In den zwei Monaten, die Yosuke und ich uns nun schon Wohnung 404 teilen, hat sich hier ein richtiger kleiner Männerhaushalt gebildet. Darum stapelt sich manchmal das dreckige Geschirr an der Spüle, das Waschbecken wird nicht so oft gesäubert, wie es sollte, die Zimmer sind meist ein heilloses Durcheinander, der Boden ist nie wirklich sauber und manchmal stehen wir gemeinsam ratlos vor der Waschmaschine. Das heißt natürlich nicht, dass wir wie Vandalen hausen, sondern dass wir nach dem Prinzip handeln: Etwas wird gemacht, wenn es sich nicht länger aufschieben lässt und nicht dann, wenn es sich anbieten würde. So haben wir seit unserem Einzug schon immer ein Problem mit dem Abfluss des Waschbeckens gehabt, denn das Wasser fließt viel zu langsam ab. Ganz unserem bewährten Prinzip folgend haben wir dies hingenommen und die Lösung des Problems bis zu jenem Tag hinausgezögert, als es für einen der Beteiligten nicht mehr tragbar war, in diesem Fall mich. Denn als ich heute Mittag am Waschbecken meine Haare gewaschen habe, musste ich fast drei Minuten warten, bis das benutzte Wasser endlich träge den Abfluss hinuntergeflossen war. Um dies nicht länger hinnehmen zu müssen, nahm ich mir getreu dem Motto "Selbst ist der Mann" die Abflussrohre vor und versuchte sie zu öffnen, um den buchstäblichen Kern des Problems aus dem Rohr zu spülen. Ein wenig orientierte ich mich an dem, was ich bei der Installation der Spüle in meiner Wohnung gesehen hatte und versuchte mit aller Kraft das Gewinde aufzudrehen, doch vergebens. Doch just in diesem Moment kam Yosuke nach Hause und sah mich unter dem Waschbecken knien. Kurze Zeit später saßen wir dort zu zweit und zerrten an dem Rohr. Und als wir das Gewinde endlich offen hatten, hing uns ein Büschel, stinkender, langer, feuchter Haare entgegen. Nachdem wir diese irgendwie mit zwei Holzstäbchen aus dem Rohr gefischt hatten, und das Rohr nochmals ordentlich durchgespült hatten, setzten wir alles wieder ordentlich zusammen. Und als nach einem gelungenen Testlauf alles perfekt lief, schauten wir zufrieden auf unser Ergebnis.
Nach fast einer Stunde Unterbrechung konnte ich nun meine Haare zu Ende waschen, hatte ich mir doch erst vor kurzem ein neues Shampoo und einen passenden Conditioner gekauft. Das mag sich nun sehr professionell anhören, aber in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was eigentlich ein Conditioner ist und zu erklären vermochte es mir auch niemand. Zumindest steht in japanischen Supermärkten neben jedem Haarshampoo stets der passende Conditioner, ganz gleich, ob es sich um Männer- oder Frauenshampoo handelt. Aus Neugierde hatte ich mir darum zu meinem Shampoo noch einen passenden Conditioner gekauft, denn irgendeinen Zweck wird er sicherlich erfüllen, wenn er vielerorts so sehr angepriesen wird. Zumindest scheint er bei japanischen Männern gut anzukommen, was aber wenig überraschend ist, bedenkt man wie viel Wert ein Großteil von ihnen auf ihre Haarpracht legt. Ist man bei deutschen Männern oftmals an die 08/15-Kurzhaarfrisur oder eine wild wuchernde, ungepflegte Haarpracht gewöhnt, so beginnt japanisch Individualität an den eigenen Haaren. Selten habe ich solch eine Menge an verschiedenen Frisuren auf einem Haufen gesehen. Der Eine hat schwarze, kurzgeschorene Haare, während der Nächste platinblonde Haare trägt, die weit über seine Schultern fallen. Der Eine hat braungefärbte, glatte, mittellange Haare, während der Nächste mit einem wilden Wuschelkopf voller Strähnen dahergelaufen kommt. Und auch wenn es eine etwas waghalsige Behauptung ist, so denke ich doch, dass viele der Männer hier mehr Zeit für ihr morgentliches Styling benötigen, als die Frauen. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt auf den Toiletten in der Dokkyo-Universität dutzende von Studenten zu treffen, die vor den Spiegeln stehen und akribisch Strähne um Strähne zurechtlegen, mit angefeuchteten Fingern einzelne Haarpartien nachfahren und sich minutenlang von allen Seiten selbst betrachten. Aus Deutschland bin ich es gewohnt, dass Frauen bei Gelegenheit kurz verschwinden, um sich frisch zu machen, hier in Japan muss ich mich daran gewöhnen, dass es Männer ebenso tuen. Und das sogar mit viel mehr Eitelkeit und Akribie als ihre weiblichen Gegenparts. Spreche ich mit anderen über die Absurditäten, die sich aus der Selbstverliebtheit einiger japanischer Männer ergeben, so erzähle ich stets die folgende Anekdote: Als ich in der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden nach getanem Geschäft von der Toilette kam, stand ich vor dem Spiegel und wusch mir meine Hände mit Seife. Zum gleichen Zeitpunkt kam vom Pissoir her ein junger Japaner, der sich gerade erleichtert hatte, stellte sich neben mir an den Spiegel und begann seine Haarsträhnen zurechtzulegen. Und während ich den Schaum von meinem Händen wusch, schaute er sich noch eine Weile lang von jeder Seite im Spiegel an und verließ die Toilette, ohne die Hände auch nur anzufeuchten. Möglicherweise habe ich in Deutschland noch nicht genug Zeit in Feldstudien auf öffentlichen Toiletten investiert, aber Vergleichbares habe ich in meiner Heimat fast noch nie erlebt. Und so stehe ich gelegentlich etwas deplatziert neben all den aufgestylten jungen Japanern vor dem Spiegel und wasche meine Hände, während alle um mich herum in den Spiegel schauen und sich hübsch machen. Aber so sind echte Männer eben, zumindest in Japan.
2 Kommentare:
Da wir unter der Woche zeitlich irgendwie asynchron sind, schreib ich dir jetzt glaub ich doch mal wieder hier. Damits "für die Ewigkeit erhalten bleibt".
Als Besitzer einer zwar nicht ungepflegten aber trotzdem "wild wuchernden Haarpracht" bin ich an einem Testbericht von dir interessiert, was ein Conditioner denn so macht.
Ein grosses Lob fuer deine Do-it-yourself-Sache. Von wegen die anderen sind echte Männer.
*mit der Faust auf die Brust klopf und irgendwelche obskuren Bruderschaftsgesten mach* Du zeigsts ihnen schon... ;)
Hi Michi,
Es ist schön auch auf diesem Wege wieder etwas von dir zu hören. : )
Meiner amateurhaften Meinung nach, ist ein Coditioner irgendetwas, was die Haare gesund macht. Shampoo macht die Haare sauber, Conditioner macht sie stark, glatt, bla...
Vielleicht kann uns ja ein Profi weiterhelfen?
Und wegen der Männersache: Seit Jahren dachte ich, dass ich sehr unselbstständig wäre, aber nach regelmäßigem Vergleichen mit dem, was andere ausländische Studenten hier von alleine auf die Beine stellen (oder eben nicht), bin ich zu der Einsicht gekommen, dass ich wohl mehr nach meiner Do-it-yourself-Mama zu kommen scheine, als ich bislang dachte. Und dabei meine ich nicht nur "typische Männersachen" (am Abfluss herumwerkeln, Fernseher reparieren) sondern auch "typische Frauensachen" (Hausarbeit, Kochen). Aber genau genommen, ist das alles gar nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen. Denn heutzutage muss ja ohnehin jeder alles können.
Kommentar veröffentlichen