Eigentlich begann der Montag bereits am Sonntag. Denn am Sonntagabend begann ich mit Tak Kurznachrichten im Chat hin und her zu schicken, so wie wir es für gewöhnlich taten, wenn wir uns abends online trafen. In diesen abendlichen Gesprächen tauschten wir uns für gewöhnlich über unsere Interessen, unsere Berufsplanungen oder einfach nur belanglose Dinge aus unserem Tag aus.
An diesem Sonntagabend war es aber anders. Es mag sich seltsam anhören, aber obwohl wir nur über emotionslose Buchstaben in einem Chat-Programm kommunizierten, wußte ich, dass Tak etwas bedrückte. Und schon nach kurzer Zeit schrieb Tak, dass er einen Freund zum Reden bräuchte, weil seine Beziehung zu seiner Freundin aus Großbritannien in die Brüche gegangen war. Und dies war der Moment, in dem Tak buchstäblich die Tür für eine wahre Freundschaft öffnete, indem er die Maske des direkten und ewig lachenden Konversationspartners fallen ließ und sich so zeigte wie er wirklich war: tief verletzt, traurig und alleine. Zunächst war ich ein wenig überwältigt davon, dass Tak ausgerechnet mich um Unterstützung bat, schließlich kannten wir uns kaum zwei Wochen, doch ich fühlte mich auch geehrt bereits nach so kurzer Zeit als Freund betrachtet zu werden und betrat mit Freude die Tür, die er geöffnet hatte. Und während ich versuchte Tak auf jede nur erdenkliche Weise aufzuheitern, offenbarte er mir zu allem Überfluss auch noch, dass er am Montag Geburtstag hätte, was in gerade einmal zwei Stunden war. Und da Tak vollkommen am Boden zerstört war und die Welt nur in tristem Grau sah, fühlte ich mich in der Verantwortung ihm seinen Geburtstag so angenehm wie nur möglich zu machen. Darum saß ich die kommenden zwei Stunden am Laptop und tat mein Bestes, um ihm aus dem grauen Tal der Tränen zu ziehen, ihm zu zeigen, dass es viele Menschen gab, denen er am Herzen lag und dass auch der Schlimmste Schmerz einmal vorüber gehen würde. Als es schließlich Mitternacht war, schickte ich ihm einen kleinen verpixelten Kuchen über den Chat und gratulierte ihm zum Geburtstag. Und als er sich für meine Bemühungen und mein offenes Ohr bedankte und schrieb, dass sein Geburtstag nun mit einem Lächeln begonnen hatte und er sich trotz seiner Trauer bereits viel besser fühle, wußte ich, dass ich das Richtige getan hatte.
Nach einer etwas verkürzten Nacht stand ich am Montag, meinem 66 Tag in Japan etwas müder als sonst auf. Doch schon in den ersten Minuten des Tages war ich fiebrig am überlegen, was ich Tak schenken könne, schließlich hatten wir uns nachmittags in der International Communication Zone verabredet. Doch mir wollte kein Geschenk einfallen, das mir nach dem nächtlichen Gespräch angemessen erschien. Zudem hatte ich bis zum vereinbarten Treffen überhaupt keine Möglichkeit irgendetwas zu kaufen, da ich den gesamten Vormittag die Unibank drücken musste. Wie auf heißen Kohlen saß ich somit in den ersten beiden Stunden neben Katharina im Unterricht und überlegte über die Möglichkeiten, die ich hatte, um Tak an seinem Geburtstag nicht zu enttäuschen.
Da Montag war, hatte ich Unterricht bei der langweiligen Frau Ezoe, die zu allem Überfluss auch noch Konversationsübungen mit uns machte, welche ich so gar nicht leiden kann. Ziel in diesem Unterricht ist das Erarbeiten eines Dialogs in Partnerarbeit, wozu ich selbstverständlich immer Katharina zu Rate ziehe. Und selbstverständlich geraten wir beide jedes Mal aneinander, da jeder von uns ganz andere Vorstellungen von einem leicht einprägsamen Dialog hat, mit dem man vor den Lehrern punkten kann. Für gewöhnlich diskutieren wir uns an Sätzen und Wörtern zu Tode und haben als Ergebnis immer einen kurzen, aber dafür sehr ausgefeilten, kompakten Dialog, von dem die Lehrer immer hell begeistert sind. Und um so mehr wir uns in die Haare kriegen, um so besser das Ergebnis. Das wurde vor allem deutlich daran, dass wir uns heute überraschenderweise gut verstanden und unseren Dialog mit Bedacht und Rücksichtnahme auf den anderen schrieben, wodurch wir am Ende der Stunde vor unserem langweiligsten und inspirationslosesten Dialog überhaupt saßen. Ganz alleine unsere Schuld war es aber nicht, denn Frau Ezoes Lehrphilosophie war es den Dialog auf das zu reduzieren, was im Lehrbuch vorgeschrieben war, weshalb jegliche Art von Kreativität zu unterbleiben hatte. Und so wurde von ihr jegliche Art von Ausschweifung, Verschnörkelung, Ironie oder Humor aus unserem Dialog gestrichen, weshalb nur ein trockener, humorloser, gestelzter Lehrbuchdialog zurückblieb. Besonders anschaulich wird ihre Lehrbuchversessenheit, wenn ich ein Beispiel aus unserem Dialog anführe: Zwei Personen, von denen einer einen Projektor trug, trafen aufeinander. Da dieser zu schwer schien, bot die andere Person ihre Hilfe an. Dieses Szenario hört sich nicht sehr verbesserungswürdig an, doch Frau Ezoes scharfem Auge entging nicht die radikale Änderung, die wir vorgenommen hatte: "Im Beispieldialog, der Ihnen als Vorlage dient, geht es um ein schweres Buch, nicht um einem Projektor." Und bevor wir uns wehren konnte, strich sie das Wort Projektor uns schrieb das Schriftzeichen für Buch darüber. Auf meinen Kommentar, dass es doch egal sei, ob man anbieten würde ein schweres Buch, oder einen schweren Projektor zu tragen, schaute sie mich verständnislos an, deutete auf den Beispieltext und wiederholte: "Im Beispieldialog, der Ihnen als Vorlage dient, geht es um ein schweres Buch, nicht um einen Projektor.". Und damit war für sie das Problem gelöst.
Nachdem ich mich zwei Stunden mit Katharina durch den langweiligen Konversationsunterricht gequält hatte, war ich meinem Geschenk für Taks Geburtstag noch keinen Schritt näher gekommen und allmählich lief mir die Zeit davon. Also entschied mich nach ausgiebigem Abwägen dafür nicht in den Nachmittagsunterricht zu gehen, um zwei Stunden Freiraum zu haben. Und ehrlich wie ich bin, lief ich selbstverständlich zu Frau Ezoe, um mich für den Nachmittag abzumelden. Auf ihre Frage, warum ich denn nicht kommen könne, antwortete ich wenig überzeugend, dass ich Vorbereitungen für einen Geburtstag treffen müsse, was sie natürlich mit wenig Begeisterung aufnahm und mir sogleich verkündete, dass sie eine unentschuldigte Fehlstunde eintragen müsse, wenn ich nicht käme, aber das nahm ich in Anbetracht der Umstände in Kauf. Und so verbrachte ich eine Stunde im großen Einkaufsmarkt um die Ecke und überlegte, was ich Tak kaufen sollte, schließlich kannte ich ihn trotz unserer gelegentlichen Gespräche und Treffen doch kaum. Nachdem ich mich für eine Hand voller Kleinigkeiten entschieden hatte, brach ich wieder zur Universität auf und widmete meine restliche Zeit dem Schreiben eines Briefes für meine Großtante. Und nachdem ich den Brief geschrieben, Taks Geburtagskarte beschriftet und seine Geschenke in meinem Rucksack verstaut hatte, war es auch soweit. Tak kam aus seiner Vorlesung und wir trafen in der ICZ aufeinander.
Nachdem Tak in der Nacht seine Maske hatte fallen lassen, war ich überrascht wie lebensfroh er durch die Tür schritt, wie glücklich lachend er auf mich zukam und wie sehr er strahlte, als ich ihm zum Geburtstag gratulierte. Mit keinem Wort erwähnte er unsere nächtliche Konversation und ließ sich nicht anmerken wie schlecht es ihm gehen musste. Als ich ihm gratulierte, kamen auch noch andere Japaner auf ihn zu und gratulierten ihm, was Tak mit einem freudvollen Lächeln erwiderte. Und während Tak von seinen Kommilitonen und Freunden umringt wurde, kam ich mir ein wenig deplatziert vor, stand etwas einsam in einer Ecke und begann mich für meine etwas schäbigen Geschenke zu schämen. Geradezu peinlich berührt musste ich ihn darauf hinweisen, dass ich noch meinem Brief einwerfen wollte, weshalb er schnell das Nötigste zusammenraffte und mit mir aus der Uni lief. Und kaum waren wir aus dem großen Getümmel der Studenten entflohen, blickte Tak zu mir und begann zu reden: "Danke. Ich möchte dir von ganzem Herzen danken für unser Gespräch gestern Abend. Ich weiß nicht, ob ich ohne deine Hilfe den Tag heute hätte überstehen können. Es ist nicht leicht die ganze Zeit zu lachen und zu strahlen, wenn man eigentlich weinen möchte. Danke, dass du so bemüht bist, ich schätze unsere Freundschaft wirklich sehr." Und da war er wieder. Der Tak hinter der Maske, mit dem ich in der Nacht gesprochen hatte. Und ohne Maske und mit einem ernsten Gespräch liefen wir durch Soka, gaben den Brief auf und gingen zurück zur Universität. Im Park setzten wir uns dann an eine Bank und ich packte unsicher meine Geschenke aus: "Hier ein kleiner Kuchen, weil ich dir heute um Mitternacht nur einen Pixelkuchen senden konnte, und wenn du Vanille nicht magst, habe ich hier noch einen Schokokuchen. Damit du etwas zu trinken hast, habe ich dir die Limonade gekauft, die du bei unserem ersten Konversationstreffen getrunken hattest. Und hier eine bunte Geburtstagskarte, die dir helfen soll, aus deinem grauen Tal zu finden. Und einen Gutschein für eine Fertiggerichte-Party mit deutschen Gerichten, darüber haben wir beim Chatten doch einmal gewitzelt. Alles Gute zum Geburtstag, ich hoffe es gefällt dir ein wenig." Etwas unsicher schaute ich zu Tak, dessen Gesicht starr war und ausdruckslos auf meine Geschenke starrte. Und in diesem Moment keimte in mir der Verdacht, dass ich mit meinem Geschenken vollkommen daneben gelegen hatte. Eine kurze Zeit schaute Tak auf die Geschenke, dann griff er seine Tasche, schaute weg und sagte, dass er aufs Klo müsse. Vollkommen verwirrt fragte ich nach, ob ich etwas falsch gemacht hätte und warum er plötzlich auf die Toilette gehen müsse. Da drehte sich Tak um und sagte nur kurz: "Ich möchte nicht vor anderen weinen.". Und schritt davon. Und erst dann wurde mir bewusst, dass er vor Rührung weinen musste.
Als ich abends mit meinem Freund Dominic sprach, tauschten wir uns über unsere Beziehungen zu Japanern aus, schließlich hatte Dominic regelmäßig von japanischen Austauschstudenten Besuch. Und dabei erfuhr ich dass in Japan "Freundschaft" einen ganz anderen Wert hatte. Und dass eine kleine freundschaftliche Geste meinerseits alles übertraf, was Tak aus seinen meisten japanischen Freundschaften gewohnt war. Und als ich am späten Abend mit Tak chattete, bestätigte sich genau das. Ich war nämlich die einzige Person, die Tak ein Geburtstagsgeschenk gemacht hatte und wohl auch die erste Person, die ihm an diesem Tag gratuliert hatte. Und ganz ohne aufgesetzte Höflichkeit, bedankte sich Tak für meine Glückwünsche, meine Geschenke, mein offenes Ohr, meine Offenheit und für meine Freundschaft im Allgemeinen. Und nachdem er sich hatte versichern lassen, dass ich zu seiner Geburtstagsfeier am Donnerstag kommen würde, sagte er die Worte, die all die Mühen Wert gewesen waren und die unsere Freundschaft in Stein meiselten: "Ich wußte, dass ich an meinem Geburtstag weinen würde. Aber ich wußte nicht, dass ich aus Freude weinen würde.".
4 Kommentare:
Ich fands absolut erstaunlich, dass Tak es ueberhaupt vorher im Chat zugelassen hat, dass du hinter die Fassade blicken durftest. Ich denke nicht dass das viele zulassen.
Aber er hat wohl schnell gemerkt, was er am David hat ;)
Ja, es hat mich anfänglich sehr überrascht, dass er überhaupt auf mich zugekommen ist, ich bin ja schließlich nur "einer" von den ausländischen Studierenden.
Vielleicht lag es daran, dass wir bereits bei unseren vorherigen Treffen über ernstere Themen wie Zukunftsplanungen oder "unhöfliche Höflichkeiten" gesprochen haben, was es ihm erleichterte mit mir zu sprechen, statt mit einem Kumpel aus einer Vorlesung. Und vielleicht auch einfach deshalb, weil ich gerade online war.
Letztens haben wir uns getroffen und erstaunt festgestellt in welch kurzer Zeit wir zu solch engen Freunden geworden sind. Gründe sind uns dafür allerdings keine eingefallen.
Hallo David,
das ist ja total rührend. Da sind mir beim Lesen auch fast die Tränen gekommen.
Ich freu mich so für dich, dass du so einen guten Freund gefunden hast.
Hey H.,
Meine Mutter hat exakt das Gleiche gesagt, als ich mit ihr telefoniert habe.
Ich bin wirklich froh solch einen guten Freund hier gefunden zu haben.
Viele Grüße aus Soka,
David
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