Auch wenn ich hier in Japan oft Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden habe, die mich über einige aktuelle Entwicklungen in Deutschland auf dem Laufenden halten, bin ich hier in Japan doch ziemlich abgeschnitten von der Außenwelt. Hier kann ich abends nicht die Tagesschau sehen, kann keinen Blick auf die Titelseite der Zeitungen am Kiosk werfen oder lauschen, worüber die Leute um mich herum diskutieren. Mein Japanisch ist einfach noch zu unsicher, als dass ich im Vorbeigehen die Themen des Tages aufschnappen könnte. Und da ich hier nie den Fernseher einschalte und keine überregionalen Zeitungen in meinem Briefkasten liegen habe, rauscht das Alltagsgeschehen in Europa größtenteils unbemerkt an mir vorbei. Aber auch bei Universitärem oder Neuigkeiten über Dritte bin ich immer auf die Informationen angewiesen, die mir meine Freunde und meine Bekannten in Telefongesprächen und in E-Mails mitteilen. Und so kommt es, dass ich hin und wieder von Neuigkeiten überrumpelt werde, die sich in gewissen Kreisen schon längst herumgesprochen haben.
So telefonierte ich dieses Wochenende mit meiner Freundin Birgit aus Marburg und erfuhr überraschend, dass zwei Freunde von mir wahrscheinlich im Laufe dieses Jahres heiraten wollten. Mein fassungsloses Erstaunen, wurde von Birgit erst einmal mit einem erschrockenen "Ach, das wusstest du noch gar nicht?" kommentiert, woraufhin ich immer noch ganz fassungslos "Woher denn?" erwiderte. Und so wurde mir an diesem Abend das erste Mal wirklich bewusst, dass sich in meinem heimischen Umfeld innerhalb eines langen Jahres einiges verändern würde. Für gewöhnlich ist man für einige Wochen im Urlaub und stellte nach der Heimkehr fest, dass alles irgendwie doch beim Alten geblieben ist. Doch fast ein ganzes Jahr in Halb-Isolation ist eine ganz andere Dimension, denn wenn ich zurückkehren werde, wird nicht alles "irgendwie beim Alten" sein. An allen Ecken und Enden bekomme ich mit wie sich mein Umfeld verändert, doch hier auf der anderen Seite des Globus ist alles weit, weit entfernt und erscheint irgendwie unwirklich, geradezu so als würde ich ein Buch über das Lesen, was sich in Deutschland ereignet. Ich kann nicht teilhaben, sitze nur da und lese stumm, was in dem Buch passiert. Und wenn es spät wird, klappe ich das Buch zu, denke eine Weile darüber nach und widme mich wieder meinem "realen Leben". Ich bekomme mitgeteilt, dass meine Großmutter und mein Bruder umgezogen sind, dass Bekannte von mir heiraten wollen, dass mein Freund dabei ist seine Diplomarbeit zu absolvieren, dass meine Freunde in den Urlauf fahren und das mein Studienstandort in Marburg allmählich geschlossen wird, aber ich kann an diesen Dingen nicht wirklich teilnehmen. Zu weit entfernt, zu surreal ist all dies.
Und genauso surreal mir so vieles in Deutschland erscheint, geht es wohl auch vielen Menschen, wenn ich über Japan berichte. Man liest Artikel über ein Land irgendwo da draußen, hört Geschichten von jemandem, der ganz weit weg ist, und ließt über Menschen und Orte, die man nie zuvor selbst kennengelernt hat. Und irgendwie muss es schwer sein sich hinter all diesen Geschichten, hinter all diesen Berichten eine Person vorzustellen, für die all dies die Realität ist. Denn letztlich sind es zwei verschiedene Welten.
Aber rückt dadurch alles, was mich mit Deutschland vor sich geht in den Schatten und wird nach und nach belanglos? Sicher nicht. Denn einige Dinge werden viel realer: Zum Beispiel Beziehungen zu Familie und Freunden. Aus belanglosen Bekanntschaften entwickeln sich tiefe Freundschaften, in graue, dem Alltagstrott verfallene Beziehungen fließt neues Leben und man entdeckt Beziehungen wieder, die man glaubte schon abgebrochen zu haben. Und all diese Beziehungen verbinden "meine Realität" mit jener in Deutschland und zurren die beiden Welten fest aneinander.
Und so sitze ich wie heute Abend vor meinem Laptop und lausche jenen Geschichten, die mir meine Freunde und meine Familie zu berichten haben, versuche Anteil zu nehmen an dem, was mir über Landtagswahlen, neue Gesetze und den Arbeitsalltag erzählt wird und genieße die Zeit in dem meine Gesprächspartner ihre Welt mit meiner verbinden. Mit meiner Freundin Birgit habe ich noch lange telefoniert. Und auch wenn wir beide momentan nicht viel in unserem Alltag gemein haben und für jeden die Realität des anderen irgendwo weit weg ist, fühlen wir uns verbunden wie schon lange nicht mehr.
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