoden trotzen jeglichen pädagogischen Grundregeln. Es fängt bereits damit an, dass ich ihn einfach nicht verstehe. Und das geht nicht nur mir so: Regelmäßig sitze ich ratlos vor dem Lehrbuch und versuche herauszufinden, ob Herr Ikuta gerade den Lektionstext vorließt, eine Übung macht oder neue grammatikalische Formen erklärt, wenn sich Marvin ratlos zu mir beugt und leise fragt, was wir eigentlich gerade machen. Dann kann ich immer nur mit den Schultern zucken und versuchen einen Satzfetzen von Herrn Ikuta mit den Grammatikübungen und dem Lektionstext abzugleichen und zu hoffen eine Übereinstimmung zu finden, meistens natürlich erfolglos. Dabei sollte es eigentlich gar nicht so schwer sein ihm zu folgen, schließlich führt er immer nach den gleichen Muster durch seinen Unterricht: Er überfliegt den Lektionstext, liest die grammatikalischen Erklärungen und einige Beispielsätze vor und verbringt den Rest des Unterrichts mit Übungen. An sich kein schlechtes Konzept, wäre es nicht so vollkommen inkompatibel mit uns Lernenden, denn Herr Ikuta scheint vollkommen zu vergessen, dass wir Japanisch noch nicht flüssig beherrschen, sondern erst lernen. Darum ist das anfängliche Überfliegen des Lektionstextes auch nicht viel mehr als eben dies. Er ließt den Text einmal herunter, ganz gleich, ob wir die verwendete Grammatik und das Vokabular beherrschen oder nicht, macht sich keine Mühe Neues zu erklären und schließt den Textteil, für den andere Lehrer mitunter den ganzen Unterricht verbringen nach fünf Minuten ab. Wir verstehen das sicher schon irgendwie. Danach liest er die Erklärungen zur Grammatik vor. Wörtlich. Dann sitzt man da, hört einen Fluss an unbekanntem, sprachwissenschaftlichem, japanischem Vokabular und ist genauso schlau wie zuvor. Zu jeder neuen grammatikalischen Form liest Herr Ikuta ein paar Beispielsätze vor, die man dann natürlich nicht versteht, da man keinen blassen Schimmer hat, was die neue Grammatik ausdrücken soll. Und so geht es etwa eine Viertelstunde weiter: Grammatische Form um grammatische Form, Beispielsatz um Beispielsatz, bis man hintereinander zehn unbekannte Formen gehört hat, die man mittlerweile alle halb vergessen hat und wild durcheinander wirft. Und plötzlich findet man sich unvermittelt vor einem Berg von Übungen wieder und brütet dann den restliche Unterricht davor.  "Warum arbeitet wohl niemand mit?", muss sich Herr Ikuta wohl jede Woche von neuem fragen, wenn die Studenten ratlos auf die Aufgaben blicken oder schlafend auf ihren Plätzen hängen, schließlich hat er doch alles erklärt und sogar Beispielsätze zur Veranschaulichung gegeben. Und so bleibt ihm nichts übrig als seine Aufgaben selbst zu beantworten: Aufgabe um Aufgabe nur Eigenarbeit des Lehrers, bis die Pausenglocke läutet und sowohl die Studenten als auch der Lehrer erleichtert den Raum verlassen.
Während der Mittagspause in der Mensa ließ ich mich dann gemeinsam mit Nikki und der Koreanerin Chu über Herrn Ikuta aus. Zunächst wenig differenziert, um ein wenig Dampf über den verschenkten Morgen abzulassen, dann aber doch mit berechtigter Kritik. Vorallem Nikki und ich nahmen seine Lehrmethoden auseinander, möchte Nikki doch selbst einmal Lehrerin für Japanisch werden und sieht somit den Unterricht nicht nur vom Standpunkt eines gelangweilten Studenten, sogar aus jenem eines angehenden Lehrers. "Er hat keinen Spass am Lehren", sagte Nikki, während sie ihren Curryreis aß, "Und das merken Lernende sofort. Darum wird der Unterricht für beide Seiten eine Qual. Er sollte entweder sein komplettes Unterrichtskonzept überdenken oder sich einen neuen Beruf suchen. Denn so schadet er beiden Seiten: Den Lernenden und sich selbst.". Ich konnte nur zustimmend nicken, besser hätte ich es wohl auch nicht sagen können. "Schau dir Frau Nakanishi an.", sagte Nikki und stellte ihr Wasserglas zurück auf das Tablett, "Sie ist das komplette Gegenteil. Sie lebt für ihren Beruf als Lehrer und das merkt man auch. Schon wenn sie den Raum betritt wird es still, weil von ihr diese Erwartungshaltung ausgeht. Man merkt, dass sie die Lernenden etwas lehren möchte und von ihnen im Gegenzug ein Ergebnis erwartet und man somit nicht einfach nur eineinhalb Stunden lang auf seinem Platz hängen kann. Man ist gefordert als Lernender.". Interessiert lauschte ich Nikkis Worten und konnte gar nicht aufhören mit meinem Kopf alle paar Sekunden zustimmend zu nicken.
In der dritten Unterrichtsstunde konnte ich mich dann wieder einmal selbst von den unterschiedlichen Lehrmethoden von Herrn Ikuta und Frau Nakanishi überzeugen, denn es war Unterricht bei Frau Nakanishi. Und es war wirklich wie ein Knick im Tag: Nach dem einschläfernden Unterricht am Morgen, in dem man von einer Flut von Informationen überschwemmt worden war und letztlich gar nichts verstanden hatte, ging Frau Nakanishi ganz anders an den Lernstoff heran: Sie teilte uns in Zweiergruppen ein und ließ uns eine halbe Stunde lang Zeit um leichte, textbezogene Fragen zu beantworten. Und so saß ich gemeinsam mit Cassy an einem Tisch, las in Ruhe den Text, den ich am Vormittag nicht verstanden hatte, diskutierte mit Cassy offene Fragen und Unklarheiten und überprüfte schließlich mein Textverständnis mit dem Fragenkatalog von Frau Nakanishi. Es waren keine schweren Fragen, bei denen man komplizierte Grammatik oder tiefgründiges Wissen zur Beantwortung gebraucht hätte, es waren einfach nur recht oberflächliche Fragen, die einem halfen sich dem gelesenen Text zu nähern. Oftmals waren die Antworten sogar auf eine bestimmte Anzahl von Zeichen beschränkt, damit man das Gelesene möglichst knapp mit eigenen Worten formulieren musste, denn oft ist man versucht einfach einen ganzen Satz aus dem Text zu kopieren, der einem zwar nicht ganz verständlich ist, irgendwie aber die Frage beantwortet. Und so verstand ich allmählich nicht nur den Text, sondern redete auch während der gesamten Gruppenarbeit auf japanisch und war selbst erstaunt wie leicht es mir fiel. Ebenso auch die Grammatikübungen von Frau Nakanishi, bei denen sie das Lehrbuch ganz zur Seite legte und sich zur Erklärung ausreichend Zeit ließ. Kein Fachvokabular, keine komplizierten Wörter, keine Hast: Statt tausenden von Übungen schrieb sie einen einzelnen simplen Satz mit einer Lücke an die Tafel und ließ diesen von jedem Kursteilnehmer mit einer passenden Antwort ausfüllen. Und so war jeder einmal an der Reihe und musste nicht bangen bei seiner Aufgabe an dem unverständlichen Vokabular zu scheitern. Denn wie Frau Nakanishi auch ganz richtig erklärte: "Es kommt nicht darauf an, dass sie Kunstwerke schreiben bei den Grammatikübungen. Sie sollen einfach nur das grammatische Konstrukt verstehen und wieder erkennen. Der Rest kommt ganz von alleine.". Und das kam es auch.
Es war ein Gefühl der Genugtuung zu bemerken, dass ich in der einen Stunde am Nachmittag mehr lernte, als in der doppelten Zeit am Vormittag. Das unverständliche Knäuel an Erklärungen und Übungen von Herrn Ikuta löste sich im Verlauf des Nachmittags und ich erhielt allmählich den Überblick über den Lernstoff des Tages. Sicherlich war der Unterricht von Frau Nakanishi fordernd und anstrengend, doch es zahlte sich letztlich aus, ganz im Gegensatz zu dem verschwendeten Vormittag, von dem fast nichts hängengeblieben war. Und so schüttelte ich auf dem Weg zum Wohnheim immer wieder ungläubig den Kopf wenn ich an die beiden so unterschiedlichen Lehrer von heute denken musste und realisierte fasziniert welche Welten zwischen einem guten und einem schlechten Lehrer lagen.

2 Kommentare:

michi hat gesagt…

ich glaube leute wie hr. ikuta schaffen es recht erfolgreich sich selbst einzureden, dass es immer an den anderen liegt.
"die doofen auslaender, keiner hat bock mitzumachen. ich geb mir so viel muehe und mach ganz viele uebungen und trotzdem kapierts keiner."
bestimmt macht er in seinen augen alles goldrichtig.

David Kraft hat gesagt…

Ich glaube er weiß ganz genau, dass wir das nicht verstehen, aber es kümmert ihn herzlich wenig. Er hat sogar die Angewohnheit nach dem Lektionstext immer zu sagen: "Habt ihr das jetzt verstanden? Wenn nicht, tja, dann kann man auch nichts machen." Und dann macht er einfach weiter. Nikki meinte sogar einmal, dass er eine Abneigung gegenüber den Studenten hätte und sich deswegen freue, wenn sie leiden würden. Darum neige er auch zu extra schwer verständlichem Unterricht, komplizierten Tests und anspruchsvollen Konversationsprüfungen.
Ich frage mich immer nur, wieso er dann überhaupt den Beruf des Lehrers ergriffen hat, wenn es ihm so offensichtlich keinen Spass macht. Vielleicht ist er auch einfach einer jener Menschen, die sich am Leid der anderen erfreuen, um sich selbst besser zu fühlen.