Schon bevor der Wecker klingelte, war ich heute wach. Eine Weile lag ich noch in meinem Bett und ließ mich von den Sonnenstrahlen bescheinen, die durch das Fenster drangen, dann stand ich auf und machte mich fertig. Ich füllte mir eine Flasche mit Trinken ab, legte gewissenhaft meine Bücher und anderen Unterrichtsmaterialien in meinen Rucksack und überprüfte, ob ich auch meine Stifte und meinen Block eingepackt hatte. Dann verließ ich meine Wohnung und lief in Richtung der Universität, einerseits ängstlich aufgeregt, andererseits voller Vorfreude, gespannt erwartend, was an meinem ersten Tag des neuen Semesters auf mich zukommen würde.
Angespannt saß ich auf einen Platz im neuen Klassenraum von Gebäude Sechs. Ich war gefangen in jener Aufregung, die man immer hat, wenn man irgendwo das erste Mal hingeht. Man ist unsicher, kennt die Leute um sich herum nicht und weiß noch so gar nicht, was auf einen zukommt. Und so saß ich mich neben Marvin und Paul, den beiden deutschen Studenten, die ich noch aus dem letzten Semester kannte. Abgesehen von ihnen waren aber auch noch andere bekannte Gesichter zu sehen: Ma, der Chinese, mit dem ich schon im letzten Semester auf Kriegsfuss gestanden hatte, die chinesische Kanadierin Cassy und die beiden Chinesen Ryou und Riku, allesamt aus dem Mittelkurs. Alle anderen Gesichter waren neu, dem Anschein nach alle Asiaten, vielleicht Chinesen, vielleicht Koreaner, ich wusste es nicht. Und so blieb ich vorerst in meiner kleinen, deutschen Gruppe.
Und dann betrat Frau Hara den recht vollen Kurs, eine der neuen Lehrerinnen für dieses Semester. Im ersten Moment dachte ich Frau Hara wäre eine Studentin, da sie so klein und noch so jung war und ich war ein wenig überrascht, als sie hinter dem Lehrerpult Platz nahm. Mit einem Lächeln begrüßte sie uns und stellte sich vor, während ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass Frau Hara eher eine Referendarin oder Auszubildende, als eine vollwertige Lehrerin war. In ihrem unschuldigen Kleidchen stand sie vor uns, ihre mittellangen Haare ganz mädchenhaft mit bunten Haarklammern zurückgeklemmt, und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie jeden Moment begonnen hätte auf einer Haarsträhne zu kauen, ein Lehrbuch, eingeschlagen in rosafarbenes Fotopapier mit Bildern von Pferden und Hundebabys hervorholen würde oder beim Lächeln eine Zahnspange gezeigt hätte. Nichts dergleichen passierte und doch hatte ich immer eine gewisse Hemmschwelle sie mit "Lehrerin" anzusprechen. Glücklicherweise musste ich das aber auch nicht, da die allgemeine Stimmung noch ein wenig angespannt war und niemand von sich aus etwas sagte. Und so schlug Frau Hara das Lehrbuch auf und begann uns in die neue Lektion einzuführen, was sie erstaunlich gut machte. Sie sprach bewusst langsam und betont, erklärte den Text anschaulich und ließ uns leichte Aufgaben zum Erlernen der neuen grammatischen Strukturen bearbeiten, weshalb ich fast alles auf Anhieb verstand. Und so wäre der Unterricht eigentlich recht angenehm gewesen, wenn ich mir nicht die ganze Zeit über sehr dumm vorgekommen wäre. Und das lag daran, dass mir Vokabular fehlte. In jedem Satz der Grammatikübungen stand immer mindestens ein Wort, das ich nicht kannte, weshalb ich stetig verunsichert war. Und wenn ich eine Aufgabe dann doch verstand, war ich immer so eingeschüchtert von den Antworten der anderen, dass ich mich nicht traute meine Hand zu heben. "Vervollständigen Sie den Satz 'Erwachsensein, das heißt...', lautete eine Aufgabe und ich kritzelte als Antwort "...über 18 Jahre alt sein." in mein Buch und wollte mich melden, als die anderen ihre Antworten vorlasen: "Erwachsensein, das heißt sich der Verantwortung bewusst zu sein, die das Leben mit sich bringt." oder "Erwachsensein, das heißt selbstbewusst autonome Entscheidungen treffen zu können.". Ein wenig traurig blickte ich auf meine simple Antwort und hoffte, dass Frau Hara mich nicht zum Vorlesen drannehmen würde. Hätte ich doch wenigstens ein griffbereites Wörterbuch, dachte ich mir und sah vor jedem anderen Studenten ein elektronisches Wörterbuch liegen.
Nach nur einer Stunde Unterricht verließ uns Frau Hara und für den Rest des Tages hatte wir Unterricht bei Frau Ezoe, die manch einer noch vom letzten Semester in Erinnerung haben dürfte. Schon damals hatte ich mich über ihren schlechten Unterricht aufgeregt und seitdem hatte sich nichts verbessert. Damals hatte ich folgendes geschrieben:
Und so tröpfelte der Unterricht so vor sich hin: Die Studenten schalteten irgendwann ab und hörten nicht mehr zu, während Frau Ezoe irgendetwas erklärte und niemand ihr zuhörte. Da half es auch nicht, dass sie hinter jedem zweiten Satz nachfragte, ob das denn verständlich gewesen sei, da sie ohnehin stets sofort noch ein "Ja, das war verständlich" nachschob. Irgendwann waren ihre beiden Sätze zeitlich so nahe beieinander, dass man nur noch ein "Wardasverständlichjadaswarverständlich." hörte.
Und auch wie damals im Mittelkurs sank die Mitarbeit auf ein Minimum hinab und Frau Ezoe hielt den Unterricht für sich alleine. Die Studenten saßen da und fanden eher Interesse an ihren Handys oder Stift und Papier, als an dem, was Frau Ezoe erklärte, was wiederum paradoxerweise dazu führte, dass ich mich eher traute etwas zu sagen, da sonst fast niemand das Wort ergriff. Sosehr ich den Unterricht von Frau Ezoe auch verabscheute, es war doch ein Gefühl von Vertrautheit wieder bei ihr zu sitzen, weshalb ich letztlich doch ganz zufrieden mit dem Rest des Vormittags war.
In der Pause traf ich mich mit Lee, um gemeinsam in die Mensa zu gehen, doch diese war dermaßen überfüllt, dass es fast unmöglich war in das Gebäude zu gelangen, geschweige denn sich eine Essensmarke zu ziehen und an der Essensausgabe anzustellen. Und so entschieden sich Lee und ich kurzerhand dazu in den nahgelegenen Supermarkt zu gehen und dort Mittagessen zu kaufen. Allerdings waren wir nicht die Einzigen, die diesen Gedankengang verfolgten und so mussten wir uns auch hier durch die Masse an Studenten kämpfen, ehe wir uns unser Mahl ergattert hatten. Es war das erste Mal, dass ich in einem japanischen Supermarkt lange Schlangen gesehen hatte, denn für gewöhnlich standen nicht mehr als fünf Leute hintereinander an einer Kasse. Doch durch die zahlreichen Studenten, die sich alle zur gleichen Zeit ihr Mittagessen besorgten, standen an jeder Kasse, und das waren nicht wenige, an die fünfzehn Kunden an. Als ich schließlich an der Reihe war, scannte die Kassiererin mein Sushi-Set, das zweihundert Yen kosten sollte, ein und zeigte auf die Anzeige, auf der klar und deutlich vierhundert Yen angezeigt wurden. "Äh, warum kostet das denn vierhundert Yen?", fragte ich vollkommen verwirrt nach und spielte mit den Münzen, die ich bereits in der Hand hielt. "Das Sushi-Set kostet doch nur zweihundert Yen.". Die Verkäuferin war sichtlich irritiert, da nicht alles wie geplant ablief und entgegnete ein wenig verdutzt, dass ich zwei Sets gekauft hätte, was dann ja folglich vierhundert Yen wären. "Nein, nein, ich will nur ein Set.", sagte ich ein wenig verunsichert, woraufhin die Verkäuferin einen Blick in die Einkaufstüte warf, in die sie eben gerade meine Einkäufe gelegt hatte, und erblickte mein Sushi-Set, das einsam in der Tüte lag und darauf wartete gegessen zu werden. Sofort wurde ich mit Entschuldigungen überschüttet und ich konnte gar nicht aufhören zu sagen, dass es schon in Ordnung wäre. Die Verkäuferin war sichtlich aus der Fassung gebracht und nahm verwirrt die zweihundert Yen von mir an, während sie sich noch immer am laufenden Band entschuldigte. Und allmählich war auch ich peinlich berührt, da mir einerseits keine Antworten auf ihre Entschuldigungen mehr einfielen und anderseits die gesamte Warteschlange hinter mir zur Kasse starrte und sich fragte, was denn dort vorne los sei. Immer noch verwirrt reichte die Verkäuferin mir meine Tüte und wusste gar nicht wie sie ihre vorherige Eingabe nun korrigieren solle. Und so kam es, dass sie schließlich vollkommen aufgelöst die Kasse schloss, alle Kunden bat sich an anderen Kassen anzustellen und eine Kollegin zu sich rief. Ein wenig peinlich berührt entfernte ich mich vom Tatort des Geschehens und hoffte nicht mit der geschlossenen Kasse in Verbindung gebracht zu werden. Währenddessen stand Lee nun am Ende einer anderen Reihe, da sie das Pech gehabt hatte weiter hinten in meiner Reihe gestanden zu haben, die nun aufgelöst wurde. Und so musste ich warten, bis auch Lee endlich ihr Essen erhalten hatte, ehe wir schließlich zum Campus zurückliefen. Letztlich hatten wir nach unserem Trip zum Supermarkt kaum noch Zeit zu essen, so schnell war unsere Stunde Mittagspause vorüber gegangen, und darum meinte ich scherzhaft zu Lee, dass wir nun wahrscheinlich noch länger gebraucht hätten, als in der überfüllten Mensa.
Die dritte Unterrichtsstunde bei Frau Ezoe verlief überaus träge. Niemand arbeitete mit und dazu kam, dass die Sonne genau auf die Glasfront schien und so den gesamten Raum aufheizte. Und da Frau Ezoe überzeugt war, dass diese Hitze der Grund für unsere Trägheit war, entschloss sie sich die Glastür zu öffnen: Eine an sich einfache Handlung, die mir aber bis heute in Erinnerung geblieben ist als die Anekdote von Frau Ezoe und der Glastür. Der Raum war offensichtlich neu renoviert und vor der Glastür hing eine neue Jalousie, die einen Großteil der Sonnenstrahlen draußen hielt. Zum Leidwesen von Frau Ezoe verdeckte eben jene Jalousie die Glastür. Und zum Leidwesen der Jalousie war sich Frau Ezoe sicher die Tür auch öffnen zu können, ohne die Jalousie vorher hochzuziehen. Und so begann Frau Ezoe am Griff der Tür zu ziehen und dabei immer wieder die einzelnen Metallblätter der Jalousie zu verbiegen. Immer und immer wieder zerrte sie mit steigender Kraft an der Glastür hinter der Jalousie und begann dabei immer mehr Metallblätter zu verschieben und zu verbiegen. Uns als sie einsah, dass sie die Tür mit einer Hand nicht aufbekam, entschloss sie sich mit beiden Händen und aller Gewalt an der Tür zu ziehen. Dass sie dabei auch noch einige Metallblätter zwischen Hand und Türgriff eingeklemmt hatte, schien sie nicht zu kümmern. Und als sich mit einem Ruck schließlich die Tür öffnete und Frau Ezoe zufrieden zurück zu ihrem Pult schritt, sah ich mitleidig auf die neue Jalousie, deren Blätter bereits nach dem ersten Unitag verbogen, verdreht und verschoben waren.
Bild1: Ein Bild von der Jalousie, die am Morgen noch wie neu war.
Bild2: Und eine Nahaufnahme von der Gegend um den Griff, in der Frau Ezoe besonders zugeschlagen hatte.
Gegen Ende des Unterrichts sollte entschieden werden, wer dieses Semester an welchem Tag seine Präsentation halten sollte, wozu Frau Ezoe ganz zufällig die Namen der Teilnehmer den Daten der Präsentation zuordnen wollte. Also schrieb sie auf einen Zettel untereinander die Zahlen von eins bis zwanzig, bedeckte diese und ließ jeden Studenten seinen Namen auf den Zettel schreiben. Ich fragte mich was daran eine Zufallsverteilung sein solle, schließlich zählte jeder Student einfach von oben ab, ehe er sich eintrug, um seine Präsentation an jenem Tag zu haben, an dem es ihm passte. Und so kam es, dass wir Deutschen die Liste als Letzte bekamen und nun ganz zufällig entscheiden konnten, ob wir die allererste oder die allerletzte Präsentation wählen wollten. Also trug ich meinen Namen ganz oben ein und war somit kein bisschen überrascht, als Frau Ezoe verkündete, dass ich die allererste Präsentation halten müsste. Ehrlich gesagt war mir das aber auch ganz recht, denn so hatte ich es wenigstens schnell hinter mir. Zwar hatte ich nun am Beginn des Semesters mehr Stress als meine Kommilitonen, dafür würde ich mich dann aber gegen Ende des Semesters zurücklehnen können, während alle anderen noch ihre Präsentationen vor sich haben würden.
Nach dem Unterricht traf ich mich wieder mit Lee und gemeinsam gingen wir ins international center, um wegen zwei Sachen nachzufragen. Zunächst hakten wir wegen unseres Studentenausweises nach, auf dem ein Gültigkeitsdatum notiert war, das mittlerweile überschritten war. Niemand hatte uns mitgeteilt, ob wir einen neue Ausweis beantragen müssten oder nicht und unsere Kommilitonen konnten uns eine Auskunft geben, da sie das Gültigkeitsdatum erst bemerkten, nachdem wir sie darauf hingewiesen hatten. Eine Weile lang blickte die Mitarbeiterin auf unsere Studentenausweise und ich fragte mich bereits, ob ich mein Anliegen noch einmal wiederholen sollte, doch dann gab uns die junge Dame den Ausweise zurück und bat uns in der Verwaltung der Universität nachzufragen. Mein zweites Anliegen war mein Stipendium. Für das letzte Semester hatte ich glücklicherweise finanzielle Unterstützung erhalten und so hoffte ich, dass dies auch in diesem Semester wieder geschehen würde. Die Frau verschwand für eine Weile an ihrem Computer, bis sie schließlich zurückkehrte und mir grünes Licht gab: Voraussichtlich Ende Mai würde ich mein Stipendium überwiesen bekommen. Und so konnte ich erleichtert mit Lee zur Verwaltung gehen und noch einmal wegen des Studentenausweises nachfragen. Letztlich erhielten wir nur einen Aufkleber, den wir auf die Rückseite des Ausweises kleben mussten, aber immerhin konnten wir nun wieder beruhigt unseren Studentenausweis vorzeigen.
Bevor ich zum Wohnheim lief, lief ich noch zu einem Geschäft für Videospiele in der Nähe des Bahnhofs Matsubara-Danchi. Allerdings nicht um mir ein Videospiel zu kaufen, wie man erwarten könnte, sondern um mir für meinen Nintendo DS, den ich mir zu Weihnachten selbst geschenkt hatte, ein elektronisches Wörterbuch zu kaufen. Der Unterricht vom Vormittag hatte Narben hinterlassen und so hatte ich mich im Verlauf des Nachmittags dazu entschieden mir auch endlich ein tragbares Wörterbuch zuzulegen, um unbekannte Wörter zukünftig selbst nachschlagen zu können. In der Regel kostet solch ein elektronisches Wörterbuch über Zweihundert Euro, doch da in meinem Besitz bereits ein Nintendo DS war, konnte ich einfach ein Wörterbuch für diesen kaufen, was mich gerade einmal fünfundzwanzig Euro kostete. Und so lief ich glücklich wie ein Honigkuchenpferd zurück zum Wohnheim und stürzte mich begierig auf mein neues Wörterbuch, gerade so als wäre es ein brandneues Spiel. Und am Nachmittag konnte ich es dann gleich ausgiebig testen während ich den Stoff des Tages nacharbeitete und mich auf den kommenden Tag vorbereitete. Und so verbrachte ich dann auch den gesamten Abend meine ersten Tages des neuen Semesters lernend in meinem Zimmer.
4 Kommentare:
Oje, die gute Verkäuferin musste die Kasse bestimmt schließen, um Seppuku begehen zu können.
Und alles ist nur DEINE Schuld ;)
Ich kann dich beruhigen: Als ich heute einkaufen war, stand die Kassiererin wieder an ihrer Kasse. Ein wenig mulmig war mir dann aber doch, als ich bezahlt habe...
Haha, die Geschichte mit der Jalousie ist ja so lustig. Auf was für Ideen manche Leute aber auch kommen...
Die arme Verkäuferin...aber es war ja nun wirklich nicht deine Schuld, wenn sie nicht bis eins zählen kann.
Frau Ezoe ist schon ein komischer Vogel. Auf hessisch würde man sagen, dass sie "dabbisch" wäre, weil sie oft unbeabsichtigt Sachen falsch versteht oder kaputt macht. Wie sie aber so offensichtlich die Jalousie demolieren konnte, nun, das bleibt mir auch ein Rätsel.
Und dieser Satz hier hat mich wirklich zum Lachen gebracht: "...aber es war ja nun wirklich nicht deine Schuld, wenn sie nicht bis eins zählen kann." :D
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