Als wir in Kyoto ankamen, war es bereits dunkel. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass wir noch rund vier Stunden zu verbringen hatten, bevor uns der Nachtbus vom Bahnhof in Kyoto zurück nach Tokyo fahren würde. Mit den Menschenmassen ließen wir uns aus dem Bahnhofsgebäude spülen und standen schließlich irgendwo vor dem Eingang des Bahnhofs, allerdings nicht dort, von wo aus wir zu unserer Unterkunft gekommen wären. Statt aber auf dem schnellsten Wege unserer Unterkunft anzusteuern, liefen wir eine kleine Abschiedsrunde durch das abendliche Kyoto. Und als wir im Bahnhofsviertel an den Spielhallen, heruntergekommen Etablissements, Baustellen und dunklen Hauseingängen vorbeiliefen, fiel mir wieder ein, was ich bereits an meinem ersten Tag in Kyoto bemerkt hatte: Abseits der Touristenattraktionen war Kyoto gar nicht so schön. Und so versuchte ich mir auch jene Bilder von dunklen Gassen mit zwielichtigen Personen einzuprägen, um mir Kyoto nicht nur als jene Stadt in Erinnerung zu behalten, die voll von Attraktionen und Sehenswürdigkeiten war, sondern auch als jene Stadt, in der man im Dunklen nicht durch das Bahnhofsviertel laufen sollte, in der sich der Müll in allen Ecken sammelt und die Industrieanlagen in die Höhe ragen. Nach dem kurzen Spaziergang kamen wir wieder am Bahnhof an, suchten nach einem Café, in dem wir den restlichen Abend verbringen könnten und liefen durch die Unterführung des Bahnhofs, entlang jener Straße, durch die wir schon so oft gelaufen waren, bis zu unserer Unterkunft. Der ältere Herr, der uns die letzten Tage über so freundlich unterstützt hatte, saß wie immer an der Rezeption und begrüßte uns herzlich, als wir ein letztes Mal eintraten und unser Gepäck zusammensammelten. Nachdem wir einige letzte Worte gewechselt hatten und uns für die Gastfreundlichkeit der letzten Tage bedankt hatten, verließen wir, beladen mit unseren Rucksäcken und Koffern, unsere Unterkunft und verschwanden im Dunkel der Nacht.
Bild1: Der Bahnhof Kyotos bei Nacht.
Ein wenig motivationslos rührte ich mit meinem Strohhalm durch die übriggeblieben Eiswürfel meines Eiscafés, während Dominic, Ninja und ich samt unserem Gepäck in dem Café in der Nähe des Bahnhofs saßen. Wirklich zu tun hatten wir nichts, also saßen wir den größten Teil unserer Zeit in Gedanken versunken an dem kleinen Tisch und schauten in regelmäßigen Abständen auf die Uhr. Es sind diese letzten Stunden, in denen ich immer dazu neige ein Resumée zu ziehen, weshalb ich die Frage, was den anderen denn am besten gefallen hätte, in die Runde warf. Doch statt einem angeregten Gespräch, in dem man sich gegenseitig über das ausgetauscht hätte, was einem in der letzten Woche als äußerst positiv in Erinnerung geblieben wäre, begrenzte sich das Gespräch auf wenige gemurmelte Worte: "Der Fushimi-Inari-Schrein war toll.", "Nara auch.", "Ja, Nara auch.". Sehr viel mehr Elan zeigte keiner ein Resumée der letzten Tage zu ziehen, weshalb ich das Thema auf sich beruhen lies und mir im Geiste eine Notiz machte, dass ich die Rückfahrt im Nachtbus für mein eigenes gedankliches Resumée nutzen würde. Eine Weile lang packte ich noch Dinge vom Rucksack in die Tragetasche und umgekehrt, bis ich mir sicher war, was ich im Bus gebrauchen könnte und was nicht. Die restliche Zeit unterhielten wir uns ein wenig gezwungen, ohne dass wir wirklich etwas gesagt hätten. Schließlich war es Zeit aufzubrechen und ich verabschiedete mich von den halbgeschmolzenen Eiswürfeln, die in dem Plastikbecher vor sich hinschwammen, schulterte meinen schweren Rucksack und folgte dem anderen aus dem Café.
Ein letztes Mal liefen wir gegen kurz nach Zehn Uhr nachts durch das dunkle Kyoto und die ausgestorbene Unterführung. In der unterirdischen Einkaufspassage, die den nördlichen Teil des Bahnhofs mit dem südliche Teil verband, hatten bereits alle Geschäfte geschlossen und man traf nur vereinzelt noch auf Menschen. In der öffentlichen Toilette gingen wir ein letztes Mal aufs Klo und machten uns für die Nachtfahrt frisch, während vor den Eingängen zu den Toiletten schlafende Japaner saßen, die von Polizisten aufgeweckt wurden und recht grob gebeten wurden die Einkaufspassage zu verlassen. Wir wurden nicht angehalten die Einkaufspassage zu verlassen, vielleicht weil wir offensichtlich im Begriff waren abzureisen, vielleicht auch einfach nur, weil die japanischen Polizisten sich nicht trauten uns Ausländer anzusprechen. Nichtsdestotrotz eilten wir durch die leeren Gänge zur Südseite des Bahnhofs und fanden uns in einer großen Masse von Japanern wieder, die offensichtlich alle mit einem der dutzenden Nachtbusse Kyoto verlassen wollten. Ich stellte mich in die Reihe, bereit nach dem Bus zu fragen, der uns nach Tokyo bringen sollte, während sich Ninja und Dominic etwas abseits hinstellten und warteten. Als ich an der Reihe war, nannte ich meinen Namen und mein Reiseziel, zeigte meine Quittung vor und wartete, während die junge Frau eifrig ihre Unterlagen durchwühlte. Und da sie meinen Namen nicht auf der Liste fand, begann sie ihre Kollegen zu fragen und es entstand erst einmal eine kleine Panik, weil niemand meinen Namen auf den Listen fand. Während die Frau noch fieberhaft überlegte, was sie nun machen sollte, warf ich einen Blick auf ihre Liste und mir fiel sofort mein Name ins Auge. Als ich die junge Frau darauf hinwies, war sie offensichtlich berührt und entschuldigte sich vielmals, während ihre Kollegen über sie lachten. Schon in Ordnung, antwortete ich gelassen, schließlich war ich froh endlich die Busnummer zu erfahren und mich samt meiner Informationen auf den Weg zum Bus zu machen. Während ich unser Gepäck abgab, wurde Dominic nach unserem Reiseziel gefragt. Da er nichts verstand, nickte er einfach als er Tokyo hörte. Dass er allerdings nach dem Bahnhof gefragt wurde, in dem wir aussteigen wollten, wusste er nicht. Von all dem bekam ich aber nichts mit und war froh endlich in den Bus einsteigen zu können. Im hinteren Teil des Busses saßen wir diesmal nicht, eher irgendwo in der Mitte. Ich saß neben Dominic, hinter uns Ninja neben einem japanischen Mädchen. Es dauerte nicht lange und wir fuhren los. Einen letzten Blick auf Kyoto konnte ich leider nicht werfen, da die Vorhänge zugezogen waren, und so begnügte ich mich damit dem Reiseführer zu lauschen, der die Fahrtroute erklärte und Belehrungen zum Verhalten im Bus gab. Viel verstand ich allerdings nicht und so wartete ich geduldig, bis der Reiseführer seinen Vortrag beendet hatte, irgendwo in der Nähe des Fahrers verschwand und das Licht löschte. Und dann begann die zweite Fahrt im Nachtbus.
Bild2: Die Einkaufspassage, die sonst voller Menschen ist, war nachts fast leer. Ein paar Putzkolonnen liefen umher und leerten die Mülleimer oder wischten die Böden, ansonsten traf man kaum jemanden.
Insgesamt fand ich die Busfahrt angenehm, natürlich war sie nicht zu vergleichen mit einer Übernachtung in einem weichen Bett, aber sie war doch um längen angenehmer als noch unsere erste Fahrt vor knapp einer Woche, denn diesmal war es nicht so warm und stickig, zudem hatte ich keinen Muskelkater vom Tragen des schweren Rucksacks. Gelegentlich nickte ich für einige Minuten ein, zumindest glaube ich das, aber durchgehend schlafen konnte ich nicht. Und so ließ ich die vergangene Woche Revue passieren. Was hatte mir gefallen, was nicht? Was blieb mir von dieser Woche in Erinnerung? Genug Zeit meine Gedanken zu sammeln und sortieren hatte ich ja und so schrieb ich in Gedanken meine ganz eigene Kritik zu meinem Urlaub in Kyoto. Aber war es das überhaupt gewesen? Ein Urlaub? Im Kopfe drehte ich das Wort von einer auf die andere Seite und überlegte was für mich das Wort "Urlaub" bedeutete, bis ich zu dem Entschluss kam, dass es für mich kein Urlaub gewesen war, zu anstrengend und nervenaufreibend war die letzte Woche gewesen. Vielleicht wäre mein Urteil anders ausgefallen, wenn ich nicht so oft das Gefühl gehabt hätte alles regeln zu müssen, angefangen von den Regelungen der Busfahrten, über all die Gespräche mit dem alten Herren aus der Unterkunft, bis hin zum Planen der täglichen Ausflüge. Sicher hätte es sich mehr wie ein Urlaub angefühlt, wenn man sich manchmal einfach hätte zurücklehnen können und jemand anderes einmal die Planung für den Tag übernommen hätte, doch das war leider fast nie passiert. Und wenn ich ehrlich bin, war ich sogar froh wieder nach Tokyo zu fahren, da ich somit endlich aus der Rolle des Verantwortlichen entbunden war. Ich bin mir sicher, dass ich mehr Spass gehabt hätte, wenn alle ein wenig begeisterter an der Planung der Ausflüge beteiligt gewesen wären und mehr Enthusiasmus für die vielfältigen Ausflugsziele in Kyoto und dessen Umgebung gezeigt hätten, denn die Sehenswürdigkeiten, die Kyoto zu bieten hat, waren das Highlight der vergangen Woche gewesen. Mit Freude dachte ich an die Wanderung durch die zehntausend Tore des Fushimi-Inari-Schreins, das Spazieren im wunderschönen Garten des Silbernen Pavillions, das Betrachten des Großen Buddhas von Nara, den Blick auf den Goldenen Pavillion oder die interessanten Kunstwerke im Museum für moderne Kunst, doch ebenso wehmütig dachte ich daran, was ich wohl alles verpasst hatte, weil wir so viel Zeit verschwendet hatten mit dem Schlendern durch Einkaufsstraßen, dem späten Aufstehen und den unzähligen sinnlosen Streitereien. Ich weiß gar nicht mehr wie oft ich die anderen vergebens darum gebeten hatte früher Aufzustehen, sich schneller fertig zu machen, sich die Touristenläden doch ein andermal anzusehen, wenigstens ein grobes Zeitgerüst aufzustellen oder einfach nur Proviant einzupacken. Vielleicht zu recht, vielleicht auch nicht. Ich hätte gerne so viel mehr gesehen, so viel mehr unternommen, denn letztlich hatte ich in sechs Tagen nicht einmal ein dutzend Sehenswürdigkeiten gesehen, was für eine ganze Woche in einer Stadt, die für hunderte von Sehenswürdigkeiten bekannt ist doch eine recht magere Ausbeute darstellt. Und auch wenn es hart klingen mag, kam ich während der Busfahrt doch zu dem Ergebnis, dass ich lieber alleine nach Kyoto gefahren wäre, um mehr zu sehen, mehr zu erleben und mehr von einer Stadt zu haben, die so vieles zu bieten hat.
Gegen sieben Uhr am nächsten Morgen kamen wir schließlich am Bahnhof von Shinjuku an, wo wir vor knapp einer Woche abgefahren waren. Nach einer kurzen Diskussion mit dem Reiseführer kamen wir schließlich auch an unser Gepäck, dass in jenem Fach verstaut war, das für Reisende zum Bahnhof Tokyos bestimmt war, schließlich hatte Dominic in Kyoto unwissend einen falschen Zielort angegeben. Während sich Ninja und ich über die erstaunlich angenehme Nachtfahrt freuten, wurde Dominic nicht müde sich über die Busfahrt auszulassen und lief mürrisch hinter uns beiden her. Irgendwo in der Unterführung des weitläufigen Bahnhofs von Shinjuku trennten sich dann unsere Wege und so verabschiedeten sich Dominic und ich von Ninja, ehe wir uns auf den Weg nach Soka machten. Wie an meinem ersten Tag in Kyoto war ich trotz fehlendem Schlaf erstaunlich wach und organisierte unsere Fahrt problemlos. Zweimal musste wir mit unserem Gepäck am Morgen umsteigen und waren insgesamt fast zwei Stunden unterwegs, ehe wie schließlich gegen neun Uhr morgens im Wohnheim ankamen. Es war noch alles so, wie wir es zurückgelassen hatten und auf dem Schreibtisch lag auch meine Kamera, die ich vergessen hatte. Ohne große Worte zu wechseln, rollte ich den Futon für Dominic aus und wir legten uns erschöpft nieder. Und dann schliefen wir ein.
2 Kommentare:
Ich kann mir gut vorstellen, wie anstrengend das ist, wenn man alles selber regeln, organisieren und planen muss. Und umso belastender ist es dann, wenn die anderen so wenig Begeisterung zeigen.
Aber sieh es mal so: Du hast eine Reise in einem fremden Land ganz alleine organisiert und vom Organisatorischen her hat alles super geklappt. Da kannst du schon stolz auf dich sein. Das hätte mit Sicherheit nicht jeder so hingekriegt.
Wer weiß, wenn du alleine gefahren wärst, hättest du dich vielleicht auch einsam gefühlt. Ich glaube am besten macht man so eine Reise zu zweit. Da kann man sich besser auf seine Pläne einigen und es gibt nicht so viel Konfliktpotential.
Rückblickend bin ich sehr stolz darauf, dass ich diese Reise fast alleine organisiert habe. Sicherlich wäre es alleine ziemlich einsam geworden, schließlich möchte man sein Erlebtes ja mit jemandem teilen. Problematisch ist es immer nur, wenn man Erwartungen an etwas stellt, die dann nicht erfüllt werden. Aber nun habe ich ja mehr als genügend Erfahrungen gesammelt und werde wahrscheinlich meine Erwartungen für die nächste Reise deutlich herabschrauben.
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