Es kommt des Öfteren vor, dass Katharina zu spät ins Bett geht oder nicht schlafen kann und dann den gesamten kommenden Tag müde ist. Das könnte mich eigentlich herzlich wenig kümmern, wenn ihre Müdigkeit nicht verheerende Folgen auf ihre Stimmung und ihren Umgang mit anderen Menschen, insbesondere mir, haben würde. So grault es mir immer vor den Tagen, an denen sie morgens mit einem finsteren Blick aus dem Wohnheim kommt, mit aufgesetztem Lächeln "Morgen." sagt und sich in ihrer eigenen kleinen Welt verschanzt, indem sie ihrem MP3-Player einschaltet. Dann läuft sie nämlich mit eisernem Gesicht neben Lee und mir her und sagt kaum ein Wort. Im Unterricht kritzelt sie meist lustlos in ihrem Block herum und folgt dem Unterricht nicht, was dazu führt, dass ich ihr alle paar Minuten von Neuem sagen muss auf welcher Seite wir gerade arbeiten, welche Übungen wir machen sollen, was der Lehrer gerade erklärt hat oder wie die neue Grammatik funktioniert. All zu oft kommt es zu jenen Situationen, in denen ich Katharina einen guten Rat, eine einfache Antwort oder eine Hilfestellung gebe, es bei ihr aber vollkommen falsch und provokativ ankommt und man am Ende immer als der Dümmere dasteht.
Heute hatte Katharina einmal mehr einen ihrer müden Tage, was dazu führte, dass wir seit dem Morgen auf Kriegsfuss standen. Also versuchte ich mögliche Reizquellen zu umgehen und die gelegentlichen Sticheleien möglichst souverän zu überhören. Irgendwann war das Fass dann aber am Überlaufen und ich sagte ihr zwischen der ersten und der zweiten Unterrichtsstunde recht direkt, wie unangemessen ich ihr Verhalten fand und wie viel Spass wir doch haben könnten, wenn es nicht hin und wieder ihre "müden Tage" gäbe. Wie erwartet war sie zunächst ziemlich beleidigt und konterte nur mit Sticheleien. Doch im Verlauf des Tages merkte ich wie sie sich bemühte ihre schlechte Laune zu unterdrücken und ihre schnippischen Bemerkungen möglichst schnell wieder zu entschärfen. Natürlich sagte sie nie auch nur ein einziges Mal eine Entschuldigung, dafür ist sie zu stolz, aber ich kenne sie doch gut genug, um zu wissen, dass sie sich meine Kritik sehr zu Herzen genommen hat und seitdem stetig bemüht ist an den Folgen ihrer müden Tage zu arbeiten.
Zum Mittagessen war ich wie gewohnt mit Lee und Katharina in der Mensa. Normalerweise bestelle ich einen Teller Curryreis, doch hin und wieder, wenn es etwas Leckeres im Angebot gibt und ich einen spendablen Tag habe, kaufe ich mir ein anderes Gericht, um ein wenig Abwechslung zu haben. So esse ich gelegentlich Reis mit Salat und Geflügelbällchen, Spaghetti Bolognese, Kartoffeltaschen mit Reis und Salat, Pilaf oder andere Gerichte. Bislang waren die Speisen in keiner Weise besonders, weshalb ich sie noch nie erwähnt habe. Heute war dies allerdings anders: Im Schaukasten der angebotenen Speisen fand ich heute nämlich Curryreis mit Gemüsebeilage und einem pochierten Ei, was ich mir sogleich orderte. Als ich meinen Teller allerdings in die Hand gedrückt bekam, war das Ei weitaus flüssiger, als ich gedacht hatte, es war nämlich fast roh. Mit dem glibberigen Ei, das sich langsam von der einen Seite des Tellers auf die andere Seite hinüberwälzte, suchte ich mir einen Platz und blickte missmutig auf meine Mahlzeit. Ich wollte weder die japanische Küche beleidigen, noch unaufgeschlossen wirken, aber das Ei, so friedlich es auch auf dem restlichen Essen umherschwamm, war doch ein sehr befremdlicher Anblick, der mich nicht dazu verführte voller Freude meine Mahlzeit hinunterzuschlingen. Aber dann fasste ich mir doch ein Herz und aß einen Löffel voller glibberigem Ei mit Curryreis. Und überraschenderweise schmeckte es gar nicht schlecht. Es war wohl mehr der Gedanke ein kaltes, halbrohes Ei im Mund zu haben, als der tatsächliche Geschmack, der mir anfangs die Freude am Essen verdarb. Aber schon nach wenigen Happen sah ich ein, dass das Gericht recht gut schmeckte und schaufelte in gewohntem Tempo mein Essen in mich hinein. Auch wenn dies sicher nicht meine Lieblingsspeise werden wird, so spiele ich doch mit dem Gedanken es bei Gelegenheit noch einmal zu bestellen.
Schon seit einigen Wochen haben Lee und ich ein schlechtes Gewissen, weil wir das Gefühl haben zu oft tatenlos in der Wohnung zu sitzen, ohne uns richtig bewegen zu können. Darum haben wir uns beide gegenseitig dazu ermuntert ein wenig sportlich aktiver zu werden und sind heute das erste Mal gemeinsam Joggen gegangen. Es war anstrengend und ich war bereits nach kürzester Zeit vollkommen außer Atem, aber es fühlte sich gut an. Und ganz nebenbei haben wir auch ein wenig von den vielen kleinen verwinkelten Gässchen Sokas gesehen. Schwer atmend, aber mit gutem Gewissen, standen wir dann noch fast eine halbe Stunde im vierten Stock des Wohnheims und ließen unseren Blick über Soka schweifen. Und während wir uns unterhielten wurde mir erst richtig bewusst, dass Lee in den knapp zwei Monaten hier in Japan bereits zu einer richtigen Freundin geworden war. Und so standen wir mit müden Körpern an der frischen Luft, sahen uns den Sonnenuntergang an und philosophierten über unsere Heimat, was wir bereits in Japan erlebt hatten und was wir noch erleben wollten.
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