Heute haben wir die Ergebnisse unserer Konversationsprüfung der Vorwoche erhalten ("Hören und Verstehen"). Ich hatte ja das Schlimmste befürchtet, nachdem mein Gespräch mit Ma so vollkommen im Sand verlaufen war. Umso überraschter war ich, als auf meinem Wertungsbogen eine erreichte Punktzahl von Sechsundneunzig Prozent vermerkt war. Dafür dass die Konversation so gut gewesen sein soll, war allerdings erstaunlich viel Text auf der unteren Hälfte des Blattes notiert, wo sonst fast nie etwas geschrieben stand. Also las ich neugierig die ziemlich undeutliche Handschrift von Frau Sakatani und entzifferte Wort für Wort, dass ich meine Formulierungen sehr gut gelernt und angewendet hätte und in Klammern stand dahinter "Auch wenn Mas Japanisch sehr schwer zu verstehen ist.". Ich musste mir ein Lachen verkneifen, weil ich solch eine verhältnismäßig klare Aussage von Frau Sakatani nicht erwartet hätte. Mit einem Augenzwinkern zeigte ich Nikki meinen Wertungsbogen und deutete auf den Kommentar von Frau Sakatani, woraufhin sie ebenfalls zu lachen begann. Und bevor der Unterricht richtig startete, kamen wir beide in ein Gespräch über Ma.
Da Nikki nun schon seit über eineinhalb Jahren an der Dokkyo-Universität studiert, kannte sie Ma noch aus früheren Kursen: "Er hat auch damals schon immer ohne Unterlass geredet. Deswegen ist er dann auch in einen heftigen Streit mit einigen Kommilitonen aus seinem Kurs gekommen und hat das Semester abgebrochen.". "Ja, das habe ich schon einmal gehört, dass er ein Semester abgebrochen hat. Aber es ranken sich mittlerweile Legenden darum, wie es dazu gekommen ist.", Ich dachte einen Moment lang darüber nach, was mir Cassy, die Kanadierin chinesischer Abstammung, im letzten Semester einmal erzählt hatte: "Stimmt es, dass er einen Lehrer angegriffen hat? Er sieht gar nicht so aus.". "Was? Nein, das hat er nicht. Erzählt man sich sowas?", Nikki war ziemlich verblüfft eine solch haarsträubende Geschichte zu hören. "Nun ja, das habe ich zumindest gehört. Weißt du denn was damals passiert ist?", ein wenig neugierig beugte ich mich zu Nikki, die sich sich verstohlen umblickte und zu flüsternd begann: "Ich weiß es genau, ich war nämlich damals im selben Kurs mit ihm. Und ich habe alles hautnah miterlebt. Also es war so: Ma hat mal wieder den ganzen Tag über geschwätzt, bis schließlich einem Deutschen aus dem Kurs der Kragen geplatzt ist und der mit der Hand auf den Tisch geschlagen und Ma angeschrieen hat endlich die Klappe zu halten.". "Echt?", fragte ich ungläubig nach, "Welcher Deutsche war das denn?". Nikki überlegte einen Moment: "Viktor aus Marburg. Kennst du den?". "Ja!", antwortete ich überrascht, "Der studiert zusammen mit mir. Ich habe ihn zu Beginn meines Japanaufenthalts sogar noch getroffen, bevor er abgereist ist ("Waschen für Anfänger - Fotos für Profis"). Und ich kann mir bei ihm gut vorstellten, dass er ordentlich auf den Tisch haut. Das passt zu ihm.". "Aber ich fand es nicht wirklich gerechtfertigt.", gab Nikki zu bedenken, "Natürlich nervt Ma öfters und ist ziemlich verschroben, aber Viktors Reaktion war vollkommen überzogen. Er hat Ma vor dem gesamten Kurs total lächerlich gemacht. Und ich glaube seitdem ist er Deutschen gegenüber immer ziemlich voreingenommen.". Aufmerksam lauschte ich Nikkis Ausführungen, dann ging der Unterricht los. In meinem Kopf dachte ich aber weiter über Ma nach. Es war faszinierend ihn einmal in einem ganz anderen Licht zu sehen und plötzlich ein wenig zu verstehen, warum er war, wie er war. Ich blickte zu ihm hinüber und sah wie er ganz alleine an seinem Tisch saß, da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte und fühlte mich für einen Moment ein wenig schlecht, weil ich ihm in der letzten Zeit nicht sehr freundlich gegenüber gewesen war. Doch nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich mich eigentlich nicht schlecht fühlen musste. Dass Ma kaum Freunde hatte, war letztlich doch sein Verschulden, denn ganz gleich was in der Vergangenheit vorgefallen sein mag, ich hatte mich ihm gegenüber immer nett und zuvorkommend verhalten. Und nur weil ich mich nun ein wenig in ihn hineinversetzen konnte, wurden seine Macken und Unfreundlichkeiten nicht weniger nervig oder unverschämt.
Vielleicht sah ich Ma nun aus anderen Augen, Freunde würden wir wohl aber nicht werden, zu sehr störten mich seine Angewohnheiten: Sein kontinuierliches Plappern, seine fehlende Kooperationsbereitschaft und seine zahlreichen Lügen. Ja, seine Lügen waren mittlerweile legendär, denn gemäß eigenen Aussagen kann Ma beispielsweise acht Minuten lang die Luft anhalten, geht täglich zehn Stunden spazieren oder erzählt jedem Lehrer, dass er aufgehört hätte zu rauchen, obwohl er in jeder Pause mit eine Glimmstängel auf dem Campus steht. Wahrscheinlich möchte er einen guten Eindruck bei den Lehrenden machen, was aber insbesondere bei Frau Kitamura nach hinten losgeht. Sie weißt ihn nämlich immer wieder in seine Schranken zurück und mahnt Ma mittlerweile fast jede Stunde mit dem japanischen Sprichwort: "Lügen ist der erste Schritt zum Dieb.". Das stört Ma aber nicht, stattdessen kontert er mit dermaßen übertriebenen Schmeicheleien, dass selbst einige Lehrer sich recht deutlich Luft machen müsse: "Mittlerweile weiß ich, dass ich in diesem Kleid gut aussehe. Das musst du mir nicht immer wieder von Neuem sagen, Ma!".
Es ist wirklich nicht leicht mit Ma. Er ist verschroben und ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse, mit dem man nur ungern etwas zu tun hat. Dennoch kann ich ihn zu einem gewissen Punkt verstehen. Ob ich in der Zukunft etwas mit ihm zu tun haben möchte? Ich denke nicht. Das Gespräch mit Nikki hat Ma zwar in ein anderes Licht gestellt, aber keinen besseren Menschen aus ihm gemacht. Aber auch wenn ich ihn nicht mag, war es doch interessant eines der Geheimnisse zu lüften, dass er bereits seit dem ersten Semester mit sich herumgetragen hatte, denn auf eine gewisse Weise sind Menschen doch wie unvollständige Puzzle: Man kennt sie nie ganz und kann nur hoffen immer wieder neue Teile zu finden, um sich ein besseres Bild machen zu können.
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