Mit großen Schritten rannte ich die Treppe hinauf, bis vor mir ein Mann mittleren Alters den Platz einnahm und ich ihn nicht über den Haufen rennen wollte. Es hatte bereits geklingelt und eigentlich hatte ich mir vorgenommen in der ersten Woche nicht zu spät zu kommen. Nun, eigentlich nehme ich mir immer vor nicht zu spät zu kommen, was auch stets klappt, aber insbesondere in der allerersten Uniwoche wollte ich es auf jeden Fall überpünktlich sein, schließlich war der erste Eindruck oft entscheidend. Und bei all den neuen Lehrenden im zweiten Semester gab es ein Menge an ersten Eindrücken. Ein wenig nervös lief ich hinter dem Mann im mittleren Alter Stufe um Stufe nach oben in den fünften Stock des Gebäudes. Das Einzige, das mich daran hinderte an ihm vorbei in meinen Klassenraum zu stürmen, war die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet der Mann vor mir mein neuer Sprachlehrer sein könnte. Eine verschwindend kleine Wahrscheinlichkeit, aber doch möglich, dachte ich mir, schließlich stand auf meinem Stundenplan für heute morgen nur der Name Ikuta ohne jegliche Angabe zum Geschlecht. Zugegebenermaßen waren weibliche Sprachlehrer an der Dokkyo-Universität in der Überzahl und ich fragte mich, ob es überhaupt irgendeinen männlichen Sprachlehrer gab, gehört hatte ich noch von keinem. Ich lief gemächlich die letzten Treppenstufen hinter dem Mann nach oben und ohrfeigte mich innerlich dafür am Morgen zu einem falschen Lehrraum am anderen Ende des Campus gelaufen zu sein, hätte ich doch nur noch einmal einen Blick auf den Raumplan geworfen. Doch so hatte ich vor einem leeren Saal gestanden und mich gefragt, ob etwa alle anderen Studierenden verspätet seien, was ehrlich gesagt gar nicht so unwahrscheinlich gewesen wäre. Und dann war ich über den Campus gehetzt, während ich es bereits klingeln hörte und außer mir kaum noch jemand unterwegs war, schließlich saßen schon alle in ihren Klassensälen. Auf den letzten Metern vor dem Saal lief ich dann schließlich an dem Mann im mittleren Alter vorbei, nickte ihm kurz zu und ging zu der hinteren Tür des Klassensaals. Und so betrat ich den Raum zum gleichen Zeitpunkt wie der Mann im mittleren Alter, mein Lehrer Herr Ikuta.
Ich hatte mir schon immer einen männlichen Sprachlehrer gewünscht, um herauszufinden, ob es wohl einen Unterschied zwischen ihnen und ihren zahlreichen weiblichen Pendants gibt, denn bislang hatte ich eigentlich fast immer weibliche Sprachlehrerinnen gehabt, sei es im japanischen Sprachunterricht in Marburg, im Schnupperkurs für Chinesisch, hier im Unterricht in Japan oder in meinem Schulunterricht für Französisch und Englisch. Möglicherweise war er nur ein sehr schlechtes Beispiel seiner Spezies, doch nach meinem ersten Unterricht bei Herrn Ikuta kann ich ruhigen Gewissens sagen, dass ich nichts verpasst habe. Möchte man ihn treffend beschreiben, so passt wohl am besten das Wort Schlaftablette. Ich scheue ja grundsätzlich ein wenig davor zurück Leuten solch einen Stempel aufzudrücken, aber wenn es eine Person gibt, auf die diese Bezeichnung wie die Faust aufs Auge passt, dann ist es Herr Ikuta, denn irgendwie hat er es geschafft den gesamten Kurs zum Einschlafen zu bringen. Vielleicht lag es daran, dass er sehr schnell und undeutlich sprach und man deswegen nie wirklich verstand, was er sagen wollte, vielleicht lag es auch einfach daran, dass er seinen ununterbrochenen Redefluss nicht einmal während der grammatischen Übungen unterbrach und die Lösungen gleich im Anschluss selbst vortrug, was den Studierenden jede Form von eigener Denkarbeit abnahm. Jedenfalls hingen bereits nach fünf Minuten Unterricht alle Studierenden im Saal in den Seilen, dösten vor sich hin, kritzelten in ihre Bücher oder spielten mit ihren Mobiltelefonen. Und selbst ich, der ja immer zuhört, saß nur als körperliche Hülle aufrecht da, während mein Geist auf Reisen ging. Immer wieder musste ich mich von Neuem zusammenreißen und seinem Genuschel lauschen, ehe meine Gedanken wieder abschweiften und ich erst nach einigen Augenblicken, manchmal Minuten, bemerkte, dass ich ja noch im Unterricht war und zuhören sollte.
Ich erschrak fürchterlich, als mir jemand auf die Schulter tippte. Erschrocken drehte ich mich um und sah Yuuichi hinter mir stehen. "David?", fragte er in gebrochenem Englisch, "Das ist ja eine Ewigkeit her!". Es dauerte einige Augenblicke bis ich Yuuichis Gesicht einordnen konnte und mein Gehirn mir einen Masse an Informationen zugeschickt hatte: Yuuichi, das war ein Freund von Shinya gewesen, der bereits zweimal in meiner Wohnung zu Gast gewesen war. Einmal als wir zusammen mit Lee, Katharina und einigen anderen Deutschen Sushi gemacht hatten ("Stipendien, Schmetterlinge und Sushi"), ein andermal als ich für Shinya gekocht hatte ("See ya, Shinya!"). Und nun hatten wir uns im Supermarkt ein drittes Mal getroffen und kamen ins Gespräch. Ursprünglich hatte ich mir ja vorgenommen in der Mittagspause nur schnell etwas im Supermarkt zu kaufen und mich dann in der Mensa zu irgendjemanden zu setzen, doch nun änderte ich meine Pläne und verbrachte die Pause mit Yuuichi. Nachdem sich jeder sein Mittagessen gekauft hatte, liefen wir zurück zum Campus und setzten uns in die Sonne. Und da Yuuichis Englisch eher schlecht als recht war, unterhielten wir uns auf Japanisch, was zwar auch nicht gerade flüssig verlief, aber doch ein willkommenes Training für meine Sprachfertigkeiten war. Wie sich herausstellte waren wir beide zwischen den Semestern etwa zur gleichen Zeit in Kyoto gewesen, weshalb wir uns ausgiebig über unsere Ausflüge unterhielten und über die Sehenswürdigkeiten, die wir besucht hatten, diskutierten. Und während wir sprachen, kam ein leichter Wind auf, wehte zwischen den Gebäuden der Universität umher und riss einen ganzen Stoss an Kirschblütenblättern mit sich, weshalb wir kurzfristig in einer großen rosafarbenen Wolke saßen. "Cool...", sagten wir beide fast gleichzeitig und ich machte mir eine gedankliche Notiz morgen meine Kamera mitzunehmen, um die Kirschblüten noch ein letztes Mal zu fotografieren, ehe der Zauber vorüber war.
Es wurde still unter den Kursteilnehmern, als Frau Nakanishi den Kurs betrat. Sie trug ein makelloses Kostüm und ein ebenso makelloses Lächeln zur Schau und zeigte mit ihrem bewussten, selbstsicheren Gang zum Lehrerpult, dass sie eine starke Frau war, mit der nicht zu spassen war. Mit ihrem einschüchternden, makellosen Lächeln blickte sie in den Raum und begann selbstsicher und ebenso makellos, wie man es erwartet hätte, zu reden, geradezu so als würde sie einen Lehrbuchtext flüssig und perfekt betont vortragen: "Ist das heute nicht ein wunderschönes Wetter?". Wie bei einer perfekten Choreographie machte sie eine kurze Pause und untermalte ihren Satz mit einem Blick aus dem Fenster, dem alle Kursteilnehmer synchron folgten. "Genau das richtige Wetter um zu lernen.". Und mit einem makellosen Lächeln legte sie das Lehrbuch vor sich auf das Lehrerpult, machte erneut eine kurze Pause und blickte dann geradezu gespenstisch lächelnd in den Kurs. Dann stellte sie sich vor, in ihrer Stimme eine Präzision, die einer Ameise den Fühler aus hundert Metern Entfernung hätte wegschießen können: "Mein Name ist", eine kurze Pause und schließlich unterlegt von einem Kopfnicken, "Nakanishi.". Abrupt drehte sie sich auf ihren Absätzen um und schrieb ihren Namen in sauberen, makellosen Schriftzeichen an die Tafel. Es gab kein Getuschel im Kurs, kein Husten, nicht einmal das Geräusch eines Stiftes, der über Papier kritzelt, während sie sich umdrehte und uns für einen Moment den Rücken zukehrte. Jeder saß aufrecht und angespannt da, als hätte Frau Nakanishi Augen am Hinterkopf. Und als sie ihren Namen an die Tafel geschrieben hatte, drehte sie sich wieder zum Kurs, schraubte ihr makelloses Lächeln noch eine Stufe höher und sagte: "Ich denke wir werden gemeinsam viel Spass haben.".
Frau Nakanishis Unterricht war das genaue Gegenteil von Herrn Ikutas langweiligem Unterricht vom Vormittag, denn sie forderte uns. Ihr oberstes Prinzip war es die Studenten frei arbeiten zu lassen, was eigentlich nicht schlecht ist. Darum hatte sie zu unserer Lektion ihre eigenen Lernunterlagen mitgebracht, die wir in Gruppenarbeit bearbeiteten, statt stur das Buch durchzuarbeiten. Und so wurde jeder einem anderen Kursteilnehmer zugeteilt und man musste gemeinsam über vorgegebene Fragestellungen diskutieren. Die Ergebnisse wurden dann gemeinsam im Kurs besprochen, was im Klartext hieß: Man musste in einem kurzen freien Vortrag seine Antworten vorstellen und Frau Nakanishi hakte nach. Dabei bediente sie sich eines Stapels von Karten, auf denen unsere Namen vermerkt waren. Die Person, deren Karte ganz oben auf dem Stapel war, musste immer auf ihre Fragen antworten. War dieses Gespräch zu ihrer Zufriedenheit, wurde die Karte beiseite gelegt und man konnte sich erst einmal zurücklehnen, war die Antwort nicht ausreichend, zu kurz oder voller Sprachfehler, so wurde die Karte wieder in den Stapel gemischt und man musste damit rechnen jederzeit wieder drangenommen zu werden. Ob Frau Nakanishi fordernd war? Auf jeden Fall. Ob sie streng war? Nun, eigentlich nicht, sie war sogar sehr freundschaftlich und hilfsbereit. Wenn man sich versprach, Schwierigkeiten hatte sich zu artikulieren oder keine Antwort auf ihre Frage wusste, war es nicht schlimm: Es gab keine Bestrafung, kein Kopfschütteln, nicht einmal eine schnippische Bemerkung. Stattdessen lächelte sie immer und versuchte uns mit einem Kopfnicken dazu zu bringen mehr zu sagen und angefangene Sätze trotz Stolpersteinen zu Ende zu bringen. Dennoch wurde ich die ganze Zeit das Gefühl nicht los, dass Frau Nakanishi jeden Moment, trotz ihres makellosen Lächelns, explodieren würde. Doch nichts geschah.
Auf dem Weg zum Wohnheim unterhielt ich mich mit Marvin und Paul über Frau Nakanishi und wir kamen alle darin überein, dass sie eine ungeheure Präsenz besaß. Von dem Augenblick in dem sie den Raum betreten, bis zu dem Moment in dem sie ihn wieder verlassen hatte, vermittelte ihre bloße Präsenz einen Druck und eine Anspannung, die man kaum beschreiben kann, obgleich ihre Worte und Taten ein ganz anderes Bild zeichneten: Eine freundliche, ältere Dame, die nur darum bemüht ist, dass alle mit Freude möglichst effektiv lernen. Es war geradezu so, als steckten zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in dieser Frau, also praktisch zwei Lehrer zum Preis von einem. "Ich bin wirklich gespannt wie sich das entwickelt.", sagte ich zu Paul und Marvin und dachte an die Begegnung mit Frau Nakanishi. Ja, das war ich wirklich.
2 Kommentare:
Doch, einen Sprachlehrer hatten wir schon. Kannst du dich noch an Herrn Vogel erinnern?
"Herr Vogel? Was heisst denn 'onnüjö' auf deutsch?"
"'Ennuyeux'? 'Ennuierend'!"
"Uh yeah, super, vielen Dank Herr Vogel."
Er hat einfach alles immer direkt übersetzt und ich fürchte seine abstrusen deutschen Wörter gabs sogar wirklich.
Irgendwie hatt ich bei Fr. Nakanishi eine Horrorfilm-Szene vor meinem geistigen Auge: Sie steht am Fenster mit künstlichem erstarrtem Lächeln auf den Lippen. "Ist das heute nicht ein wunderschönes Wetter? Genau das richtige Wetter um zu..." Der Körper bleibt in Position und nur der Kopf dreht sich einmal um 180° bis er auf euch gerichtet ist. Das Lächeln verschwindet ruckartig und wird zu einer verzerrten Fratze und eine tiefe Stimme sagt "LERNEN!"
Ja, in der Schule hatten wir schon einige Sprachlehrer. Da waren ein paar komische Vögel dabei, nicht nur Herr Vogel. Zum Beispiel Herr Roth, dem Melanie ihren Spitznamen "Miss Irony" verdankt, da er der festen Überzeugung war, dass ihre gesamte Klausur ironisch gemeint war und von dem ich gelernt habe, dass man sich bei Aufgabenstellungen, deren Antwort nicht in dem vorgegebenen Klausurtext zu finden ist, einfach irgendetwas etwas ausdenken muss.
Ich habe dein kleines Horrorszenario bereits mehreren Kommilitonen vorgespielt und es fand großen Anklang. Es scheint, dass du nicht der Einzige bist, der sich Frau Nakanishi in etwa so vorstellt. Ich freue mich schon öfters über sie berichten zu können, bietet ihr Unterricht doch immer wieder Gesprächsstoff.
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