Montag, 27. April 2009

Vorboten

Eine Weile lang schaute ich auf den Briefumschlag, den ich aus dem Briefkasten gefischt hatte. Und obwohl ich ihn noch nicht einmal geöffnet hatte, spürte ich förmlich wie er eine neue Zeit einläutete. In sauberem Japanisch war auf dem Brief mein Name und meine Anschrift vermerkt, gleich daneben das Logo der Dokkyo-Universität. Doch all dies kümmerte mich herzlich wenig, denn es waren zwei japanische Schriftzeichen, die meine gesamte Aufmerksamkeit einfingen: "Oberkurs Eins". Es waren diese zwei Zeichen auf dem Briefumschlag, die für mich offiziell den Countdown des neuen Semesters einläuteten. Während der letzten Wochen war der Unterricht für mich stets irgendwo am Ende der vorlesungsfreien Zeit angesiedelt gewesen. Namenlos. Ohne Datum. Irgendwann würde er beginnen, doch ich hatte mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Doch nun wurde mir schlagartig bewusst, dass ich schon in wenig als zwei Wochen wieder die Schulbank drücken würde, nun aber im Oberkurs. Eine ganze Weile lang blickte ich auf die zwei simplen Schriftzeichen, die so viel Eindruck hinterlassen hatten, bevor ich den Brief letztlich öffnete: Eine Liste von Büchern und Unterlagen, die ich vor Unterrichtsbeginn zu besorgen hatte, nicht mehr. Sorgfältig faltete ich die Liste wieder zusammen, steckte sie zurück in den Umschlag und legte den Brief auf meinen Schreibtisch.
Am Abend des gleichen Tages klingelte es. Mit Jogginghose und T-Shirt schlurfte ich zur Wohnungstür und erwartete eigentlich Lee, wer sonst würde mich am Abend noch besuchen kommen? Doch zu meinem Erstaunen stand ein unbekanntes Mädchen vor der Tür und lächelte mich an. Und bevor ich etwas sagen konnte, streckte sie mir ihre Hand entgegen und stellte sich vor: Ihr Name war Milena und genau wie Katharina, Marvin und Paul ("Die zehn Anderen") kam sie als Austauschstudent der Universität Duisburg-Essen. Milena? Einen Moment überlegte ich, dann fiel mir ein Gespräch mit Katharina ein. Damals hatte sie mir erzählt, dass von ihrer Universität noch eine gewisse Milena nach Japan kommen würde und nun stand dieses Mädchen wahrhaftig vor mir. Und obwohl sich Milena nur kurz vorstellen wollte, kamen wir ins Gespräch und unterhielten uns fast eine Viertelstunde lang über ihre ersten Erfahrungen in Japan und das kommende Semester an der Dokkyo-Universität. Und da ich wusste, wie man sich während der ersten Tage in Japan fühlte, bot ich ihr sogleich meine Hilfe an, wann auch immer sie diese brauchen sollte: "Klopf einfach an, wenn du Hilfe brauchst. Ich helfe gerne weiter.". Mit diesen Worten beendete ich unser Gespräch und mit einem Lächeln lief Milena die wenigen Meter bis zu ihrer Wohnung.
Kurz darauf klingelte es wieder, doch diesmal stand nicht Milena vor der Tür, sondern Lee und ein unbekanntes Mädchen. "Hey, ich bin's.", begann Lee, "Ich wollte mich erst einmal dafür bedanken, dass du gestern auf den Schlüssel aufgepasst hast. Und dann wollte ich dir Kabor vorstellen, eine Freundin von mir, die für kurze Zeit bei mir zu Besuch ist.". Ein wenig schüchtern reichte das kleine, schmächtige Mädchen mir die Hand und hauchte ein leises "Hallo.". Ich versuchte möglichst herzlich zu lächeln und fragte sie vorsichtig ein paar Fragen auf Englisch. Und so erfuhr ich, dass Kabor auch Japanologie studierte, allerdings in Hokkaido, dem nördlichsten Zipfel Japans. Wir hatten kaum drei Sätze gewechselt, da kamen unerwartet Yosuke und Milena die Treppe heraufgelaufen und ohne Rücksicht auf mein Gespräch mit Lee und Kabor zu nehmen, begann Yosuke zu reden: "Hey David, das ist Milena, eine Studentin aus Duisburg-Essen. Ich habe sie gerade im Supermarkt getroffen. Sie wohnt direkt neben uns.". Und noch während er sprach grinsten Milena und ich bereits. "Wir kennen uns schon.", sagten wir fast gleichzeitig, was Yosuke dazu veranlasste ganz verdutzt zu schauen. Es entstand eine kurze Pause, die von Lee gebrochen wurde: "Ja, Kabor und ich gehen dann wieder nach oben, wir wollten nur mal kurz 'Hallo' sagen.". Und nachdem ich die beiden verabschiedet hatte, wechselte ich noch ein paar Worte mit Milena und Yosuke, bevor ich mich wieder in mein Zimmer zurückzog.
"Erst gestern habe ich Dominic zum Flughafen gebracht und habe mich noch wie im Urlaub gefühlt", schoss es mir durch den Kopf, als ich in meinem Zimmer saß, "Und bereits heute fühle ich mich dem neuen Semester so nahe.". Ich dachte daran wie Lee wieder zurückgekommen war, ich Milena kennengelernt hatte und den Brief von der Universität erhalten hatte und musste lächelnd den Kopf schütteln. Das neue Semester schien nur auf den geeigneten Moment gewartet zu haben, um sich anzukündigen.

2 Kommentare:

michi hat gesagt…

Moin,

ich glaub diesmal hab ich dich ertappt ;) Im letzten Beitrag war Yosuke noch nicht da und jetzt ist er da. Das heißt, du führst keine lückenlose Chronik. Ts, ts, ts.

Ich fand die Story mit Yosukes/Katharinas Futon frech. Dass sie einfach behauptet es wär ihrer...
Aber die Beschreibung vorher von dem Gespräch mit der komischen Futon-Einsammel-Frau war toll. So detailliert, dass man sichs gut vorstellen konnte.

Machs gut

David Kraft hat gesagt…

Um genau zu sein, war Yosuke schon seit einigen Tagen wieder da. Leider habe ich mir nicht genau notiert wann er kam, sonst hätte ich es wohl im Blog erwähnt.
Übrigens war es Yosuke, der an dem Tag, an dem ich Dominic zum Flughafen brachte, auf Lees Schlüssel aufgepasst hat. Nur für den Fall, dass sich jemand fragen sollte warum ich riskiert hätte, Lee vor verschlossener Tür stehen zu lassen.

Aber gut, dass du nachgefragt hast, es gibt sicher einige Leser, die sich gefragt haben, warum Yosuke plötzlich wieder da war. Weiter so!
Ich bin ja für jede Art von Anmerkung dankbar. : )

Grüße um die Welt,
David