Samstag, 1. August 2009

Auf dem Dach der Welt - Wolkenmeer und Steinwüste

Für die ersten Augenblicke war der Abstieg genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: Der eisige Wind wütete zwischen uns, der Nebel verschleierte unsere Sicht und der unbefestigte Weg, dem wir nach unten folgten, ermöglichte es uns kaum vernünftig zu laufen, stattdessen rutschten wir eher einer nach dem anderen den Schotterweg ins Ungewisse. In meiner Hand hielt ich fest umklammert die warme Kakaodose, die ich mir kurz vor dem Abstieg gekauft hatte, an meinem Arm klammerte Milena, die an meiner Seite vorsichtig den Berg nach unten schlitterte. Vermutlich wären wir beiden auf dem rutschigen Untergrund mehrmals gestürzt, ohne dass es jemandem in dem dichten Nebel aufgefallen wäre, hätten wir uns nicht aneinander gestützt und wären Meter für Meter gemeinsam hinabgestiegen. Doch schon nach kurzer Zeit begann sich der Nebel zu lichten und wo sich uns vor kurzem nur ein milchig-weißes Nichts bot, erstreckte sich binnen kürzester Zeit eine steinerne Wüste und ein Meer aus Wolken unter einem strahlenden Himmel. Wo soeben noch ein Sturm wütete, schien plötzlich die Sonne. Und das erste Mal seit einer Ewigkeit genoss ich endlich wieder die Wärme, die mich umgab. Nach all den Strapazen, all den Hürden, konnte ich endlich das genießen, wonach ich mich schon so lange gesehnt hatte: Einen Blick vom Dach der Welt zu werfen.


Bild25: Eine schwarze Steinwüste, die irgendwo im Nebel endet. Trotz der Kälte und Nässe war es faszinierend durch diese fast schon magische Kulisse zu laufen. (Danke an Milena für das Foto)


Bild26: Allmählich verzog sich der Nebel und unser Sichtradius erhöhte sich von wenigen Metern auf einige hundert Meter. Und so hatten wir einen weiten Ausblick auf die trostlose Vulkanlandschaft, in der nichts außer Steinen und Felsen zu finden war. So etwa stelle ich mir die Oberfläche eines unbewohnten Planeten vor. (Danke an Milena für das Foto)


Bild27: Als schließlich der Himmel aufriss, hatten wir einen grandiosen Blick auf das Wolkenmeer, das sich um uns herum bis zum Horizont erstreckte. Und das erste Mal seit dem Beginn der Wanderung hatte ich das Gefühl mich in über 3500 Metern Höhe zu befinden, auf dem Dach der Welt zu sein.


Bild28: Flauschige Wolken, zum Greifen nahe, umgaben uns. Und da über uns nur noch einige faserige Nebelschwaden vorüber zogen, wurde es binnen kürzester Zeit bedeutend wärmer und unsere durchnässte Kleidung begann zu trocknen.


Bild29: Milena und ich auf dem Fuji. Diesmal bei Sonnenschein und ohne gestelltes Lächeln. (Danke an Milena für das Foto)


Der eigentliche Abstieg gestaltete sich aufgrund des Sonnenscheins und der Wärme als weitaus angenehmer und unbeschwerter, als der nächtliche Aufstieg. Sicher waren wir alle noch erschöpft und mitgenommen, doch die Sonne gab uns neuen Mut, lies uns lachend und kreischend über den Kies schlittern, voller Freude Fotos schießen, heizte den gegenseitigen Austausch an und gestaltete die kommenden knapp dreieinhalb Stunden so angenehm wie nur möglich. Viel gibt es nicht mehr zu berichten, da der Abstieg immer nach dem gleichen Schema verlief: Wir folgten einer Serpentine nach der anderen auf dem unbefestigten Schotterweg, der uns mit knapp dreißig Prozent Gefälle den Berg hinabführte. Nur eine einzige Hütte fanden wir unterwegs, ansonsten nur Serpentine soweit das Auge reichte, ehe wir schließlich knapp über unserer Ausgangshöhe wieder ankamen und das letzte Stück des Weges auf einem Pfad um den Fuji herumliefen. Und nach etwa fünfzehn Stunden Wanderung und Strapazen kam unsere Gruppe wieder an der fünften Station an, an der unsere Reise vor knapp fünfzehn Stungen begonnen hatte.


Bild30: In den höheren Lagen befanden sich abseits des Weges gelegentlich riesige Mauern aus Eis.


Film5: Geheimnisvolle Nebelschwaden zogen über den steinigen Boden des Fuji, ein faszinierendes Naturschauspiel.


Bild31: Abstieg vor der Kulisse der "Japanischen Alpen", wie man die Gebirge Zentraljapans auch nennt.


Bild32: Ein beeindruckendes Farbenspiel der unterschiedlichen Gesteinsarten auf dem Fuji.


Bild33: Je tiefer wir stiegen, desto farbenfroher wurde der Schotter und Kies, auf dem wir den Berg nach unten wanderten. War der Untergrund zu Beginn unseres Abstiegs noch einheitlich schwarz, so nahm er mehr und mehr eine rötlich-braune Farbtönung an.


Bild34: Ein Blick auf die wirklich atemberaubende Kulisse, die sich uns beim Abstieg bot: Saftige, grüne Ebenen zwischen einer Wüste aus Steinen und einem Meer aus Wolken.


Bild35: Diese Pflanzen waren für einige Stunden die einzigen Begleiter an den trostlosen Hängen des Fuji. Für lange Zeit wuchs nichts anderes auf dem groben Schotter.


Bild36: Ein Blick hinab ins Tal.


Bild37: Je weiter man den Fuji herabstieg, desto vielfältiger wurde auch die Flora und man hatte endlich eine Abwechslung von den ewig gleichen Pflanzen auf dem ewig gleichen rötlich-braunen Untergrund.


Bild38: Unsere Gruppe beim Abstieg, nahe der einzigen Rasthütte, die es auf dem schier endlosen Pfad nach unten gab. Wir befanden uns zu diesem Zeitpunkt bereits auf etwa 2700 Metern Höhe.


Bild39: Obwohl wir nach knapp drei Stunden Abstieg schon fast wieder auf unserer ursprünglichen Höhe angekommen waren, wanderten wir noch rund eine Stunde lang um den Fuji, ehe wir unsere Ausgangsstation wieder erreichten. Dabei durchwanderten wir beispielsweise dieses Wäldchen, in dem sich die Bäume dem ständigen Wind an den Hängen angepasst hatten.


Bild40: Die gelegentlichen Wolken tauchten die Landschaft in ein milchig-trübes Licht, geradezu so, als würde man durch ein Moor wandern. Eine, wie ich fand, sehr geheimnisvolle, andächtige Atmosphäre.


Bild41: Entlang den Hängen des Fuji liefen wir durch diesen nebeligen Wald, den wir bereits während unseres Aufstiegs durchwandert hatten, doch nun konnten wir endlich auch die Umgebung sehen.


Bild42: Die Schlussgerade auf dem Weg zurück zur fünften Station war voller Wanderer, die sich auf den Aufstieg des Fuji vorbereiteten.


Bild43: Nach rund vier Stunden Abstieg erreichten wir schließlich wieder die Fünfte Station, an der wir vor rund fünfzehn Stunden gestartet waren. Und dieses Mal konnten wir auch mehr sehen als nur Schwärze und den beleuchteten Souvenirladen.


Es war eine Genugtuung endlich das Ziel zu erreichen, wieder dort zu stehen, wo unsere Reise begonnen hatte. Die Sonne hatte meine Kleidung getrocknet, meine Haut gewärmt und so verspürte ich gar nicht mehr den Drang meine Ersatzkleidung anzuziehen, die ich in einem Spind hinterlegt hatte. Zeit hätte ich dazu ohnehin nicht mehr gefunden, denn schon kurz nach unserer Ankunft fuhr bereits der nächste Bus zurück nach Tokyo. Und da keiner noch eine weitere Stunde herumsitzen und auf den Folgebus warten wollte, sputeten wir uns, packten unsere Sachen zusammen, kauften unsere Tickets und betraten eilig den Bus, der uns schnellstmöglich zurück zum Bahnhof von Shinjuku fahren würde, an dem wir am Vortag gestartet waren. Jeder von uns war zu Tode erschöpft und so fielen wir während der Rückfahrt alle in einen unruhigen Halbschlaf. gelegentlich öffnete ich meine Augen und schaute müde auf die Landschaft, die an mir vorbeizog, sah Lee, die neben mir auf dem Sitz eingeschlafen war, blickte in die Runde der dösenden Briten und schloss meine Augen wieder. Und so zogen knapp zwei Stunden Busfahrt irgendwo zwischen Wachsein und Schlafen an mir vorüber, ehe wir in Shinjuku ankamen. Ohne große Worte, ohne große Taten trennte sich unsere Gruppe auf und gemeinsam mit Jessica, Milena, Lee und drei anderen Briten fuhr ich erschöpft aber glücklich zurück nach Soka.
Als ich meine Wohnung betrat, ließ ich alles Gepäck von mir fallen, puhlte mich aus meinen verdreckten Schuhen und Socken und fiel buchstäblich in die Dusche. Unter dem warmen Duschstrahl ließ ich all den Stress, all den Dreck, all die Mühen von mir abperlen und schlüpfte anschließend zufrieden in mein Bett. Für einige Stunden fand ich endlich den Schlaf, den ich schon seit langem so bitter nötig hatte, dann stand ich auf und hatte endlich Zeit zu rekapitulieren: Ich war auf dem Fuji gewesen, dem höchsten Berg Japans. Aus eigener Kraft hatte ich mich auf 3776 Meter Höhe gekämpft, hatte der Müdigkeit, der Kälte, dem Wind, dem Regen, den Schmerzen getrotzt. Ich hatte auf dem Dach der Welt gestanden, dem höchsten Punkt Japans. Ich war an meine Grenzen gekommen und über sie hinaus gewachsen, nicht nur körperlich, auch geistig. Und nun, nachdem ich endlich ein wenig Schlaf und Erholung gefunden hatte, realisierte ich all dies erst, ließ mir bewusst werden, was ich geleistet hatte. Als ich mir an diesem Nachmittag schließlich die Bilder durchsah, die ich aufgenommen hatte, musste ich immer wieder ungläubig den Kopf schütteln: War das tatsächlich ich gewesen, der diese Strapazen über sich hatte ergehen lassen? Ja, das war ich gewesen. Und in diesem Moment konnte ich einfach nur lächeln und war stolz auf mich.

2 Kommentare:

michi hat gesagt…

ich frage mich gerade, wie wohl dein kakao hoch auf den berg gekommen ist. entweder traegt jemand die ganzen sachen fuer oben jeden tag im rucksack hoch, oder es gibt auf der rueckseite einen viel einfacheren weg, den man mit dem auto fahren kann und die spaziergaenger schickt man nur aus spass den komplizierten schotterweg hoch oder es gibt eine seilbahn.
;)

David Kraft hat gesagt…

Ich glaube der Kakao und all die anderen Snacks und Souvenirs werden tatsächlich hochgetragen. Doch nicht nur das, auch Klopapier, Lebensmittel und möglicherweise auch Holz für Reparaturen. (Nunja, einiges wurde sicher mit dem Helikopter nach oben geflogen).
Auf dem letzten Abschnitt vor dem Gipfel gab es auch Bedienstete, die mit Leuchtstäben den Weg wiesen und aufmunternde Dinge riefen. Ich fragte mich, wer wohl freiwillig hier oben auf dem Gipfel arbeitet. Tag für Tag, Nacht für Nacht bei Wind und Wetter auf knapp 3800 Metern Höhe stehen und sich die Stimme aus dem Leib schreien. Das wäre nichts für mich. Vor allem, wenn man stetig den ganzen Berg hoch und runter steigen muss, um zur Arbeit zu kommen...