Wieder so ein japanisches Wort, mit dem wohl kaum jemand etwas anfangen kann: senpai. Dabei habe ich es nicht gewählt, um mit meinem Japanisch zu prahlen, sondern weil es einer jener Begriffe ist, für den es im Deutschen keine Übersetzung gibt. Zumindest keine, die kürzer als ein Absatz wäre. Dabei ist senpai gar nichts wirklich Besonderes oder Japanspezifisches, nein, man könnte fast sagen, dass es senpai auch in Deutschland gibt, nur eben ohne dass man ein Wort hierzulande hätte. Aber was genau ist nun senpai? Nun, erst einmal ist es ein Mensch. Jeder von uns könnte ein senpai sein, vermutlich war es auch jeder in seinem Leben auch schon mindestens einmal. Das ist aber nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil. Einen senpai kann man überall finden: Am Arbeitsplatz, aber auch in Vereinen oder Clubs. Am einfachsten zu erklären ist für mich ein senpai aber mit dem, was mir am nächsten liegt: Mit der Universität.
Die japanischen Schriftzeichen für senpai bedeuten separat betrachtet "vorher" und "Person" und damit hat man eigentlich schon eine ganz griffige Erklärung: Eine Person, die vorher da war. Bezieht man das auf das Unileben als Student, ist ein senpai nun aber niemand, der immer zuerst im Klassenraum sitzt oder der in der Mensa seinen Platz mit einer Tasche reserviert hat, sonder vielmehr jemand, der schon länger an der Universität ist. Kurz, ein Student aus einem höheren Semester. Wenn sich also zum Sommersemester die neuen Studenten einschreiben, ist keiner von ihnen ein senpai, schließlich beginnen sie alle ihr Studium zum gleichen Zeitpunkt und mit den gleichen Startvorraussetzungen. Doch sobald ein Jahr vergangen ist und sich die nächsten Studenten einschreiben, werden aus den ersten Studenten senpai, zumindest aus Sicht der Neulinge, denn schließlich waren die ersten Studenten schon vorher da.
Ein senpai zu sein, heißt nun aber nicht einfach nur einen tollen Titel zu haben, mit dem man sich schmücken darf, nein, es ist auch Zeichen dafür in der Hierarchie des menschlichen Miteinander ein wenig weiter oben zu stehen. Man hat also ein wenig das Anrecht von jenen, die in der imaginären Hierarchiepyramide unter einem stehen, höflich und mit Respekt behandelt zu werden. Auf der anderen Seite hat man als senpai einerseits Macht über seine Unterlinge, gleichzeitig aber auch Verantwortung, also ein wenig wie ein Kindergärtner. Das hört sich nun ziemlich absolut und strikt an, ist in der Realität dann aber doch recht simpel. Nehmen wir beispielsweise meinen Freund Tak, der mittlerweile graduiert ist. Als er noch an der Uni war, war er für die Studenten seines Studiengangs, die sich in niedrigeren Semestern befanden, ein senpai. Zum Beispiel für Tomoki, den jungen Schützling von Tak, über den ich schon einige Male geschrieben habe ("Zehn Minuten"). Tomoki ist einige Semester unter Tak und wurde ihm ein wenig an die Hand gegeben, so wie es oft mit neuen Studenten ist. Da Tak nun aber aus Sicht von Tomoki ein senpai ist, redet er Tak stets höflicher an, als er beispielsweise mit seinen Kommilitonen sprechen würde. Wahrscheinlich hält er sich auch mit eigenen Meinungen ein wenig zurück und wird Tak nicht unbedingt häufig widersprechen. Tak hingegen spricht ganz locker mit ihm und nimmt sich auch mal raus Tomoki scherzhaft in die Rippen zu stoßen. Dafür hilft er ihm aber ein wenig beim Studium und lädt ihn auch zu seinem Geburtstag ein, obwohl Tomoki nicht unbedingt ein enger Freund von Tak ist. Aber das macht Tak, denn schließlich ist er der senpai und war schon früher da. Nun da Tak aber die Universität verlassen hat und irgendwo beginnt zu arbeiten, steht er in der Hierarchie des Unternehmens wieder ganz unten, schließlich waren ja alle anderen schon vor ihm da. Und so kann man dieses simple Prinzip praktisch überall finden, an der Universität, am Arbeitsplatz oder in Sportvereinen.
Aber was habe ich nun damit zu tun? Nun, eigentlich nicht viel, denn als Ausländer falle ich ohnehin aus dem Rahmen, schließlich war ich nirgends vorher da. Und wenn ich nicht gerade wie ein normaler Japaner die Unilaufbahn oder eine Berufskarriere durchlaufe, dann füge ich mich in das Hierarchiesystem der Japaner nicht wirklich ein. Ob wir so etwas ähnliches auch in Deutschland haben, nun, darüber kann man sich wohl streiten. Vielleicht in Ansätzen. Manchmal. Auf jeden Fall haben wir kein Wort dafür. Und dennoch kam ich mir heute ein wenig wie ein senpai vor.
Es war Tag 204 in Japan und Lee war aus Kyoto zurückgekehrt. Und da sie erst heute wieder gekommen war, hatte sie keine Zeit gehabt sich die Unterlagen für das kommende Semester zu besorgen und borgte sich darum meine Unterlagen, schließlich hatte ich den Mittelkurs bereits absolviert. Und so kam es, dass wir eine Weile lang beieinander saßen und ich ihr das neue Lernbuch erklärte und sie auf das vorbereitete, was sie im nächsten Semester alles erwarten würde. Dankbar lauschte sie meinen Tips, hörte sich an, was ich über einige der Lehrer zu erzählen hatte und fragte gelegentlich nach, wenn ihr etwas unklar war. Und kaum war sie mit meinen Büchern verschwunden, klingelte es schon wieder an der Tür und Milena, das deutsche Mädchen, das neben mir eingezogen war, stand vor der Tür. Und auch ihr konnte ich von meinen zahlreichen Erfahrungen des letzten Semesters berichten. Es wird da eine sogenannte "Lasst uns Japanisch sprechen"-Party angeboten, begann Milena zu erzählen und sogleich überschüttete ich sie mit Informationen aus meinem ganz eigenen Erfahrungsschatz ("Pakete, Partys, Peinlichkeiten"), schließlich war ich dort vorher schon einmal gewesen. Doch so viel ich auch von mir gab, letztlich schloss ich mit den Worten: "Geh aber auf jeden Fall mal hin, denn dann hast du etwas zu erzählen. Es ist doch nur halb so lustig von anderen erzählt zu bekommen, was man auf den peinlichen Partys des international centers erlebt.". Und so stand ich mit Milena noch eine Weile lang zwischen Tür und Angel, ehe sie sich verabschiedete und ich schließlich alleine war. "So viele Menschen, die an meinem Wissen aus dem letzten Semester teilhaben wollen", dachte ich mir und fühlte mich sehr wichtig. "Nun ja, in gewisser Weise bin ich ja ihr senpai. Schließlich habe ich all dies schon vor ihnen erlebt. Ich war schon vorher da.". Und so fühlte ich mich an diesem Abend wie ein waschechter senpai.
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