Mittwoch, 15. Oktober 2008

Ratlosigkeit

Da ich am nächsten Tag die Skript zu meiner Präsentation abgeben muss, saß ich heute wieder einmal grübelnd vor dem Computer, diesmal allerdings in der Universitätsbibliothek. Schamlos nutzte ich es aus, dass die Bibliothek während der Vorlesungszeit bis 22 Uhr geöffnet hat und saß bis kurz vor 22 Uhr an einem Unicomputer. Um mich herum waren rund eine hand voll Japaner, die entweder eifrig arbeiteten oder mit Kopfhöhrern Videos im Internet anschauten. In diesen stillen Minuten hatte ich genug Zeit und Ruhe mein Skript durchzulesen, Fehler zu beheben und über meinen Vortrag nachzugrübeln. Doch es gab noch etwas anderes, was mir im Kopf herumschwirrte. Es war eine eMail von Ayano, dem Mädchen, mit dem ich mich zur Konversation verabredet hatte. Der Text ihrer eMail lautete wie folgt:
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Dearest David
thank you for your e-mail!
Ja,I remember that we'll see on the thurthday;)
to tell the truth,I'm not cheerful now.
It is because my precious friend has been dead in 4th Oktober.today I went to her funeral.It is too sad for me to come to Uni,because everyday in school we take lunch together.
So I think,in thurthday,I can't speak well in cheerfully.So sorry...X(
Ayano
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Wie reagiert man auf eine solche eMail?
Eigentlich kenne ich Ayano nicht wirklich, wir haben uns nur zweimal gesehen und uns lediglich eine halbe Stunde unterhalten. Was schreibt man einer solchen Person zurück? Ich fühlte mich ein wenig hilflos, und sehnte mich nach einer Person, die mir in dieser Situation einen Rat geben könnte. Während ich darüber nachdachte, ob eine Antwort auf Japanisch oder auf Englisch angemessener wäre, um mein Beileid zu bekunden, begannen meine Gedanken abzuschweifen. Und ehe ich mich versah, dachte ich darüber nach wie zerbrechlich ein menschlies Leben doch sein konnte. Gerade wenn man jung ist, sind Freunde und Familie so selbstverständlich, dass man gar nicht damit rechnet, dass einer von ihnen im nächsten Moment tot sein könnte. Wie würde ich wohl reagieren, wenn eine Mail käme, die mir mitteilen würde, dass jemand aus meinen Freundeskreis bei einem Autounfall ums Leben kam, oder jemand aus meiner Familie überfallen und getötet wurde. Nachdenklich saß ich vor dem Computer, bis die bibliothekstypische Glockenmusik verkündete, dass nun auch der letzte Besucher die Bibliothek verlassen solle. Schnell schrieb ich eine eMail an Dominic und bat ihn um Rat, dann verließ ich die Bibliothek und den Campus und hing auf dem Weg zu meinem Wohnheim meinen Gedanken nach.
Als ich in meine Wohnung trat, fielen mir sogleich zwei Dinge auf: Es lag ein riesiger Karton auf dem Küchentisch und aus Yosukes Zimmer konnte man lautes Diskutieren hören. Beides war untypisch und so stellte ich Nachforschungen an. Recht schnell stellte sich jedoch heraus, dass in dem Karton die nötigen Gerätschaften für den langerwarteten Internetanschluss waren, die Katharina und Yosuke lauthals diskutierend versuchten anzuschließen. Wer jemals auf die dumme Idee gekommen ist, seinen Internetanschluss selbst einzurichten, der weiß zu welch einem Chaos das führen kann und wie irreführend und nutzlos die Anleitungen in "Informatiker-Fachchinesisch" sind. Und so kann man sich auch vorstellen wie drei Leute verwirrt und ratlos vor den Unterlagen in "Informatiker-Fachjapanisch" saßen und hilflos auf ihren Laptops herumdrückten. Fast zwei Stunden waren wir damit beschäftigt Werbeprospekte von wichtigen Bedienungsanleitungen zu trennen und alles was wie ein Passwort aussah in beliebige Felder zu schreiben. Und irgendwann hatten wir dann Internet. Wir wissen nicht genau, wie es geschah und ob unser virtuoses Tastendrücken letztlich überhaupt irgendeinen Einfluss ausgeübt hatte, doch die Tatsache, dass es endlich funktionierte vom Wohnheim aus ins Internet gehen zu können, genügt uns, um alle anderen Fragen in den Hintergrund zu drängen. Als ich dann abends im Bett lag, konnte ich hören wie Yosuke noch lange Zeit mit seinem Vater sprach und freute mich bereits darauf auch bald selbst "nach Hause telefonieren" zu könne.

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