Am Sonntag kam Yosukes Freundin aus Osaka, einer Stadt nahe Kyoto, zu Gast in unsere Wohnung. Hätte mir Yosuke das vorher allerdings nicht gesagt, so wäre es mir wohl kaum aufgefallen, denn wir begegneten uns den ganzen Sonntag über kein einziges Mal, dabei wohnten wir nur von einer dünnen Wand getrennt in der gleichen Wohnung. Und je weiter der Tag voranschritt, um so bemühter schien jeder damit es auch dabei zu lassen. So kochte ich mein Mittag- und Abendessen, ohne dass sich auch nur eine Menschenseele in der Wohnung zeigt. Und als ich dann in meinem Zimmer verschwunden war und lernte, hörte ich Yosuke und seine Freundin in der Küche. Ein seltsames Gefühl wie so ein ganzer Tag verging, ohne dass man sich begegnete.
Als ich am Montag Morgen aufstand, war der Himmel wolkenverhangen, was ein sicheres Zeichen für Regenwetter war. Ein wenig missmutig machte ich mich fertig, packte meinen Rucksack und wollte mir noch schnell einen Kaffee machen, als mir in der Küche schließlich Yoko über den Weg lief. Obwohl es eigentlich eine äußerst peinliche Situation hätte sein müssen jemandem zu begegnen, der bereits einen ganzen Tag mit mir in der Wohnung verbracht hatte, brachten wir unsere Begrüßung doch sehr gekonnt hinter uns. Sehr viel sprachen wir nicht, schließlich musste ich ja schon zum Unterricht, weshalb ich nur erfuhr, dass Yoko wegen eines Bewerbungsgesprächs nach Soka gekommen war und bereits am Nachmittag wieder abfahren würde. Dann schnappte ich mir auch schon meinem Regenschirm und wollte zur Uni, als sie mich zurückhielt. "Es wird heute nicht regnen." Sie deutete auf meinen Regenschirm. "Echt? Aber der Himmel ist ganz schwarz.", entgegnete ich und zeigte zum Himmel, als Yoko noch einmal selbstsicher "Es wird heute nicht regnen" sagte. Und da Yoko sich ihrer Sache äußerst sicher schien, legte ich den Regenschirm zurück an seinen Platz und lief ohne Regenschutz hinaus.
Am Mittag kam ich mir dann das erste Mal ziemlich einsam vor. Ohne jemanden, mit dem ich mich hätte unterhalten können, saß ich zum Mittagessen alleine in der Mensa. Weder Lee war heute hier, noch irgendjemand anderes. Schon das gesamte Wochenende über hatte ich mich mit niemandem unterhalten können, was vermutlich deswegen an mir nagte, da ich nach der Präsentation der Vorwoche endlich mehr Zeit hatte, die ich nun aber mit niemandem teilen konnte. Und so saß ich ziemlich verlassen inmitten von fremden, japanischen Studenten, aß meinen Curryreis und überlegte mir, dass ich im neuen Sprachkurs noch keine wirklichen Freunde gefunden hatte, mit denen ich die Zeit verbringen konnte. Noch zu sehr war ich es gewohnt mit Katharina in den Pausen in die Mensa zu gehen. Und so blies ich die Pause über Trübsal und lernte Vokabeln, obwohl ich eigentlich lieber mit jemandem geredet hätte, ehe ich unter dem grauen, wolkenverhangenen Himmel zurück in den Klassenraum lief.
In der dritten Stunde wurden wieder Präsentationen gehalten, allerdings waren allesamt nur mittelmäßig. Dennoch saß ich aufmerksam da und versuchte zu lauschen, während die anderen abschalteten und vor sich hin dösten. Frau Ezoe, die für die heutigen Präsentationen verantwortlich war, hatte wie schon im letzten Semester ihre Kamera aufgestellt, um die Vortragenden zu filmen. Den Vortragenden war dies offensichtlich unangenehm, weshalb ich erleichtert war nicht selbst eine Präsentation bei Frau Ezoe halten zu müssen. Als dann am Ende aber im Kurs das Video abgespielt werden sollte, zeigte sich, dass die Aufnahme aus irgendeinem Grund schon kurz nach dem Start abgebrochen hatte. Frau Ezoe war ganz schockiert, die Referenten dafür umso erleichterter, schließlich entging ihnen somit die Blamage des gemeinsamen Ansehens und Kommentieren. Nachdem ich meine Sachen zusammengepackt hatte und alleine den Raum verlassen wollte, kam der Chinese Ryou überraschend auf mich zu: "Du spielst doch gerne Nintendo, oder?". "Ja, warum?". "Ich habe mir vor kurzem eine Spielekonsole gekauft und alleine spielen ist öde. Da dachte ich, dass wir uns ja mal zu zweit treffen können, um gemeinsam zu spielen.". Ich lächelte glücklich und bejahte frenetisch Ryous unerwartetes Angebot, das so vollkommen unerwartet an mich herangetragen wurde. Auch wenn ich noch nicht wusste, ob wir uns letzten Endes überhaupt einmal treffen würden, da Ryou wegen eines Nebenjobs kaum Zeit hatte, war ich doch überglücklich darüber, dass er an mich gedacht hatte, und die dicken Wolken, die mein Gemüt schon den ganze Tag über getrübt hatten, verzogen sich. Und so trat ich zufrieden hinaus ins Freie und musste überrascht feststellen, dass sich der Himmel begann aufzuklaren und es überhaupt nicht mehr den Anschein von Regen machte.
Auf dem Rückweg traf ich schließlich auf Lee, die ganz aufgedreht war. Das erste Mal hatte sie heute Konversationsprüfung gehabt und das erste Mal war ihr bewusst geworden, dass zwischen Japanisch schreiben und lesen auf der einen Seite und Japanisch frei sprechen auf der anderen Seite Welten lagen. "Ich kam mir so dumm vor.", berichtete Lee geknickt und ich tröstete so gut ich konnte damit, dass es auch für mich sehr schwer wäre frei zu sprechen, obwohl ich schon so viel länger Japanisch lernte. So kam es dazu, dass wir beiden letztlich zurück zum Wohnheim liefen und uns versuchten unterwegs nur auf Japanisch zu unterhalten. Das funktionierte zwar nicht wirklich sehr gut, aber es gab uns beiden ein gutes Gefühl und machte sogar ein wenig Spass, weshalb wir uns schließlich lachend voneinander verabschiedeten.
Am späten Abend saß ich in meinem Zimmer und lernte, als ich Yosuke heimkommen hörte. "Hey.", rief ich wie immer, um auf mich aufmerksam zu machen, woraufhin Yosuke zweimal hintereinander mit "Planänderung!" antwortete. Ich war ein wenig verwirrt von der Antwort, erwartete ich doch ein gewöhnliches "Hey." als Echo. Also kam ich aus meinem Zimmer und stand direkt vor Yoko. Yosuke stand direkt hinter ihr und sagte noch einmal "Planänderung wie du siehst. Yoko fährt doch erst morgen nach Hause.". Und so kam es, dass Yoko und ich Zeit hatten unsere spärliche Konversation vom Morgen ein wenig auszubauen und uns noch einmal wenige Minute zu unterhalten. Sie berichtete von ihrem Bewerbungsgespräch und wie sie mit Yosuke den Tag verbracht hatte, ehe wir uns dann lächelnd trennten. Als sie gerade in Yosukes Zimmer verschwinden wollte, rief ich ihr noch kurz hinterher: "Ach übrigens, Yoko.". Yoko drehte sich fragend um. "Es hat heute nicht geregnet.". Da schaute Yoko erst ein wenig ratlos, bis sie schließlich herzhaft lachen musste und ihr Gesicht wie eine Sonne strahlte.
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