Es ist Tag 90 in Japan und meine Lehrerin Frau Nomura hat heute eine Stunde des Vormittagsunterricht individuell gestaltet. Anstelle des gewohnten Bearbeitens der Grammatikaufgaben, teilte sie ein Blatt mit Übungen zur Betonung japanischer Wörter aus und gemeinsam trainierten wir die korrekte Aussprache japanischer Begriffe. Ich muss gestehen, dass ich in meinen mittlerweile über drei Jahren Sprachstudium fast noch nie etwas über Betonung im Japanischen gehört habe. Vielleicht wurde es in meinem ersten Semester in Marburg einmal nebensächlich bemerkt, aber Wert auf eine korrekte Betonung hatte nie einer meiner Sprachlehrer gelegt. Den anderen Studenten schien es ähnlich gegangen zu sein, denn alle schauten kritisch auf das Blatt, dass die Betonung, die sich jeder innerhalb der letzten Jahren selbst zurechtgelegt hatte, über den Haufen warf. Hatte man mir vor zwei Jahren noch gesagt, dass Wörter mit identischer Schreibweise anhand des Kontextes ihren Bedeutungen zugeordnet würden, musste ich nun feststellen, dass dies keineswegs so war, denn eigentlich lassen sich eben jene Wörter anhand ihrer Betonung unterscheiden. Während ich ganz aufmerksam lauschte und alle Wörter, die Frau Nomura sagte leise nachsprach, schlief der Rest des Kurses ein. Katharina sagte sogar ganz offen, dass sie zwar einen Unterschied höre, aber genau wüsste, dass sie sich weder die Betonungen merken könne, noch selbst in der Lage sei diese Feinheiten auszusprechen. Darum saß ich als Einziger durchgängig aufmerksam im Unterricht und versuchte möglichst viel in mich aufzusaugen.
Als ich mich in der Pause mit Tak traf, um gemeinsam mit ihm in der Mensa essen zu gehen, berichtete ich sogleich von den Betonungsregeln, die ich zuvor gelernt hatte, woraufhin er mich mit zugekniffenen Augen anschaute und nachfragte "Wir haben im Japanischen Betonungsregeln?". Natürlich wußte er gar nicht wovon ich sprach, schließlich hatte er sich die Betonung in seiner Muttersprache intuitiv angeeignet und nie bewußt lernen müssen. Als ich ihm aber ein Wort einmal in richtiger und einmal in vollkommen falscher Betonung sagte, musste er lachen und pflichtete mir bei, dass im Japanischen die Betonung anscheinend viel wichtiger sei, als zuvor angenommen hatte. Seitdem ist er der Ansicht, dass das Japanische eine weitaus schwierigere Sprache sei, als er zuvor angenommen hatte, muss man doch zusätzlich zu den Schriftzeichen und der Grammatik offensichtlich auch noch korrekte Betonungen lernen.
Als wir in der Mensa gemeinsam mit Katharina zu Mittag aßen, kamen wir alle gemeinsam irgendwie auf das Thema Religion zu sprechen. Anfangs war Tak ein wenig zurückhaltend und versuchte es möglichst zu umgehen sich über das Christentum unterhalten zu müssen, nachdem er aber merkte, dass Katharina und ich sehr aufgeschlossen gegenüber seiner persönlichen Meinung waren, begann er über seine Erfahrungen mit der Bibel und dem christlichen Glauben zu reden. Zu meiner Überraschung hatte Tak sogar schon Teile der Bibel gelesen, was für Japaner eigentlich recht ungewöhnlich ist. Erst hatte er es in seiner Oberschulzeit auf Japanisch versucht, aber aufgegeben, weil die japanische Bibelübersetzung viel zu kompliziert geschrieben sei und er all die Schriftzeichen nicht verstehen konnte. Als er dann aber nach Großbritannien gegangen war, hatte er begonnen die Bibel auf Englisch zu lesen, was ihm viel leichter gefallen war. Er meinte, dass er einiges ganz interessant und inspirierend fand, anderes ihn aber auch abgeschreckt hatte oder ihm gänzlich unverständlich geblieben war. Als er damals in Großbritannien mit verschiedenen Freunden über die Bibel ins Gespräch kommen wollte, wurde er aber herb enttäuscht, da er als nichtchristlicher Japaner immer nur belächelt wurde, wenn er begann über das Christentum zu reden. Immer wenn er Fragen stellte oder Kritik äußerte, fühlten sich seine Freunde oder Bekannten sofort persönlich angegriffen und nahmen ihn nicht als ebenbürtigen Diskussionspartner wahr, schließlich war er ja kein Christ. Nach zahlreichen fruchtlosen Versuchen mit Christen in ein kritisches Gespräch über ihren Glauben zu kommen, hatte er schließlich resigniert aufgeben und sich angewöhnt das Thema Religion zu meiden. Um so erstaunter war er nun mit zwei Deutschen in ein kritisches Gespräch über das Christentum zu kommen und all die Fragen zu stellen, die er sich früher niemals getraut hatte zu fragen. Obwohl Katharina und ich nicht unbedingt sehr gläubige Menschen sind und wir auch kein umfassendes Wissen über die Kirche oder die Bibel besitzen, erläuterten wir so viel über unsere Religion, wie nur möglich. Wir erklärten Tak warum es unterschiedliche Konfessionen gibt, wie sich diese unterscheiden und wie sich die unterschiedlichen Konfessionen bemerkbar machen. Wir sprachen über Kirchenbesuche, die Auslegung der Bibel, darüber was eigentlich ein Papst ist und über ständige Konfliktfragen wie Abtreibung, Homosexualität und Kindesmissbrauch.
Aus Interesse fragte ich Tak über seinen Glauben und er gab an nicht religiös zu sein. Als ich ihn über Shinto und Buddhismus, die beiden Religionen, die Japan hauptsächlich prägen, befragte, zuckte er mit den Schultern und meinte, dass ich durch mein Studium höchstwahrscheinlich mehr über japanisches Brauchtum und japanische Religiosität wisse, als er. Tak meinte, dass er mit seiner Familie eigentlich nie Schreine oder Tempel besuchen würde und ansonsten auch kaum in Kontakt mit Religion gekommen wäre. Er meinte lachend, dass er nicht einmal wüsste wie man sich an einem Schrein oder Tempel verhalten müsse, woraufhin ich bemerkte, dass ich ihm beim Sightseeing von Tempel und Schreinen einfach mitnehmen würde und wir beide dann gemeinsam hilflos über das Schrein- oder Tempelgelände stolpern würden, ohne zu wissen, was zu beachten sei. Als wir drei die Mensa verließen, bedankte sich Tak bei Katharina und mir mit den Worten "Ich hätte echt niemals gedacht mich während des Essens mit euch über Religion zu unterhalten." für das informative und interessante Gespräch. Dann lief er in Richtung der ICZ, um weiter an seinen Vorträgen für die kommende Woche zu arbeiten, während Katharina und ich in den Unterricht zurückkehrten.
Wie ich bereits letzte Woche angemerkt hatte, schreiben wir im Sprachkurs nachmittags immer Essays auf Japanisch (Die Frau an seiner Seite). Rund eine Dreiviertelstunde haben wir Zeit um über Themen wie "Ich und meine Familie", "Weihnachten und Neujahr" oder "Mein Lieblingshobby" zu schreiben. Für gewöhnlich erhalten wir ein halbes dutzend Fragen, an denen wir uns grob orientieren können, um einen einigermaßen vernünftig gegliederten, einseitigen Essay zu schreiben. Als ich heute allerdings das Thema erhielt, halfen mir auch die unterstützenden Fragen nicht wirklich viel, da ich schlichtweg nicht wußte, was ich schreiben sollte. Thema war nämlich die Planung unserer Zukunft. Mit dieser Frage setze ich mich schon seit Jahren auseinander und zerbrach mir regelmäßig ohne Ergebnis den Kopf, weshalb ich instinktiv eine Aversion gegen die typische Frage "Was willst du später einmal machen?" entwickelt habe, schließlich weiß ich weder was ich später einmal beruflich machen möchte, noch in welchem Land ich leben werde. Konkrete Planungen habe ich eigentlich nicht, wie übrigens fast jeder in meinem Studiengang, weshalb man sagen könnte, dass ich bisher ein wenig in den Tag hineingelebt habe und mich überraschen ließ, wo es mich hintreibt. Nun war ich aber gezwungen die Antwort auf eine der entscheidenden Fragen meines Lebens in einer Dreiviertelstunde auf Papier zu bannen. Die ersten fünf Minuten saß ich erst einmal ratlos da und versuchte all die Gedanken und Pläne, die ich mir in den letzten Jahren betreffend meiner Zukunft gemacht hatte, zu sortieren, dann begann ich zu schreiben. Und während ich schrieb, nahm vor meinem geistigen Auge allmählich eine greifbare Zukunftsperspektive Gestalt an. Vollkommen begeistert schrieb ich davon, wie ich nach meinem Abschluss in Marburg nach Bonn ziehen würde, um dort meinen Master für Übersetzung asiatischer Sprachen zu beginnen. Ich schrieb davon Koreanisch zu lernen, meine Japanischkenntnisse zu verbessern und meine Freizeit mehr der japanischen Schriftsprache zu widmen. Und als ich schließlich meinen Aufsatz abgab, begann ich an all jenes, was ich geschrieben hatte zu glauben. Ich ging aus dem Unterrichtssaal und war der festen Überzeugung, dass meine Zukunft in eben jenen Bahnen verlaufen würde und ich eine Karriere als Übersetzer vor mir hätte.
Erfasst von meiner Euphorie suchte ich mit Katharina gleich nach dem Ende des Unterrichts einen Buchladen auf und besorgte mir ein Buch zum Selbststudium japanischer Schriftzeichen und zur Erweiterung des Wortschatzes. Seitdem sitze ich immer, wenn ich Zeit habe vor meinem Buch und erweitere begeistert meinen Wortschatz und mein Leseverständnis. Natürlich weiß ich jetzt noch nicht, ob meine Zukunft wirklich wie geplant verlaufen wird, ob ich ernsthaft beginnen werde Koreanisch zu lernen, nach Bonn gehe und Übersetzer werde, aber es ist eine Perspektive, die sich mir vollkommen überraschend eröffnet hat, als ich am wenigsten damit gerechnet hatte. Sicherlich kann man sich einreden, dass diese Planungen schwachsinnig oder unrealistisch sind, dass alles schiefgehen könnte oder dass dies nur eine fixe Idee wäre, aber letztlich ist es doch eine Glaubensfrage. Darum zerbreche ich mir nicht den Kopf über Realisierbarkeit und mögliche Hindernisse, sondern glaube einfach an das Bild, das sich in meinem Kopf geformt hat. Und es ist ein gutes Gefühl glauben zu können.
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