Montag, 4. Mai 2009

Frau Kitamura und der Kursschwund

Es gibt Menschen, die mit ihrer Präsenz einen Raum füllen, sobald sie ihn betreten. Augenblicklich wird es leise, weil jeder weiß, dass man eine Autoritätsperson vor sich stehen hat. Und ohne wirklich zu wissen woran es liegt, hat man plötzlich einen ungeheuren Respekt vor jenen Menschen und hütet sich davor in irgendeiner Weise negativ aufzufallen. Eben solch eine Person lernte ich an meinem 207. Tag in Japan kennen, meine neue Lehrerin Frau Kitamura.
Ich muss zugeben, dass ich mich fast den gesamten Vormittag über mit schwitzigen Händen an meinem Stuhl festklammerte, so sehr hatte ich mitunter Angst im Unterricht von Frau Kitamura. Dabei war sie gar keine garstige, alte Hexe, die sich im Leid der anderen suhlen würde, nein, sie war eigentlich recht nett. Aber sie verlangte viel von uns, vor allem freie Konversation. Und gerade das war schon immer mein wunder Punkt gewesen. Schriftzeichen lesen? Kein Problem. Grammatische Konstruktionen bilden? Ich halte mit. Aber spontan reden? Das kann ich nicht wirklich. Und das liegt nicht unbedingt daran, dass ich mich nicht bemühen würde, sondern daran, dass wir Europäer es nicht leicht haben uns im Japanischen auszudrücken, da die Satzstrukturen im Japanischen gänzlich anders sind, als bei uns. Und so brauchen wir eben ein wenig länger, um etwas Gesprochenes zu verstehen oder selbst etwas zu sagen. Ganz anders geht es da den Koreanern, die kein Wort Englisch sprechen, aber ohne Unterlass Japanisch plappern können. Und dieser Unterschied fiel mir während des Unterricht immer wieder auf als Frau Kitamura begann über ein Thema zu sprechen und unsere Meinungen hören wollte. Dann startete sie stets auf der einen Seite des Kurses und forderte jeden zu einem kurzen Statement auf, dabei immer mit einem Lächeln sagend: "Zweimal die gleiche Antwort zu geben ist verboten.". Und so saß ich auf meinem Stuhl am eine Ende des Raumes, während ich herunterzählen konnte, bis ich an der Reihe war. Es war eine Art Psychospiel, da ich einerseits immer zuhören musste, wie elaboriert und fachmännisch sich die anderen Kursteilnehmer äußerten, während mir andererseits die Antworten auf Frau Kitamuras Frage ausgingen, schließlich durften wir nichts zweimal sagen. So wurde beispielsweise gefragt, was wir von der steigenden Anzahl ausländischer Begriffe in der Japanischen Sprache halten würde und sofort startete eine jener spontanen Rederunden auf der anderen Seite des Klassenraums. Mehr als fünfzehn Argumente hörte ich mir an und musste als Letzter dann immer noch etwas Originäres von mir geben und dies auch halbwegs verständlich formulieren. Irgendwie schaffte ich es immer, doch in mir stieg beständig die Angst einmal keine Antwort zu wissen. Nun mag man sich denken, dass es doch nur ein Sprachkurs zum Erlernen der neuen Sprache ist, weshalb man sich gar nicht dafür schämen muss, wenn man eimal etwas nicht weiß. Doch auf genau jenen Gedanken hatte Frau Kitamura zum Beginn ihres Unterrichts einen passenden Kommentar: "Wenn Sie etwas nicht wissen, dann sagen Sie bitte laut, dass sie passen müssen. Man kann ja schließlich nicht alles wissen. Das erlaube ich Ihnen aber nur dreimal. Wenn Sie dann wieder keine Antwort wissen, nun, das werden Sie dann herausfinden.". Und mit einem geheimnisvollen Lächeln, welches mir einen kalter Schauer über den Rücken laufen lies, setzte sie den Unterricht fort.
Der schlimmste Moment an diesem Tag war wohl nachdem wir den Haupttext der Lektion beendet hatten und Frau Kitamura strahlend in der Klasse verkündete, dass wir nun sicherlich alle den zweiseitigen Haupttext verstanden hätten, weshalb ein Student nun den gesamten Text in eigenen Worten wiedergeben könnte. Zwei Minuten freies Sprechen würden genügen. Das schnürte wohl auch den sonst so redegewandten Koreanern die Kehle zu, denn es herrschte Totenstille im Kurs und jeder war intensiv damit beschäftigt mit seinem Blick Löcher in den Tisch vor sich zu bohren. Und als sich nach einer Weile niemand gemeldet hatte, sagte Frau Kitamura etwas, was jeden in Angst und Schrecken versetzte: "Nun, wenn sich niemand meldet, dann muss ich wohl selbst jemanden auswählen.". Und dann nahm sie sich die Klassenliste und studierte die Namen, während alle stumm warteten und hofften, dass sie verschont bleiben würden. Ich saß da, schwitzte mich zu Tode und war kurz davor meine Stuhl mit meinen verkrampften Händen zu zerbrechen, als Frau Kitamura schließlich den Namen irgendeiner Chinesin rief, die am Vortag zu spät gekommen war. "Ein Glück, dass ich immer so pünktlich bin und nie den Unterricht schwänze.", dachte ich mir und entspannte mich wieder.
In der Mittagspause traf ich mich wieder mit Lee und dieses Mal hatte ich mir am Vorabend vorausschauend einen Nudelsalat zubereitet und eingepackt, um mich weder in der Mensa, noch an der Kasse am Supermarkts anstellen zu müssen. Gemeinsam saßen wir auf dem Campus in der Sonne und teilten unser Mittagessen, während wir uns über den bisherigen Tagesverlauf unterhielten. Wie ich erfuhr hatte auch Lee in ihrem Kurs die erste Präsentation zugeteilt bekommen und so sprachen wir ein wenig über unsere anstehenden Präsentationen, mögliche Themen und die verantwortlichen Lehrer. 
Als ich am Nachmittag wieder im Unterricht von Frau Kitamura saß, machte das Gerücht, dass eine Chinesin den Kurs verlassen hätte und in den Mittelkurs gewechselt wäre, die Runde. Nach meinem Leiden vom Vormittag konnte ich verstehen, warum einige Personen das machen würden, dennoch war ich überrascht, weil ich angenommen hatte, dass ich einer der Einzigen gewesen war der das Gefühl hatte überfordert zu sein. Doch ein Blick in die Runde verriet, dass die Chinesin nicht die Einzige war, die den Kurs verlassen hatte. Sie war zwar die Einzige, die diesen Nachmittag den Kurs gewechselt hatte, aber im Vergleich zum Vortag, waren die Reihen dünner besetzt. Ich hatte am Vortag den Kurs nicht durchgezählt, noch hatte ich mir die neuen Gesichter und Namen merken können, darum wusste ich nicht wer den Kurs verlassen hatte, aber es machte sich bemerkbar, dass der Kurs von rund zwanzig Teilnehmern auf mittlerweile knapp fünfzehn gesunken war. Ein wenig schaute ich mich um, doch die einzig neuen Gesichter, die mir bekannt vorkamen, waren ein Mädchen aus den Philippinen, da sie das einzige Mädchen dorther war, sowie ein Junge aus Taiwan, da er der einzige neue Junge im Sprachkurs war. All die anderen waren für mich zu diesem Zeitpunkt eine namenlose Masse bestehend aus Mädchen aus China und Korea. Zu keinem hatte ich Kontakt, keine kannte ich näher. Und so ging dann schließlich der Mittagsunterricht zu Ende, ohne dass etwas Nennenswertes passiert wäre.
Der Unterricht von Frau Kitamura hatte seine Spuren hinterlassen, weshalb ich den gesamten Nachmittag und Abend in meinem Zimmer saß und lernte. Nur zum Abendessen legte ich eine kurze Pause ein, ansonsten lernte ich wie ein Berserker bis elf Uhr abends, bevor ich mich erschöpft in mein Bett fallen ließ. Und schon wie am Vortag hatte ich das Gefühl mit vielen anderen Kursteilnehmern nicht mithalten zu können. Der Sprachkurs war so viel schwerer geworden seit dem letzten Semester und ich merkte, dass der Lernstoff in Menge und Schwierigkeit zugenommen hatte. Im Mittelkurs kannte ich viele der Pflichtwörter bereits und widmete meine Zeit dem freiwilligen Erlernen anderer Wörter und dem Verfestigen der neuen Grammatik, doch mittlerweile hatte ich bereits nach zwei Tagen das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wuchs. Bis elf Uhr hatte ich dagesessen und nicht einmal das in meinen Kopf bekommen, was wir in den letzten zwei Tagen im Unterricht behandelt hatten. Aufgeben würde ich sicher nicht, sicher auch nicht klagen, aber ich stellte mich auf ein stressiges Semester ein und bedauerte beim Einschlafen, dass ich in den letzten zwei Tagen weder die Zeit gefunden hatte um für mein Blog zu schreiben, noch mit meiner Familie und meinen Freunden zu telefonieren.

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