Donnerstag, 6. August 2009

Menschenmassen

Wenn man an Japan denkt, dann denkt man an Tokyo. Und wenn man an Tokyo denkt, dann denkt man an eine Stadt, in der sich Mensch an Mensch reiht: Überfüllte U-Bahnen, dicht gedränte Menschenmassen auf den Straßen und vielen Menschen, die auf kleinem Raum zusammenwohnen. Und auch wenn ich gerne Vorurteile gegen Japan mit meinen Erfahrungen widerlege, so muss ich doch zugeben, dass diese Bilder oft zutreffen. Natürlich nicht zu jeder Tageszeit und nicht an jedem Ort, aber man erlebt es doch: U-Bahnen, in denen man vor lauter Menschen kaum atmen kann, Menschenmassen, von denen man durch die Straßen Tokyos gerissen wird, ob man will oder nicht, und winzige vollgestopfte Wohnungen und Büros. Doch die Japaner haben sich daran gewöhnt. Das heißt keinesfalls, dass es den Leuten nichts ausmachen oder es ihnen gar gefallen würde, aber es heißt, dass sie einiges über sich ergehen lassen, wenn es nicht anders geht. Wenn man an einem überfüllten Platz ist, folgt man brav den Anweisungen der Ordnungskräfte, schließlich wissen jene am besten, wie man einen Stau auflöst. Wenn es einen überfüllten Zug gibt, dann lässt man sich für die Dauer der Fahrt gegen die Wand pressen und nimmt es in Kauf hin und wieder gestoßen zu werden, wenn jemand den Zug verlassen muss und sich durch die Wand aus Menschen kämpft, schließlich könnte man selbst jener sein, der sich von der Mitte des Abteils bis zum Ausgang durchkämpfen muss, ehe sich die Türen wieder schließen. Und auch an das Miteinander auf kleinem Raum gewöhnt man sich nach einiger Zeit, nimmt Rücksicht auf andere, schließlich will man, dass auch die anderen Rücksicht auf einen nehmen.
Ich habe vergleichbare Situationen bereits erlebt und denke, dass ich mich gut in die Masse der Japaner einfügen kann, ohne aufzufallen. Vorausgesetzt man sieht von meinem Äußeren ab. Dennoch bevorzuge ich es große Mengen an Menschen zu umgehen, da sie mir doch ein wenig unangenehm sind. Doch manchmal kommt man nicht umhin sich mitten ins Getümmel zu stürzen. Zum Beispiel heute, an meinem 324. Tag in Japan, als ich mich am Abend mit meinem Freund Tak und seiner Freundin Nobuko am Bahnhof von Shinozaki im Nordosten Tokyos treffen wollte, um mir ein populäres Feuerwerksfestival anzusehen. Tak hatte mir extra eine schnelle und kostengünstige Verbindung herausgesucht und eine Uhrzeit vereinbart, zu der wir uns vor dem besagten Bahnhof treffen wollten, doch eines hatten wir nicht einkalkuliert: Die Unmengen an Besuchern.
Schon als ich meinen Zug nach Shinozaki einfahren sah, wusste ich, dass es eine anstrengende Fahrt werden würde, denn der Zug war heillos überfüllt. Ob wohl all diese Menschen zum Feuerwerksfestival gehen wollten? Ich drängte mich in ein Abteil, klemmte mir meinen Rucksack zwischen die Beine und versuchte mich so schmal wie nur irgend möglich zu machen. Und dann schlossen sich die Türen und ich drückte mich gegen die Scheibe, darauf wartend, dass wir bald in Shinozaki einfahren würden. Doch es waren noch einige Stationen und in jeder stiegen noch mehr Menschen hinzu. Ein Mensch nach dem anderen quetschte sich in das überfüllte Abteil, drückte, schob und presste die Masse an Menschen vor sich zusammen. Und als ich schon dachte, dass es nicht mehr schlimmer werden könnte, fuhren wir in einen vollen Bahnhof ein. Sollten etwa all die Menschen, die dort am Gleis standen, noch in den Zug? Ja, sie sollten. Es war unerträglich, als zu jeder Tür des übervollen Zuges noch einmal rund ein dutzend Menschen einstiegen. Wobei man nicht wirklich von Einsteigen reden kann, da die Neuankömmlinge einfach nur mit roher Gewalt die Fahrgäste im Zug zusammenpressten. Die Menschen ächzten auf, stolperten fast einen Meter auf die andere Seite des Abteils und standen noch dichter gedrängt als Sardinen nebeneinander. Und letztlich gab es nur noch eine breite, dichte gedrängte Mauer an Menschen, die bis nach Shinozaki fuhr.
Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als wir endlich am Zielbahnhof ankamen, denn so etwas hatte selbst ich in meinem gesamten Jahr in Japan noch nicht gesehen: Der gesamte Bahnhof war überfüllt, an allen Ecken standen Menschen, die nach draußen strömen wollten. Selbst die Neuankömmlinge hatten Schwierigkeiten alle aus dem Zug zu kommen, weil der Bahnsteig fast ebenso überfüllt war. Und so wurden die Menschen, die vorher in den Zug gequetscht wurden, nun auf dem Bahnsteig zusammengepfercht. Doch niemand murrte, beschwerte sich. Was hätte es auch gebracht? Stattdessen schüttelten einige den Kopf, telefonierten, schossen Fotos oder spielten mit tragbaren Spielkonsolen, während sie den Anweisungen der Bahnbeamten folgten. Und das tat auch ich: Ich ließ mir zeigen wo ich mich anstellen sollte, um welche Ecke ich zu biegen hatte und wo ich nicht hingehen durfte. Und obwohl es nur schleppend langsam voran ging, muss ich sagen, dass es durchaus durchdacht war, was sich die Ordnungshüter überlegt hatten. Ihre Methode zur Bewältigung des Besucherandrangs funktionierte, doch nicht nur wegen ihres Konzeptes, nein, auch weil alle Beteiligten mitmachten. Ich fragte mich insgeheim wie viele Deutsche sich wohl lauthals beschwert, wie viele sich wohl ihren Weg mit Ellenbogen durch die Masse an Menschen gekämpft hätten, um wenige Sekunden früher nach draußen zu treten und wie viele Menschen wohl das System der Bediensteten ausgehebelt hätten, indem sie auf dem kürzesten Weg zur Treppe geeilt wären, statt den Anweisungen zu folgen. Doch so etwas sah ich heute Abend nicht, stattdessen fügten sich alle ihrem Schicksal und versuchten das Beste daraus zu machen: Man unterhielt sich, lachte, telefonierte und lief einfach gemächlich mit den anderen mit.


Film1: Der überfüllte Bahnsteig am Bahnhof von Shinozaki.


Film2: Auch als ich schließlich den Bahnsteig verließ, war der Weg bis zur Ticketschranke heillos überfüllt.


Es dauert geschlagene fünfundzwanzig Minuten bis ich die Bahnstation verlassen hatte, dabei war es nur eine ziemlich kleine Station, deren Ausgänge ich im Normalfall binnen einer Minute gefunden hätte. Doch auch als ich schließlich im Freien stand, fand ich mich in einem zähen Menschenfluss wieder, der sich durch die Straßen Shinozakis gemächlich in Richtung des Feuerwerkes wälzte. Fast fünf Minuten lang schaute ich mich am Bahnhof nach Tak und Nobuko um, suchte die nähere Umgebung ab, doch es war zwecklos: In diesem dichten Gedränge konnte ich niemanden finden. Ich war zwar pünktlich in Shinozaki angekommen, doch wegen des dichten Gedränges, stand ich erst mit zwanzig Minuten Verspätung vor dem Bahnhof. Vielleicht waren Tak und Nobuko bereits vorausgegangen, dachte ich mir und folgte dem Fluss der Menschen in Richtung des Festivals. Und während ich versuchte einen Blick auf alle Personen am Wegesrand zu werfen, um wie durch ein Wunder doch noch Tak oder Nobuko zu treffen, begann in einiger Entfernung bereits das Feuerwerk.


Film3: Die gefüllten Straßen Shinozakis, während im Hintergrund bereits das Feuerwerk begonnen hat.


Aufgrund der Erfahrungen, die ich vor einer Woche beim Feuerwerksfestival in Asakusa gesammelt hatte ("Feuerblumen"), wusste ich dass das Feuerwerk mehr als eine Stunde dauern würde und lief dementsprechend gemächlich mit den anderen Gästen zum Zentrum des Festivals. Immer mehr und mehr Menschen sah ich auf dem Boden, am Straßenrand und auf freien Parkplätzen sitzen, doch ich lief immer weiter, immer gespannt zu erfahren, wo all die Menschen hinlief, neben denen ich bereits seit dem Bahnhof ging. Und so näherte ich mich letztlich einem großen Damm, auf dem hunderttausende von Menschen saßen und standen. Ich kann mich nicht erinnern jemals so viele Menschen auf einem Fleck gesehen zu haben. Auf den Wegen, auf den ausgebreiteten Planen, an den Absperrungen, überall standen die Besucher, um einen Blick auf das Spektakel am Himmel zu werfen. Doch ich lief immer weiter, immer den anderen nach, während ich im Gehen mit meiner Kamera versuchte das Feuerwerk einzufangen.


Film4: Ich war bereits fast am Ziel, als ich ein letztes Mal ein kurzes Video von den Menschenmassen am Damm aufnahm.


Letztlich überquerte ich den Damm und stand auf der anderen Seite vor einem riesigen Sportfeld, auf dem das Feuerwerk stattfand. Noch immer folgte ich den Menschen, die sich allmählich an den Hängen des Dammes verteilten, doch im Gegensatz zu ihnen lief ich an der Absperrung entlang, um dem Feuerwerk so nah wie nur möglich zu sein. Immer weiter. Und letztlich stand ich genau davor, fast schon darunter. Der Weg, auf dem ich stand, war ein Durchgangsweg, an dem man nicht stehenbleiben sollte, doch das kümmerte außer einem hilflosen Bediensteten niemanden. Mit dutzenden von anderen Japanern stand ich an vorderster Front und bestaunte das Feuerwerk aus nächster Nähe, während hinter uns der Bedienstete immer wieder rief, dass wir doch bitte weitergehen sollten, fast eine Stunde lang. Doch auch das können Japaner gut: Kollektiv ignorieren, denn solange man in einer Gruppe steht, können einem die Ordnungskräfte nichts anhaben. Und so schrie sich der Bedienstete mit seinem immergleichen Satz die Lunge aus dem Hals, während direkt neben ihm das Feuerwerk knallte und krachte. Doch ich stellte mich dumm, spielte den Ausländer, der kein Japanisch konnte und filmte ungestört, die Einheimischen machten es ja schließlich auch. Und die Japaner? Sie standen neben mir und filmten ebenfalls, denn was ein Ausländer durfte, durften sie ja auch. Und so legitimierten wir uns gegenseitig und irgendwann gab der Bedienstete dann auf, stellte sein Rufen ein und machte das, was alle machen: Sich das Feuerwerk ansehen.


Film5: Impressionen vom Feuerwerk. Im Hintergrund hört man den Bediensteten, der verzweifelt probiert die Leute zum Weitergehen zu bewegen.


Film6: Impressionen vom Feuerwerk.


Bild1: Da ich so nah am Geschehen stand und keinen Zoom benutzen musste, sind sogar einige meiner Aufnahmen etwas geworden.


Bild2: Impressionen vom Feuerwerk.


Bild3: Impressionen vom Feuerwerk.


Bild4: Impressionen vom Feuerwerk.


Film7: Impressionen vom Feuerwerk.


Film8: Impressionen vom Feuerwerk.


Bild5: Mein persönliches Highlight waren diese funkelnden roten Lichter. Man sieht sie gegen Ende des letzten Videos noch einmal auf Video.


Film9: Es wird auf dem Video nicht ganz deutlich, aber hier konnte man die japanische Flagge am Himmel sehen: Weiß mit einem roten Punkt in der Mitte.


Film10: Impressionen vom Feuerwerk.


Film11: Wie durch ein Wunder konnte ich mit dem letzten bisschen Speicherplatz das große Finale bis zu Ende aufnehmen. Wer genau hinhört, wird bemerken, dass es mit Musik untermalt wurde.


Das Feuerwerk war atemberaubend, anders kann man es gar nicht sagen. Und auch wenn ich Tak bis zu meiner Rückfahrt nicht finden konnte und den Abend letztlich alleine verbracht hatte, war ich ihm doch dankbar dafür mir den Tipp für dieses Spektakel gegeben zu haben. Mit einem seeligen Lächeln lief ich somit zurück zum Bahnhof, der genauso überfüllt war wie noch vor knapp einer Stunde, und fuhr mit einer kleinen List nach Hause: Da fast alle Fahrgäste in die eine Richtung fahren mussten, betrat ich einen Zug, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, und stieg bereits nach einer Station in einen Zug um, der wiederum in meine Richtung fuhr. So saß ich letztlich eine Station früher in dem überfüllten Zug und konnte mich entspannt in meinen Sitz kuscheln, während die anderen Fahrgäste sich wieder dicht an dicht drängen mussten. Natürlich war ich ein wenig traurig, dass ich Tak nicht gesehen hatte, schließlich war es vielleicht die letzte Möglichkeit gewesen ihn noch einmal vor der Abreise zu treffen, doch ich nahm mir fest vor alles zu tun, um ihn irgendwie doch noch zu treffen. Und so fuhr ich optimistisch zurück nach Soka.

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