Wenn es etwas gibt, das ich als das Wahrzeichen Japans bezeichnen würde, dann vermutlich den Fuji, den höchsten Berg Japans. Man findet ihn als Motiv historischer Zeichnungen, auf den Umschlägen von Werbeprospekten, als Schlüsselanhänger und eigentlich fast überall in der japanischen Kultur, sowohl in der traditionellen Kunst, als auch in der Populärkultur. Und natürlich bin auch ich während meines Japanjahres immer und immer wieder mit dem populärsten Berg Japans in Berührung gekommen: Mal ganz konkret, als ich in der Nähe des Fuji wandern ging ("
A day in the woods") oder wenn ich abends von der Brüstung meines Wohnheims aus zum Horizont blickte ("
Manchmal zur Dämmerung"), und dann wieder indirekt, wenn in unserem Lehrbuch der Fuji zum Größenvergleich für andere Sehenswürdigkeiten, wie dem Großen Buddha von Nara ("
Die Hirsche von Nara"), dem Buddha von Kamakura ("
Zu sechst nach Kamakura") oder gar dem höchsten Gebäude Japans in Yokohama ("
Ein Tag in Yokohama - Wolken und Meer") diente, man Reiseberichte über dessen Besteigung las oder die unzähligen Abbildungen und Gemälde überall in Japan betrachtete.
Einmal kam in meinem Lehrbuch sogar ein japanisches Sprichwort vor, das besagt, dass jeder in seinem Leben einmal den Fuji hochsteigen solle. Wer es nie oder mehr als einmal machen würde, sei ein Dummkopf. Zugegeben, niemand meiner japanischen Freunde hatte je von diesem Sprichwort gehört und so kommentierte Ayano nur trocken, dass sie wohl ein Dummkopf wäre, weil sie noch nie den Fuji hochgestiegen wäre, während Tak dreimal nachfragte, um dann doch nur verständnislos mit dem Kopf zu schütteln. Dennoch habe ich mir seitdem im Hinterkopf behalten, dass es wohl etwas Besonderes wäre einmal den Fuji zu erklimmen und ich es, würde sich mir die Gelegenheit dazu bieten, sogar machen würde. Und so verging Woche um Woche, Monat um Monat und mein Jahr in Japan neigte sich bereits dem Ende zu, als schließlich die Britin Jessica auf mich zukam und mich zur Besteigung des Fuji einlud. Zwar war ich erst ein wenig unschlüssig, doch letztlich sagte ich zu. Wer weiß wann sich mir je wieder die Gelegenheit geboten hätte?
Es war Tag 314 in Japan als es schließlich so weit war und ich mit vollgepacktem Rucksack gemeinsam mit Milena, Lee, Jessica und einem ganzen Haufen britischer Freunde, die zu Besuch nach Japan gekommen waren, nach Shinjuku fuhr. In der Nähe des riesigen Bahnhofs sollte unser Bus abfahren, der uns in knapp zwei Stunden bis auf etwa 2200 Meter Höhe fahren würde, von wo aus wir dann in einer Nachtwanderung bis zum Gipfel hinaufsteigen wollten, um uns gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen. Ein recht simples Vorhaben, dachte ich mir und stellte mir vor, wie wir alle frohen Mutes mitten in der Nacht gemächlich einem Pfad nach oben folgen, gelegentlich eine Rast einlegen und am Gipfel schließlich jubelnd Gruppenbilder vor dem Hintergrund des Sonnenaufgangs schießen würden. Ja, es würde anstrengend werden, insbesondere wegen der Uhrzeit, sagte ich mir bereits im Vorhinein, doch ich war motiviert und fühlte mich der Besteigung des höchsten Berges Japans gewappnet. Doch hätte ich gewusst, was mir tatsächlich bevorstand, ich wäre vermutlich zu Hause geblieben.
Die zweistündige Fahrt im Bus war angenehm und ich nutzte die Zeit, um einige der Briten näher kennenzulernen. Man scherzte, tauschte sich aus und motivierte sich gegenseitig für den kommenden Aufstieg. Und ehe man sich versah, ging um uns herum die Sonne unter und wir fuhren erst in der Dämmerung und schließlich im Dunkel der Nacht zwischen den Bergen Zentraljapans hindurch, ehe wir gegen Sieben Uhr abends am Fuji ausstiegen. Wir befanden uns bereits auf etwa 2200 Metern Höhe, doch davon merkte ich nicht viel. Ich hätte ebenso an einer beliebigen Autobahnhaltestelle stehen können. Alles was ich sah, war die Dunkelheit um mich herum und den großen beleuchteten Souvenirladen, vor dem wir abgesetzt worden waren. Und so startete unser Besuch des Fuji mit dem obligatorischen Durchstöbern des Ladens, dem Betrachten von Kitsch, dem Gang zur Toilette und dem Beisammensitzen in einer ruhigen Ecke, um ein provisorisches Abendessen abzuhalten. Fast eine Stunde zog vorüber, ohne dass jemand von uns auch nur an den Aufstieg dachte, nicht weil wir demotiviert oder faul gewesen wären, nein, weil es jedem ans Herzen gelegt wurde dem Körper eine Stunde Zeit zu geben, um sich an die veränderten Bedingungen zu gewöhnen, wie die Temperatur und den Luftdruck. Die Temperatur fiel mir auch sehr schnell auf, schließlich war es in über zweitausend Metern Höhe doch erfrischend kühl, doch der veränderte Luftdruck schien mir so gar nichts auszumachen. Dennoch befolgte ich brav die Hinweise, aß eine kleine Mahlzeit, trank ausreichend und genoss die letzte Stunde vor dem Aufstieg mit den anderen.
Film1: Ein kurzes Video, das Milena während der Busfahrt von Shinjuku zum Fuji aufnahm. (Danke an Milena für das Video)
Bild1: Ein Blick auf die bergige Umgebung nahe dem Fuji. Zu diesem Zeitpunkt dämmerte es bereits. (Danke an Milena für das Foto)
Bild2: Ein Blick auf die Runde der Briten. In der Mitte sitzt Jessica mit ihren blonden Haaren.
Bild3: Und noch ein weiteres Bild, um auch jene Briten zu zeigen, die auf dem vorherigen Bild nicht zu sehen waren.

Bild4: Milena und Lee vor dem Aufstieg. Im Hintergrund sieht man ein wenig den weitläufigen Souvenirladen, in dem von Lebensmitteln, über Kuscheltiere, Postkarten, bis hin zu Schlüsselanhängern alles angeboten wurde.
Bild5: Lee und ich beim Verspeisen unseres provisorischen Abendessens, kurz bevor wir losgingen. (Danke an Milena für das Foto)
Am Abend gegen acht Uhr starteten wir schließlich unseren Aufstieg. Wer musste, ging noch einmal aufs Klo, vor dem Souvenirladen wurde noch ein Gruppenfoto geschossen und dann standen wir ein wenig verlassen mitten im Dunkel der Nacht.
"Wir haben immer vom Aufstieg geredet, aber wo geht es denn jetzt nach oben?"
Ein wenig unschlüssig schauten wir uns um, doch weit und breit war kein Schild zu sehen, auf dem der Gipfel ausgeschildert gewesen wäre. Es gab auch keine anderen Wanderer, die man hätte fragen könne, und das, obwohl in meinem Reiseführer ganz altklug stand, dass man sich für den Aufstieg nur an die Fersen seines Vordermannes zu heften bräuchte. Und so folgten wir alle etwas verunsichert einem Briten, der sich relativ sicher war, dass wir in die von ihm gewählte Richtung laufen mussten. Ein wenig misstrauisch war ich schon, als wir ganz einsam in vollkommener Dunkelheit dem breiten Weg folgten, der stetig bergab führte.
"Wir wollen doch auf den Gipfel. Warum laufen wir dann herab?"
Lee zuckte mit den Schultern.
"Ich laufe nur den anderen nach."
Und so zuckte auch ich mit meinen Schultern und lief den anderen hinterher, während ich mit meiner Taschenlampe den Weg beleuchtete. Und tatsächlich: Nach einigen Minuten Fußmarsch ging es allmählich bergauf und wir hatten endlich das Gefühl voran zu kommen. Frohen Mutes stapften wir nebeneinander her, unterhielten uns und spielten mit unseren Taschenlampen. Es war gar nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt hatte, dachte ich mir insgeheim, während ich ununterbrochen im Mittelfeld unserer Gruppen mitlief. Der Anstieg war nur minimal und es kostete kaum Kraft voranzukommen, nur sehr selten war ein kurzer Abschnitt, an dem es etwas steiler wurde und man ein wenig ins Keuchen kam, doch das nur halb so schlimm. Ich freute mich sogar, dass mein Körper ein wenig gefordert wurde, hatte ich doch das Gefühl etwas Gutes für mich zu tun. Und so dauerte es letztlich gerade einmal eine knappe halbe Stunde, bis wir nach Station fünf, an der wir mit dem Bus angekommen und gestartet waren, auch schon freudig Station sechs erreichten. Würde es in diesem Tempo weitergehen wir würden den Gipfel in Windeseile erreicht haben, schließlich war er die symbolische Station neun.

Bild6: Eine kurze Rast irgendwo zwischen Station fünf und sechs. Außer Atem waren wir nicht wirklich, aber wir wollten uns alle paar Minuten immer wieder sammeln, um niemanden zu verlieren. Außerdem wollten wir ein paar Bilder machen, doch wie zu erwarten, war dies im Dunkeln fast unmöglich.
Bild7: Milena und Lee beim Erreichen der Sechsten Station. Wir waren alle nicht mehr ganz so frisch, wie zum Beginn unserer Reise, aber noch genauso motiviert.
Der Weg von der sechsten Station bis zur siebten Station verlief in Serpentinen, in endlosen Serpentinen. Etwa einhundert Meter nach rechts, um die Ecke, einhundert Meter nach links, um die Ecke und wieder von vorne. Ich weiß nicht wie lange wir so liefen, bestimmt eineinhalb Stunden, vielleicht länger. Und allmählich, Serpentine für Serpentine, Stufe für Stufe, Höhenmeter für Höhenmeter, verließen uns die Kräfte. Liefen wir anfangs noch frohen Mutes den Berg hinauf, frisch motiviert durch das Erreichen der sechsten Station, wurde es doch schon bald still. Jeder lief mehr oder weniger für sich selbst durch die Nacht, schleppte sich den steinigen Weg nach oben, ohne auf das lose Geröll zu treten, und lief eng an der Wand entlang, um vor den gelegentlichen Böen geschützt zu sein, die mitunter vom Berg herunter wehten. Das stetige bergauf machte uns zu schaffen, denn es gab keine Zwischenrast, keine Waagrechte, immer nur den Weg, der, je weiter wir noch oben kamen, immer unbefestigter wurde. War es Anfangs noch ein leicht passierbarer Weg, rutschten wir schon bald auf Schotter umher. Jeder dritte Schritt war ein Schritt zurück, weil man stetig wieder nach unten rutschte. Nur gelegentlich gab es provisorische Stufen, Querverstrebungen, die den Schotter einigermaßen am Platz hielten, doch diese waren mitunter so hoch, dass man sie fast schon hochklettern musste. Selbst ich mit meinen langen Beinen hatte mitunter Schwierigkeiten eine Stufe zu erklimmen, die fast einen halben Meter hoch war, und so lief ich immer in der Nähe von Milena und Lee, um den beiden bei Bedarf eine helfende Hand entgegenzustrecken. Und so kam es, dass ich passagenweise Händchen haltend mit Lee voran lief, um sie eine Stufe nach der anderen hochzuziehen. Ein knappes "Danke" presste Lee dann immer hervor, für mehr reichte ihr Atem meist nicht mehr. Und mir ging es ähnlich: Ich war außer Atem, meine Beine begannen allmählich lahm zu werden und ich war erleichtert, wenn immer wir nach jeder zweiten Kurve eine kurze Verschnaufpause einlegten, uns an die Wand drückten und die wenigen Augenblicke nutzten, um ein wenig abzukühlen, Luft zu holen und den Mund zu befeuchten. Noch lief ich tapfer mit Lee an vorderster Front, gelegentlich auch Milena, doch nach und nach kristallisierten sich die Schnelleren und Langsameren heraus. Einer der Briten fiel immer weiter zurück und auch Milena konnte nicht auf Dauer an der Spitze laufen, andererseits eilten einige Briten stets voraus und mussten dann um so länger auf die Nachzügler warten. Doch noch waren wir eine Gruppe, warteten aufeinander und versuchten uns gegenseitig zu motivieren. Und irgendwann, nach einer Ewigkeit auf dem Weg der Serpentinen, erreichten wir Station Sieben auf 2700 Metern Höhe.
Wir pausierten eine ganze Weile bei Station Sieben, sicherlich zwanzig Minuten. Und nach dem ersten Minuten stillen Schweigens kamen auch wieder Unterhaltungen auf, die Motivation vom Start kehrte allmählich zurück. Doch so freudig dies auch war, ich hatte ein ganz anderes Problem: Ich war geschwitzt, mein Rücken war klatschnass. Und je länger ich tatenlos herumsaß, um zu Atem zu kommen, um wieder abzukühlen, desto mehr fror ich. Mittlerweile war es spät in der Nacht, die Temperatur auf 2700 Metern Höhe betrug maximal noch zehn Grad und unentwegt wehten Böen über die kleine Hütte, die sich an den Berg schmiegte. Und dies führte dazu, dass ich ein eiskaltes, nasses T-Shirt an meinem Rücken kleben hatte. Am liebsten wollte ich mich gar nicht bewegen, damit das T-Shirt meinen Rücken nicht berühren würde, doch ebenso wollte ich nicht länger bewegungslos im kalten Wind sitzen, der mir unter die Kleidung fuhr. Und so erinnere ich mich noch jetzt mit Grauen an den Moment, in dem ich meinen Rucksack wieder aufsetzte und für einige Minuten die Zähne zusammenbeißen musste, als mir das Gewicht des Rucksacks das eiskalte, nasse T-Shirt an den Rücken presste, wie mühsam es war die erste Schritte zu machen, nachdem ich fast eine Viertelstunde frierend auf der spartanischen Holzbank im Freien gesessen hatte.

Bild8: Endlich erreichten wie Station Sieben. Man sieht, dass wir alle schon dick angezogen sind, um der Kälte und dem Wind zu trotzen.
Film2: Ein kurzes Video, das Milena auf Station Sieben filmte. (Danke an Milena für das Video)
Gleich nach Station Sieben erhielten wir einen kurzen Einblick in das, was uns bis zum Gipfel erwarten würde: Ein Felsenmeer, auf dem man irgendwie nach oben klettern musste. Es gab keinen vorgeschriebenen Weg mehr, nein, nur noch zwei befestigte Ketten irgendwo links und rechts, zwischen denen man sich irgendwie seinen eigenen Weg bahnen musste. Was sich sehr abenteuerlich anhört, war eigentlich recht amüsant. Ich kletterte eilig das kurze Stück nach oben und stellte mit einigen Briten erschrocken fest, dass die übrigen Teilnehmer unserer Gruppe weitaus mehr Probleme beim Bezwingen der Felsen hatten. Und so mussten wir gemeinsam warten, bis auch die anderen endlich die nächste Hütte, die gerade einmal einhundertfünfzig Meter entfernt lag, erreichten. Ähnlich ging es dann weiter: Eine Kletterpartie nach der anderen, ein Zwischenstop nach dem anderen. Und immer war es das Gleiche: Die Felsen kletterte ich recht schnell hinauf und das Warten an der nächsten Hütte wurde zu einer Qual: Nassgeschwitzt stand ich im eisigen Wind an den Hütten und fror vor mich hin. An jeder Hütte schien es ein wenig kälter zu werden, ein wenig windiger, die Qual zu warten ein wenig schlimmer. Und so setzte ich mich schon gar nicht mehr hin, auch wenn ich erschöpft war. Ich stand, lief ein wenig auf der Stelle umher, um nicht zu schnell abzukühlen. Auch den Rucksack setzte ich kaum noch ab, auch wenn mir der Rücken schmerzte, schließlich ertrug ich es kaum ihn wieder aufzusetzen. Je höher wir kamen, desto wehleidiger wurden einige der Teilnehmer, stöhnten, dass sie nicht mehr könnten, am liebsten zu Hause geblieben wären und schleppten sich nur noch maulend vorwärts. Ich näherte mich auch allmählich dem Ende meiner Kräfte, doch ich bis die Zähne zusammen und sagte kein Wort, stattdessen versuchte ich die anderen, und letztlich mich selbst, aufzumuntern. Immer öfter begegnete wir nun auch anderen Bergsteigern, die vor, hinter und neben uns die Steine hinauf kletterten. Ich weiß nicht mehr wie oft wir den Satz "Lass doch die jungen Leute vorbeiklettern. Die sind voller Elan." zu hören bekamen, und immer presste ich ein gezwungenes "Danke" hervor und versuchte die nächsten Schritte möglichst eilig und professionell zu nehmen, um den Eindruck zu erwecken wirklich voller Elan zu stecken. Und so kämpften wir uns Station für Station nach oben, bis unsere Gruppe schließlich zerfiel.
Ich weiß nicht mehr genau wo es war, irgendwo vor der achten Station, da schlug eine Britin vor die Schnellen vorzulassen, damit diese nicht immer auf die Langsameren warten müssten. Es war keine stille Kritik, kein stummer Hinweis darauf, dass einige warten sollten, es war ein ernsthafter Vorschlag, um jenen, die rechtzeitig zum Sonnenaufgang den Gipfel erreichen wollten, dies zu ermöglichen. Es war keine lange Diskussion, kein wildes Hin und Her, da zogen schließlich vier Motivierte vorweg und ließen den Rest der Gruppe hinter sich. Und einer von jenen Vieren war ich.
Es war bereits nach Mitternacht als ich zusammen mit drei Briten ein schier endloses Felsenmeer nach oben kletterte. Und der Tempowandel machte sich schon bald bemerkbar. Ich war nicht länger einer derjenigen, die warten mussten, bis die anderen nachkamen, nein, ich musste mich nun selbst ins Zeug legen, um nicht hinter den anderen zurückzufallen, denn wenn es eines gab, was ich nun bemerkte, dann dies: Wir waren eine Gruppe von vier ehrgeizigen Jungen, von denen keiner als Erster aufgeben, von denen niemand hinter den anderen zurückbleiben wollte. In rasantem Tempo bewältigten wir die kommenden Höhenmeter, kletterten Stein um Stein, Pfad um Pfad nach oben und durchwanderten eine Hütte nach der anderen. Wir machten keine langen Pausen mehr, maximal wenige Minuten, dann stürzten wir uns wieder auf die Felsen, bissen die Zähne zusammen und kletterten weiter. Mitunter durchwanderten wir die Stationen sogar, ohne überhaupt zu rasten. Und ebenso rasant wie wir aufstiegen, spürte ich wie mich meine Lebensgeister verließen. Ich konnte nicht mehr, war am Ende. Jeder Schritt wurde zur Qual, immer häufiger hielt ich für einen Moment inne, bevor ich auf den nächsten Stein trat, mich die nächste Klippe hochzog. Ich war ständig außer Atem, denn die dünne Luft forderte ihren Tribut, selbst in den Pausen konnte ich mich kaum noch erholen. Die kleinsten Schritte wurde immer anstrengender, brachten mir den Schweiß auf die Stirn. Und es half auch nicht, dass es stetig kühler wurde, dass wir vereinzelt durch Wolken kletterten, die die Steine nass und rutschig werden ließen. Doch ich kämpfte, blieb innerhalb der Gruppe und biss die Zähne zusammen, wenn ich wieder einmal aus Unachtsamkeit auf einen harten Stein trat und einen beißenden Schmerz in meiner Hüfte spürte. Irgendwann war mein rechtes Bein so lahm, dass ich es kaum noch bewegen konnte, und so lief ich nicht mehr Schritt für Schritt, sondern zog nach jedem Tritt mit meinem linken Bein mein rechtes Bein mühsam hinterher. Und doch gab ich nicht auf, ich wollte nicht zurückbleiben, nicht derjenige sein, auf den die anderen warten mussten. Und so erreichten wir nach knapp zwei Stunden Qual schließlich die drittletzte Hütte auf 3360 Metern Höhe.

Bild9: Die drei Briten, mit denen ich vorauseilte, um rechtzeitig zum Sonnenaufgang den Gipfel zu erreichen. Jeder versuchte möglichst gelassen zu wirken, so als würde der Aufstieg niemandem etwas ausmachen.
Bild10: Ein Blick aus 3360 Metern Höhe hinab auf die Serpentinen, die wir auf den letzten Metern hinaufgestiegen waren. Man sieht die zahlreichen Lichter, der übrigen Bergsteiger, denn mittlerweile waren wir nicht mehr so einsam wie zum Beginn.
Es war schon fast eine kleine Siedlung auf 3360 Metern Höhe, Hütte an Hütte, dort ein Laden, dort eine Toilette, dort wieder ein Pfad nach oben zur nächsten Hütte. Und das erste Mal machten wir eine längere Pause. Die Briten setzten sich in eine der beleuchteten Hütten und bestellten sich eine warme Mahlzeit, während ich ins nahgelegene Toilettenhaus verschwand und mich umzog. Mit meinen tauben Händen puhlte ich mich aus meiner Jacke und meinem T-Shirt und stellte fest, dass beides durchgeschwitzt war. Klatschnass, geradezu so, als hätte man sie einmal in Wasser getaucht. Vorallem mein T-Shirt war so feucht, dass ich es zum Spass sogar ein wenig auswrang, um zu sehen, wie Tropfen auf den Boden fielen. Notdürftig trocknete ich mich ab, zog meinen Ersatzpullover über die nackte Haut, darüber meine Regenjacke und darüber schließlich meine durchgeschwitzte Jacke. Und das erste Mal seit langem, fühlte ich mich halbwegs wohl, weil ich nicht mehr klitschnass war und bei jeder Böe zusammenfuhr. Ich aß, trank und unterhielt mich ein wenig mit den anderen Dreien, doch wirklich ausgeruht kam ich mir auch nach knapp einer Viertelstunde nicht vor. Und schließlich machten wir uns auf, das letzte Stück bis zum Gipfel zu erklimmen.
Ich hatte nicht übertrieben, als ich schrieb, dass ich am Ende meiner Kräfte war. Was kann ich also noch über die finalen zwei Stunden schreiben? Eigentlich nur dies: Ich überschritt meine Grenzen. Und das bei weitem. Ich kann ernsthaft nicht mehr sagen, wie ich die letzten zwei Stunden überlebt habe, denn ich war bereits im Vorhinein unfähig gewesen mich noch weiter zu bewegen. Mühsam schleppte ich mich vorwärts, Schritt um Schritt, Atemzug um Atemzug. Es ging nicht mehr darum Schritt zu halten, schnell zu sein, nein, es ging nur darum sich überhaupt noch zu bewegen. Mittlerweile waren so viele Menschen auf dem Weg zum Gipfel, dass man ohnehin kein eigenes Tempo mehr angeben konnte, sondern sich dem Fluss der Masse fügen musste. Und das war ein sehr, sehr zäher Fluss: Jeder Schritt dauerte rund drei bis fünf Sekunden, immer wieder musste man warten, bis sich die Schlange wenige Dezimeter nach vorne schob, doch um ehrlich zu sein, war ich froh. Ich konnte ohnehin nicht schneller, im Gegenteil, es war manchmal sogar fast zu schnell. Vielleicht kann man sich vorstellen wie erschöpft, wie ausgepower wir waren, wie weit wir über unsere Grenzen hinausgegangen waren, dass selbst drei Meter in einer Minuten fast schon zu viel waren. Erschöpft, dieses Wort beschreibt eigentlich nicht, wie es mir ging. Ich war eher tot als lebendig. Manchmal schloss ich für einige Sekunden die Augen, weil ich vollkommen übermüdet war, mitunter verschwamm mein Sichtfeld von mir, weil mein Gehirn zu sehr damit beschäftigt war mich halbwegs aufrecht zu halten, dennoch torkelte ich gelegentlich ein Stück zur Seite. Ich war so fertig, dass ich mir dachte, dass es auch nicht schlimmer werden könnte, wenn ich vor Ermüdung umkippen und den Berg hinunterfallen würde. Und den anderen ging es ähnlich: Immer öfter legten sie Pausen ein, trotz des zähen Flusses. Sie ließen sich einfach auf den Boden plumpsen und einer der Briten nickte sogar mitten beim Pausieren auf dem Weg ein. Es störte ihn gar nicht mehr, dass die Temperatur mittlerweile um den Gefrierpunkt lag, es regnete und stetig Böen vom nahenden Gipfel zu uns hinunter wehten. Er lag für einige Momente einfach nur reglos da. Nur zu oft benutzt man heutzutage den Superlativ, um zu sagen, dass etwas schwer, anstrengend oder demütigend war, doch ich denke, dass ich mit gutem Gewissen sagen kann, dass diese letzten zwei Stunden bis zum Gipfel die anstrengendsten zwei Stunden meines Lebens waren. Es war die vollkommene Müdigkeit, die mich gegen vier Uhr morgens einholte, der eisige Wind, die Temperaturen, die Anstrengung von insgesamt fast acht Stunden Aufstieg und nicht zuletzt der Luftdruck in über 3700 Metern Höhe, die jeden einzelnen Schritt zu einer Qual werden ließen. Für jeden einzelnen Schritt musste ich mich von neuem motivieren, nach jeder Bewegung von neuem mit der Atemlosigkeit kämpfen und bei jedem Überwinden eines Steines von Neuem die Schmerzen in meinen nutzlos gewordenen Beinen ertragen.
Und dann begann das Schwarz der Nacht allmählich zu schwinden. Es wurde dunkelblau und man begann die Umgebung um sich herum zu erkennen. Man sah den steinigen Pfad, dem man seit zwei Stunden folgte, die anderen, denen man schon seit Stunden Schritt auf Schritt folgte und nicht zuletzt das Ziel. Und mit wirklich allerletzter Kraft schleppten wir vier uns die letzten fünfzig Meter bis zu jenem Tor, das den Eingang zum Gipfel markierte. Mit zittrigen, zugefrorenen Händen knipste ich ein Bild, dann lief ich die letzten Stufen herauf, die Taschenlampe baumelte kraftlos an meinem Hals, meine Beine liefen nicht mehr von meinem Kopf gesteuert und ich spürte die eisige Kälte überall an meinem Körper, da ich von neuem vollkommen durchgeschwitzt war. Und nach acht langen Stunden betrat ich endlich den Gipfel des Fuji, dem höchsten Berg Japans.

Bild11: Das Bild, das ich nur wenige Meter vor dem Gipfel des Fuji schoss. Es ist unscharf und verwackelt, aber man erahnt doch wenigstens das torii oben links, sowie die Steinstatue, die rechts thront.