Mit ausreichend Essen und Trinken im Rucksack lief ich am Freitag, meinem 49. Tag in Japan, zur Universität. Während die anderen nach dem Unterricht überlegten zu welcher Halloween-Feier sie gehen sollten, stand mein Tagesziel bereits längst fest: Das Deutsche Filmfestival in Tokyo. Ich traf mich mit Ayano am vereinbarten Treffpunkt und gemeinsam liefen wir zur Haltestelle "Matsubara Danshi", dem Bahnhof in unmittelbarer Nähe der Dokkyo-Universität.
Nachdem sie mir unsere Fahrtroute erklärt hatte, kauften wir unsere Tickets und warteten auf den Zug. Von der Haltestelle "Matsubara Danshi" fuhren wir zum Bahnhof von Soka, wo wir umstiegen und bis nach "Jinbouchou" fuhren. Sowohl ich, als auch Ayano waren noch nie an diesem Bahnhof gewesen und so eierten wir erst orientierungslos am Bahnsteig und schließlich in der Wartehalle umher. Ein wenig erleichtert war ich schon, dass auch Japaner keinen angeborenen Orientierungssinn für Bahnhöfe hatten und, genau wie ich, geraume Zeit vor den Hinweisschildern stehen und dann trotzdem ziellos umherirren. Im Großen und Ganzen schien mir das Bahnsystem in Japan immer komplizierter als in Deutschland. Als Ayano aber von ihren Erfahrungen mit den Bahnhöfen und Zügen in Deutschland sprach, wurde mir allmählich bewusst, dass unsere Fahrpläne und Bahnhöfe weitaus unübersichtlicher und schwerer zu verstehen waren, als in Japan. Hatte man in Japan nämlich erst einmal das richtige Gleis gefunden, musste man nur warten, bis die nächste Bahn kam, konnte ganz entspannt einsteigen und an der gewünschte Haltestelle aussteigen. Zu Recht bemängelte Ayano die unübersichtlichen Fahrpläne an deutschen Bahnhöfen, an denen weder alle Haltestellen der einzelnen Züge verzeichnet, noch verständliche Hinweise auf die Zugart gegeben werden. Wie man ohne Vorkenntnis einen RE von einem IC, einer RB oder gar einem ICE unterscheiden solle, war Ayano schleierhaft. Darüber hinaus machte ihr zu schaffen, dass die Züge scheinbar ohne jegliches System von irgendeinem beliebigen Gleis zu irgendeiner Uhrzeit abfuhren. Als ich darüber nachdachte, wurde mir erst bewusst, welch ein kompliziertes Bahnsystem wir doch haben und welch einem Wunder es gleicht in Deutschland überhaupt von A nach B zu kommen.
Von der Haltestelle "Jinbouchou" stiegen wir um und fuhren bis nach "Shinjuku-3-chou-me", der Haltestelle an der unser Kino gelegen war. Da wir für die Fahrt rund eine Stunde benötigt hatten und die Vorstellung bereits in einer halben Stunde begann, liefen wir ohne größere Umschweife zum Kino, welches im obersten Stockwerk eines großen Einkaufshauses gelegen war. Dort kaufte Ayano Tickets für "Clara Schumann" und "Krabat". Da wir recht spät dran waren, bekamen wir keine guten Plätze mehr, aber das war uns eigentlich auch nicht wirklich wichtig. Mit der Rolltreppe fuhren wir noch 2 Stockwerke höher und kamen letztlich genau vor unserem Kinosaal an. Ein junger Bediensteter prüfte unsere Eintrittskarten und begrüßte uns herzlich zur Vorstellung. Nachdem wir eilig unsere Plätze gefunden hatten, nahm ich mir die letzten Minuten vor Beginn des Filmes Zeit mich ein wenig umzuschauen. Der Kinosaal war ganz normal und hätte genauso gut in Deutschland stehen können. Viel interessanter war das Publikum: Ich weiß nicht genau was für ein Publikum ich erwartet hatte, aber ich war doch überrascht, dass so viele ältere Menschen im Kino waren, da die Filme auf Deutsch gezeigt wurden und lediglich englische und japanische Untertitel hatten. Das Publikum war größtenteils auch festlicher gekleidet als in Deutschland und es gab nicht wenige, die in Abendgarderobe gekommen waren. Insgesamt hatte ich eher den Eindruck in der Oper oder im Theater zu sitzen, als in einem Kino. Irgendwann ging dann das Licht aus und ohne Trailer und Werbung begann der Hauptfilm "Clara Schumann". Nach fast zwei Stunden, war der Film vorüber und der Vorspann begann. In deutschen Kinos wäre nun das Licht angegangen und die Zuschauer hätten laut redend den Saal verlassen, während einige hartgesottene Fans auch noch die Namen der Statisten, der Maskenbildner und des Instituts, das für die Verpflegung der im Film vorgekommenen Tiere zuständig war, gelesen hätten. In Japan blieb es während des Abspanns allerdings dunkel und das Publikum saß genauso ernst und interessiert da, als würde noch immer der Hauptfilm laufen. Und als dann nach einigen Minuten der Abspann vorbei war und endlich das Licht anging, begann das Publikum erst einmal zu applaudieren, ganz so als hätten sie gerade eine Theateraufführung gesehen und die Hauptdarsteller würden sich nun verneigen. Obwohl ich mir trotz der ungewohnten Situation ein wenig das Lachen verkneifen musste, applaudierte ich ebenfalls und verlies dann gemeinsam mit Ayano den Kinosaal.
Da Ayano bereits wieder nach Hause musste, verabschiedete sie sich unter mehrmaligem Entschuldigen und ich stand alleine im Kino und überlegte wie ich die kommenden 40 Minuten bis zum Beginn von "Krabat" verbringen könnte. Nachdem ich die kinointerne Hightech-Toilette benutzt hatte, machte ich mich auf den Weg, um die nähere Umgebung des Kinos zu erkunden. Mit meiner Kamera bewaffnet lief ich eine kleine Runde um den Block und machte meine ersten Bilder von Shinjuku. Im Gegensatz zu Akihabara, welches als Zentrum für Technik, Kitsch und Populärkultur bekannt ist, ist Shinjuku die Hochburg von Mode und Style. Da ich mich nur in den Vorbezirken Shinjukus befand, war dies nicht unbedingt auf den ersten Blick erkenntlich, dennoch war es ein ganz anderes Gefühl durch die Straßen zu laufen, als noch einige Wochen zuvor in Akihabara. Die Passanten schienen meist aus dem Modekatalog entsprungen zu sein und die Quote von Businessmännern und -frauen war überdurchschnittlich hoch. Nach meiner kurzen Runde, schlenderte ich durch das Kaufhaus, welches sich unterhalb des Kinos befand. Wie ich vermutet hatte, war es ein Modekaufhaus der gehobenen Art und so lief ich ein wenig deplatziert durch die vielen kleinen Abteilungen für Schmuck, Frauen- und Männermode. Im Gegensatz zu Deutschland waren die Stockwerke in übersichtliche Abteilungshäppchen von ungefähr zehn bis fünfzehn Quadratmetern aufgeteilt, für die immer ein Angestellter zuständig war. Eine einfach Runde in einem Stockwerk zu drehen, kam einem Spießrutenlauf gleich, da ich alle paar Meter von einer anderen Richtung auf japanisch begrüßt wurde und mich dutzende von Blicken auf meiner kleinen Tour durch die Abteilungen beobachteten. Da ich nach nichts Bestimmtem suchte, sonder mich einfach nur umschauen wollte, kam ich mir ziemlich deplatziert vor. Ich fühlte mich ziemlich unwohl, da ich doch ziemlich underdressed zwischen den Markenhosen, Diamantkettchen und Designer-T-Shirts umherirrte. Ich war erleichtert, als ich mich zum Fahrstuhl zurückzog und wieder ins oberste Stockwerk fuhr, um mir endlich "Krabat" anzusehen.
Bild1: Ein Blick auf Shinjuku-3-chou-me, den Vorbezirk zu Shinjuku, der Hochburg von Mode und Lifestyle.
Bild2: Blick in eine Seitenstraße. Da es bereits dämmerte, sind die Laternen schon an.
Bild3: Wegen der zahlreichen Bediensteten habe ich mich nicht getraut Fotos vom eigentlichen Modesortiment zu machen. Nichtsdestotrotz habe ich beim Warten auf den Fahrstuhl ein Bild geknipst, das dennoch einen kleinen Eindruck vermittelt, wie es in dem Kaufhaus aussah.
Bild4: Das Innere des Kinos. m Hintergrund sieht man den Ticketschalter, an dem ich mit Ayano die Tickets gekauft habe. (Vielen Dank an Ninja für dieses Foto)
Als ich meinen Platz in der hinteren Ecke des Kinosaals eingenommen hatte, fiel mir das Team von Japaner auf, die neben mir Scheinwerfer und Kamera hielten. Irgendetwas war anders und ich bemerkte, dass viel mehr Deutsche in schicken Anzügen im Saal saßen als noch zuvor. Als der Film losgehen sollte, trat ein Japaner auf die Bühne und richtete einige Worte an die Zuschauer. Dann kamen zwei ältere deutsche Herren auf die Bühne und begannen auf Deutsch eine Rede zu halten. Es waren der Vorsitzende des Goethe-Instituts und der Deutsche Botschafter in Japan, die mit "einigen Worten" die das deutsche Filmfestival in Tokyo offiziell eröffnen wollten. Aus "einigen Worten" wurde dann eine zwanzigminütige Rede, in der sich die beiden ziemlich wichtig nahmen und mit Dankesworten an deutsche Sponsoren nur so um sich warfen. Damit das größtenteils japanische Publikum nicht einschlief, übersetzte eine Japanerin die Rede ins Japanische, was ein wenig seltsam wirkte, da somit die Reaktionen zu dem, was die beiden sagten, immer erst viel zu verspätet vom Publikum kamen. Nachdem die beiden übergewichtig wichtigen Personen die Bühne verlassen hatten, wurden die Regisseure und einige Hauptdarsteller aus den aufgeführten Filmen auf die Bühne geholt. Und so sah ich rund dreißig Meter von mir entfernt eine Reihe von deutschen (Nachwuchs-) Regisseuren und (Nachwuchs-) Schauspielern auf der Bühne stehen, darunter auch Marco Kreuzpaintner, den Regisseur von Krabat, und Robert Stadlober, eine der Hauptrollen aus Krabat. Es war seltsam so wichtige Persönlichkeiten in real zu sehen, schließlich sieht man echte Stars sonst nur im Fernsehen oder auf den Titelblättern diverser Glamour-Magazine. Schließlich sollte auch der Autor noch "einige Worte" über seinen Film verlieren. Da er aber wußte, das das Publikum endlich den Film sehen wollte, wünschte er dem Publikum nur gute Unterhaltung und schaffte es somit die Zuhörer mit "einigen Worten" auf seine Seite zu ziehen. Nach zwei Stunde "Krabat" wiederholte sich dann das gleiche Szenario wie bereits bei "Clara Schumann": Alle Anwesenden schauten andächtig den Abspann und applaudierten anschließend für den Film. Nachdem sich das Publikum allmählich auflöste, stand auch ich auf und ging zum Ausgang. Als ich den Raum bereits fast verlassen hatte, begann plötzlich die Runde für offene Fragen: Marco Kreuzpaintner und Rober Stadlober, Regisseur und Hauptdarsteller von Krabat, hatten vor der Leinwand Platz genommen und sprachen über ihren Film. Da ich bereits fast nach draußen gedrängt worden war und ich mich bis zu meinem Sitzplatz auf der anderen Seite des Kinosaals hätte durchkämpfen müssen, verließ ich leider den Raum frühzeitig. Bis heute ärgere ich mich darüber nicht geblieben zu sein, denn wann erhält man schon die Möglichkeit mit einem Regisseur über dessen Film zu sprechen oder sich mit einem echten Star fotografieren zu lassen. Glücklicherweise ging meine Freudin Ninja einige Tage später zum Filmfestival und nutzte die Gelegenheit, um mit den Stars ins Gespräch und aufs Bild zu kommen. Somit präsentiere ich einige Bilder mit freundlicher Genehmigung von Ninja:
Bild5: Die Stars sitzen vor der Leinwand und stellen sich den Fragen der Zuschauer. (Vielen Dank an Ninja für dieses Foto)
Bild6: Der Regisseur des Films "Krabat": Marco Kreuzpaintner. (Vielen Dank an Ninja für dieses Foto)
Bild7: Er spielt die Rolle des Lyschko in "Krabat": Robert Stadlober. (Vielen Dank an Ninja für dieses Foto)
Nachdem ich das Kino verlassen hatte und versuchte in der Dunkelheit noch ein paar letzte Fotos zu schießen, begab ich mich zur Haltestelle "Shinjuke-3-chou-me". Als Orientierung diente ein ein kleiner Plan, den Ayano mir netterweise aufgezeichnet hatte, damit ich mich nicht hilflos verirren würde. Ohne Probleme fuhr ich bis nach Jinbouchou und entschied mich dort auszusteigen und eine kleine Runde um den Block zu laufen, denn wer weiß, ob ich noch einmal die Gelegenheit haben würde mir diese Gegend anzuschauen. Ich lief durch einige kleinere Gassen, abseits der großen Hauptstraße und erhaschte einen Einblick in den Feierabend des japanischen Geschäftsmannes. Die Straßen waren voll mit Geschäftsmännern, die entweder angetrunken durch die Straßen torkelten oder in Schlangen vor den zahlreichen Schnellimbissen standen, um ihren Abschluss einer arbeitsreichen Woche zu feiern. Die Altersspanne der Männer in schicken Designeranzügen reichte von 20 bis etwa 50. Die Straßen waren gefüllt vom Geruch von frisch Gebratenem, was angenehm klingt, aber weniger angenehm zu riechen war. Insgesamt hatte ich ein wenig das Gefühl durch eine riesige Pommesbude zu laufen. ich lief die engen Gässchen entlang und machte mich schnellstmöglich wieder auf den Weg zurück ins Wohnheim. Von Jinbouchou fuhr ich über eine halbe Stunde bis nach Soka. Der Zug war zwar nicht überfüllt, aber dennoch so voll, dass ich keinen Sitzplatz bekam. So stand ich hungrig und vollkommen erschöpft in der wackelnden Bahn und versuchte nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Um mich herum waren fast nur Japaner in Anzügen, die auf dem Weg nach Hause waren. Viele saßen nur da und schauten ausdruckslos ins Leere. Einige spielten Nintendo DS, andere wiederum lasen Bücher. Nach einiger Zeit wurde mir durch das ständige Gewackel und den leeren Magen ganz schwindelig, weshalb ich während der letzten zwei Stationen damit kämpfen musste, nicht einfach zusammenzuklappen. Als ich am Bahnhof von Soka ausgestiegen war, lief ich gleich Richtung Wohnheim und packte mir in der ersten ruhigeren Straße gleich einen Teil meines Lunchpaketes aus. Nachdem ich endlich etwas im Bauch hatte konnte ich erschöpft, aber glücklich nach Hause laufen. Da ich nun seit morgens ununterbrochen auf den Füßen war, fiel ich regelrecht in mein Bett. Ich war so ausgelaugt, dass ich nur noch etwas aß und bereits um 21.30 Uhr einschlief.
Bild8: Ein Bild von dem Kino, in dem ich "Clara Schumann" und "Krabat" gesehen habe. Die unteren Stockwerke sind allerdings nur Einkaufszentrum.
3 Kommentare:
Das war ja ein tolles Erlebnis. Denn wer kommt schon mal in seienm Leben auf ein Filmfestival?
Dass die Zuschauer bis zum Ende des Abspanns sitzen geblieben sind, lag aber bestimmt nur daran, dass es so ein offizielles Ereignis war. Normalerweise machen die das bestimmt auch nicht, oder?
Du hast geschrieben, dass manche Leute in der Bahn Nintendo spielen. Sind das dann Jugendliche, oder spielen in Japan auch Erwachsene in der Öffentlichkeit Nintendo?
Kein Problem ^^
Hab ich gerne gemacht~
Aber deine Bilder wären bestimmt besser geworden. Am Montag war der arme Kreuzpaintner nämlich krank.
LG
Ninja
An H.: Das Filmfestival war schon toll. Jetzt kann ich immer erzählen, dass ich auf einem echten Filmfestival war. Und ich habe mich auch gefragt, ob es an diesem offiziellen Ereignis lag, dass das Publikum so brav dagesessen und geklatscht hat. Aber eine Antwort habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht weiß ich mehr, wenn ich einfach mal in einen "normalen" Kinofilm gehe.
Nintendo spielen bei Pendeln fast alle Altersgruppen: Kinder auf dem Weg zur Schule, Jugendliche auf dem Weg zur Uni oder eben Erwachsene auf dem Weg zur Arbeit. So wie bei uns viele mit dem Handy spielen oder MP3s hören, wird hier der Nintendo DS oder die Playstation Portable benutzt. Das heißt natürlich nicht, dass nicht auch viele mit ihrem Handy spielen würden oder einfach nur MP3s hören. Viele Lesen auch Bücher oder Manga.
An Ninja: Der war krank? Sieht man ihm gar nicht an. Und ich glaube bessere Bilder hätte ich nicht hinbekommen, da meine Kamera nie anständig fotografiert, wenn es nicht strahlend hell ist. Ich habe mir bei Dämmerung mittlerweile angewöhnt immer 3 Bilder am Stück zu machen, damit wenigstens eines etwas wird...
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